Vorkommnisse mit Schussverletzungen im Bezirk Potsdam
9. Februar 1977
Information Nr. 87/77 über die Ergebnisse der Untersuchung von Vorkommnissen mit Schusswaffenverletzungen im Bezirk Potsdam
Am 28. Januar 1977, gegen 13.00 Uhr, wurde die Schülerin der 2. Klasse der Polytechnischen Oberschule 1 (POS) Groß Glienicke, [Name 1, Vorname] (7), wohnhaft: [Ort 1], Kreis Potsdam-Land, [Adresse], auf dem Schulhof durch das Projektil einer Leuchtspurpatrone M 43, Kaliber 7,62 mm, lebensgefährlich verletzt. Sie wurde unverzüglich in das Bezirkskrankenhaus Potsdam eingeliefert. Wie aus den medizinischen Gutachten ersichtlich ist, drang das Projektil in Höhe der linken Achselhöhle vorn in den Körper ein und blieb in der Nähe des 10. Brustwirbelknochens stecken. Der Schusskanal verläuft fast senkrecht. Das Projektil wurde operativ entfernt. Das Kind befindet sich außer Lebensgefahr. Zurückbleibende Lähmungserscheinungen sind aufgrund einer möglichen Verletzung der Wirbelsäule nicht auszuschließen.
Im Ergebnis der Untersuchungen durch das MfS wurde festgestellt: Die POS 1 Groß Glienicke befindet sich im Grenzsperrgebiet der Staatsgrenze der DDR zu Westberlin. Die äußere Umzäunung des Schulhofes (Maschendrahtzaun) schließt unmittelbar an die Grenzsicherungsanlagen an.
Eine Rekonstruktion des Tatherganges zur Bestimmung der Schussrichtung und des Standortes des verletzten Kindes konnte nur nach Aussagen einer zum Zeitpunkt des Vorkommnisses am Ereignisort anwesenden gleichaltrigen Schülerin durchgeführt werden. Da die Körperhaltung der [Name 1, Vorname] am Standort des Vorkommnisses und beim Auftreffen des Projektils nicht exakt bestimmt werden kann, ist eine eindeutige Identifizierung der Schussabgaberichtung und damit der Herkunft des Projektils nicht möglich. Entsprechend dem durch die gleichaltrige Schülerin angegebenen Standort der [Name 1, Vorname] kann der Schuss von südlicher Richtung aus einer Entfernung bis zur maximalen Reichweite des Projektils von ca. 4 000 Metern abgefeuert worden sein. In südlicher Richtung vom Standort der Geschädigten befinden sich
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die zur Sicherung der Staatsgrenze eingesetzten Posten der Grenztruppen der DDR,
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die im britischen Sektor von Westberlin in einer Entfernung von ca. 2 500 Metern gelegene Montgomery-Kaserne und
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der sich in ca. 1 500 Meter Entfernung befindliche Truppenübungsplatz der Sowjetarmee in Potsdam-Krampnitz.
Eine Untersuchung aller Waffen vom Typ »Kalaschnikow« – Patronen mit der Bezeichnung M 43, Kaliber 7,62 mm, können nur aus Handfeuerwaffen des Typs »Kalaschnikow« verschossen werden – der im tatrelevanten Zeitraum in südlicher Richtung bis zu einer Entfernung von 4 000 Metern eingesetzten Grenzposten der Grenztruppen der DDR ergab, dass sie als schussabgebende Waffen zweifelsfrei auszuschließen sind.
Am 1. Februar 1977, gegen 11.30 Uhr, wurde der Bürger der DDR, [Name 2, Vorname] (33), wohnhaft: Potsdam-Babelsberg, [Adresse], [Funktion] im VEB Stadtbau Potsdam, in der Ortschaft Bornim, Kreis Potsdam, auf dem Gelände des VEB Kühlanlagenbau Babelsberg, Betriebsteil Bornim, Potsdamer Straße 46, durch das Projektil einer Infanteriepatrone im Rücken verletzt. Das Projektil durchschlug die Wattejacke und steckte in der Oberbekleidung. Es verursachte eine leicht blutende Wunde unmittelbar neben der Wirbelsäule.
Im Ergebnis der Untersuchung durch das MfS wurde festgestellt: Das Projektil (Spitzgeschoss einer Patrone vom Typ »Mosin«) kann aus der Richtung des durch die Sowjetarmee genutzten Truppenübungsplatzes »Bornstedter Feld«, welcher sich in einer Entfernung von ca. 2 000 Metern vom Standort des Verletzten befindet, abgefeuert worden sein. (Patronen des Typs »Mosin« können aufgrund ihrer Patronenlänge und des anders geformten Patronenbodens nicht aus den zur strukturmäßigen Bewaffnung der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen der DDR gehörenden Handfeuerwaffen abgefeuert werden.)
Im Zusammenhang mit den geführten Untersuchungen wurde bekannt, dass sich seit Juni 1976 Bürger der Ortschaft Bornstedt mit Hinweisen und Eingaben zu Projektileinschlägen in Wohnungen und Grundstücken an das Volkspolizeikreisamt Potsdam wandten. Durch Einschläge der Projektile in Wohnräume, in Verandaverkleidungen, Garagentüren und Fenster wurden neben der Sachbeschädigung Leben und Gesundheit dieser Bürger gefährdet.
Der Leiter des Volkspolizeikreisamtes Potsdam wandte sich am 13. Juli 1976 mit einem Schreiben an den Kommandanten der sowjetischen Garnison in Potsdam, in welchem er ihn über diese mit hoher Wahrscheinlichkeit vom Truppenübungsplatz »Bornstedter Feld« herrührenden Projektileinschläge informierte und um Erhöhung der Sicherheitsvorkehrungen ersuchte. Über die durch die sowjetische Garnison Potsdam dazu veranlassten Maßnahmen liegen bisher keine Ergebnisse vor.
Da aufgrund der besonderen Lage der POS 1 Groß Glienicke eine ständige Gefährdung von Leben und Gesundheit von Schülern und Lehrern im Zusammenhang mit einer erforderlichen Schusswaffenanwendung seitens der Grenztruppen der DDR besteht, wäre es zweckmäßig zu prüfen, inwieweit Voraussetzungen für eine Verlegung der Schule getroffen werden sollten.
Unabhängig von diesen Maßnahmen wird es für notwendig erachtet, die Schule kurzfristig mit einer festen Umzäunung zu versehen (Mauer), durch welche unmittelbare Gefahren für Leben und Gesundheit der Schüler und Lehrer herabgemindert werden könnten.
Es wird empfohlen, die Truppenübungsplätze der GSSD in diesem Raum einer eingehenden Überprüfung zu unterziehen und die erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen einzuleiten, die eine Gefährdung von Leben und Gesundheit von Menschen im Zusammenhang mit militärischen Übungen ausschließen.
Aus diesen Gründen wird es für notwendig erachtet, die zuständigen Organe der GSSD über das Ministerium für Nationale Verteidigung der DDR zu informieren und zu ersuchen, entsprechende Überprüfungsmaßnahmen auf den durch die Sowjetarmee genutzten Truppenübungsplätzen zu veranlassen.
Es wird empfohlen, den Generalsekretär des ZK der SED, Genossen Erich Honecker, in geeigneter Form über die Untersuchungsergebnisse zu informieren.