Vortrag von Reinhard Henkys über die Situation der Kirchen in der DDR
16. März 1977
Information Nr. 161/77 über einen Vortrag des Leiters des Evangelischen Publizistischen Zentrums in Westberlin und Chefredakteurs des Evangelischen Pressedienstes, Reinhard Henkys, über die Situation der Kirchen in der DDR
Dem MfS wurde intern bekannt, dass der Leiter des Evangelischen Publizistischen Zentrums in Westberlin,1 Reinhard Henkys, am 12.2.1977 in Rotenburg/Fulda auf der in Vorbereitung der Folgekonferenz der KSZE in Belgrad durchgeführten »Deutschlandpolitischen Tagung«, die gleichzeitig als »Parteitag der Exil-CDU« galt, einen Vortrag über die Lage der Kirchen in der DDR gehalten hat.2
Henkys, der in der BRD als Experte in Fragen der kirchenpolitischen Situation in der DDR gilt, äußerte nach der Tagung, er habe bisher nie eine so umfassende Einschätzung über die Kirchen in der DDR gegeben; er sei auch erstmalig zu einer Tagung der »Exil-CDU aus der DDR« eingeladen gewesen. Eine Presseveröffentlichung über seine Ausführungen sei nicht erfolgt.
In seinem Vortrag erklärte Henkys eingangs, es sei nicht sein Ziel, »aus dem Themenbereich Kirche in der DDR Munition für die politische Auseinandersetzung zwischen der BRD und der DDR herauszuholen oder DDR-Christen Argumente für den politischen Kampf gegen das System des Sozialismus/Kommunismus, wie es die SED aufgebaut hat und beherrscht, zu liefern«. Er habe auch nicht die Absicht, als Sprecher für die Kirchen in der DDR aufzutreten, weil diese »sich selbst artikulieren können und das auch tun«. Ihre Bischöfe, Kirchenleitungen, Synoden, Pfarrer usw. seien nicht »geistlich getarnte, fremdbestimmte Repräsentanten oder Propagandisten des Systems oder seiner politischen Führung«.
Nach statistischen Angaben über Mitgliederzahlen der evangelischen und katholischen Kirche sowie der zugelassenen und verbotenen Sekten und Religionsgemeinschaften in der DDR ging Henkys u. a. auf folgende Probleme ein:
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»Schrumpfungstendenzen« der Kirche
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kirchliche Jugendarbeit
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Verhältnis Staat und Kirche in der DDR
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Bildungsprobleme (»Benachteiligung« christlicher Kinder in Schule und Beruf).
Dem MfS liegt intern ein Abzug des Vortrages von Henkys vor, der in der Anlage beigefügt wird.
Anlage zur Information Nr. 161/77
Reinhard Henkys: Kirche in der DDR
Manuskript für Vortrag am 12. Februar 1977 in Rotenburg/Fulda. Deutschlandpolitische Tagung und Parteitag der Exil-CDU
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
die mir heute gestellte Aufgabe, einiges über Kirche in der DDR zu sagen, lässt sich auf sehr unterschiedliche Weise lösen. Ich weiß nicht, welche Erwartungen Sie mit diesem Tagesordnungspunkt auf Ihrer diesjährigen deutschlandpolitischen Tagung verbinden. Wahrscheinlich sind sie unterschiedlich, gehen von der Erwartung reiner Tatsacheninformation bis hin zur Einordnung der Dinge und ihrer Nutzbarmachung für die Realisierung der politischen Ziele Ihrer Partei.
Aber da Herr Dr. Gradl3 mich um dieses Referat gebeten hat, spricht einiges für die Vermutung, dass Sie meine Sicht der Dinge hören und sich ggf. mit ihr auseinandersetzen wollen. Dies wiederum veranlasst mich, Ihnen gleich zu Beginn etwas über meine Voraussetzungen zu sagen.
Ich bin Journalist, habe lange Zeit überwiegend für den Evangelischen Pressedienst gearbeitet und in diesem Rahmen mich seit 1961 zunehmend dem Themenbereich Kirche in der DDR gewidmet. Es ging mir zunächst um zutreffende, möglichst ideologiefreie Tatsachenermittlung und -darstellung. Und natürlich geht es mir darum auch heute noch. Meine Aufgabe ist Darstellung der Vorgänge und Entwicklungen im Themenfeld Kirche in der DDR für westliche Leser und Hörer, vor allem für westdeutsche. Sehr bald musste ich mir jedoch Rechenschaft darüber ablegen, dass jede westliche Publikation nicht nur eine Mitteilung über die Kirche in der DDR, Leben und Probleme der dortigen Christen ist, sondern gleichzeitig auch Mitteilung für4 sie.
Wenn zur publizistischen Verbreitung der Fakten und Neuigkeiten die Aufgabe der Interpretation, ihrer Einordnung und Zuordnung zueinander kommt, – und das ist nach meiner Erfahrung in diesem Felde unvermeidlich,5 – dann stellt sich unter der Bedingung dieses doppelten Adressatenkreises im Rahmen der in Deutschland nun einmal bestehenden politischen und gesellschaftlichen Tatsachen auch dem Nachrichtenjournalisten zwangsläufig die Frage nach dem eigenen Standpunkt und nach den gesellschaftlichen, den politischen und in diesem Falle auch den kirchlichen Zielen seiner Informationstätigkeit.
Mein Standpunkt also ist der der Solidarität mit den christlichen Gemeinden, den Kirchen in der DDR. Das bedeutet, dass ich versuche, nicht fremde Maßstäbe an sie anzulegen – und westdeutsche Maßstäbe wären hier fremde –, sondern sie von ihren eigenen Voraussetzungen und Bedingungen her darzustellen und zu interpretieren. Dementsprechend kann es nicht mein Ziel sein, aus dem Themenbereich Kirche in der DDR Munition für die politische Auseinandersetzung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik herauszuholen oder DDR-Christen Argumente für den politischen Kampf gegen das System des Sozialismus/Kommunismus, wie es die SED aufgebaut hat und beherrscht, zu liefern. Mein Ziel ist es vielmehr, nach Westen hin Informationsgrundlagen für die Fortsetzung oder Neubildung christlicher Bruderschaft im partnerschaftlichen Sinne zu liefern und, wo es sich ergibt, nach Osten hin dazu beizutragen, dass die christlichen Gemeinden in der DDR Verlässliches über sich selbst erfahren. Das Bedürfnis nach letzterem brauche ich Ihnen, die Sie über die Methodik von Presse und Rundfunk in der DDR Bescheid wissen, nicht zu erläutern.
Partnerschaftliche Solidarität setzt einen selbstständigen Partner voraus und nicht ein Objekt der Fürsorge. Sie ist kein paternalistisches, vom Vormundschaftsdenken her bestimmtes Verhältnis. Das bedeutet: Ich gehe davon aus, dass die Kirchen in der DDR sich selbst artikulieren können und das auch tun. Ihre Bischöfe, Kirchenleitungen, Synoden, Pfarrer usw. sind wirkliche und legitimierte Sprecher der Kirchen in der DDR und ihrer Gemeinden. Sie sind, bis zum Erweis des Gegenteils – wofür ich nur ganz wenige Beispiele vorbringen könnte –, zu respektieren und ernst zu nehmen als Männer und Frauen der Kirche Jesu Christi in der DDR und nicht als geistlich getarnte fremdbestimmte Repräsentanten oder Propagandisten des Systems oder seiner politischen Führung. Dass dies so ist, erhellt – jedenfalls für den evangelischen Bereich – auch daraus, dass oft eine ziemliche Vielfalt der kirchlichen Stimmen aus der DDR an das Ohr dessen dringt, der hören will, von Bürgern eines Staates also, der größten Wert darauf legt, dass aus seinem Lande heraus mit einer Stimme gesprochen wird.6
Ich sage Ihnen vermutlich etwas Selbstverständliches, aber ich glaube, dass es wegen seines grundlegenden Charakters in solchem Zusammenhang ausgesprochen werden muss. Die Kirchen sind in der DDR die einzigen zugelassenen und staatlich und politisch trotz aller Probleme respektierten Organisationen, die ihre innere Souveränität bis heute erhalten haben, deren Repräsentanten und Organe keiner staatlichen Legitimierung bedürfen, deren Autorität nicht abgeleitet ist aus der Autorität des Zentralkomitees der SED, weder formal noch tatsächlich. Mir scheint es auch deshalb nötig, dies so zu betonen, weil ich nicht mit gleicher Überzeugung diese These für alle Kirchen in allen übrigen osteuropäischen Ländern vertreten könnte. Für die DDR jedenfalls gilt, dass der Satz aus Artikel 39 ihrer Verfassung nicht nur auf dem Papier steht: »Die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften ordnen ihre Angelegenheiten und üben ihre Tätigkeit aus in Übereinstimmung mit der Verfassung und den gesetzlichen Bestimmungen der Deutschen Demokratischen Republik.«7 Die Kirchen und Religionsgemeinschaften sind hier Subjekt. Wie sehr sie Subjekt sind, zeigt die Tatsache, dass, so weit ich sehe, sie die einzigen in der Verfassung genannten Organisationen sind, denen Übereinstimmung mit Verfassung und Gesetzen ausdrücklich vorgeschrieben werden musste.
Gewiss, hier liegt ein »Ja, aber …« nahe: Die Kirchen mögen in ihrer Personalpolitik und ihrer gottesdienstlichen Verkündigung staatsunabhängig sein, aber sie sind Einschränkungen unterworfen, vor allem auch in ihre Publikationspolitik und deshalb können sie nicht als vollgültige Partner angesehen werden, deshalb spricht uns im Westen die partnerschaftliche Solidarität nicht frei von der Verpflichtung, außerdem »Mund der Stummen« zu sein, die Dinge zu sagen, die Verhältnisse zu brandmarken, zu denen sie schweigen müssen oder aus taktischen Erwägungen sogar angepasste Sprüche sagen.
Ich teile diese Auffassung nicht. Ich bin aufgrund meiner Erfahrungen überzeugt, dass im Westen niemand das Recht hat, im Namen der Kirchen oder der Christen in der DDR zu sprechen, wenn er nicht ausdrücklich dazu legitimiert worden ist. Das bedeutet nicht, dass westliche Christen nicht das Recht oder sogar die Pflicht hätten, Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen, die drüben nicht publiziert werden oder publiziert werden können. Das bedeutet auch nicht, dass wir uns nicht unsere eigene, abweichende, ggf. auch kritische Meinung über Lage und Handlungen der Kirchen in der DDR bilden und sie auch publizieren dürften. Dies gehört vielmehr zu partnerschaftlicher Solidarität hinzu. Es heißt aber wohl, Abschied nehmen von jedweder Haltung der Besserwisserei oder unerbetenen Interessenvertretung. Es verlangt, zunächst einmal die Stimmen der Kirche aus der DDR zur Kenntnis zu nehmen,8 sie ernst zu nehmen und weiterzuverbreiten – die publizierten wie die nicht publizierten Stimmen –, bevor man die eigene Meinung, die eigene zusätzliche Erkenntnis hinzufügt. Und es heißt vor allem, nicht willkürlich diejenigen Stimmen aus der Christenheit der DDR für die allein wahren und gültigen zu nehmen, sie absolut zu setzen, die ins eigene politische Kalkül hineinpassen, die das eigene Urteil bestätigen, und alles andere als nicht relevante, dem Staat liebedienerische9 Propaganda abzutun.
Wie sehr die Kirchen in der DDR in der Lage sind, Notwendiges selbst zur Sprache zu bringen, mit der gehörigen Deutlichkeit bei aller Abgewogenheit der Formulierung, das haben die kirchlichen Reaktionen in der DDR auf die Selbstverbrennung des Pfarrers Oskar Brüsewitz vor der Michaeliskirche in Zeitz im August vergangenen Jahres10 gezeigt. Davon ist später noch zu reden. Ich komme im jetzigen Zusammenhang auf diese Sache zu sprechen, weil hieran auch die Problematik westlichen Redens deutlich geworden ist. Kirchenleitungen in der DDR haben sich, soweit ich sehe mit Recht, in ihrer Integrität, in ihrer Glaubwürdigkeit und im Nachdruck ihres kritischen Redens zum Staat hin verletzt oder eingeschränkt gefühlt durch westliche, politische, publizistische und leider auch kirchliche Einordnung und in gewissem Sinne auch Ausbeutung des in seinem Inhalt nicht von vornherein eindeutigen Zeichens von Zeitz. Sie sahen sich vor die Notwendigkeit gestellt, sich nach Westen hin abzugrenzen, um nicht als Befehlsempfänger des Westens, als Propagandisten des Imperialismus oder wie solche Formeln auch heißen, abgetan zu werden. Und als nicht unproblematisch erwies es sich in diesem Falle, dass der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, also in der Bundesrepublik, sich unter so starken publizistischen Erwartungsdruck gesetzt sah, dass er ebenfalls eine Erklärung abgab, die nicht in voller Kenntnis der Bewertung der Dinge durch die verantwortlichen Kirchenmänner in der DDR erfolgte und folglich als unsolidarisch missverstanden werden und von der SED gegen die DDR-Kirchen propagandistisch ins Feld geführt werden konnte.11
Soviel möchte ich, meine sehr verehrten Damen und Herren, zur Einleitung und Einordnung des nun folgenden Berichts12 zum Thema »Kirche in der DDR« sagen. Ich bitte dabei zu verstehen, dass ich mich im Wesentlichen auf die evangelischen Kirchen beziehe, die im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR13 zusammenarbeiten. Was die allgemeine Lage, die äußeren und die politischen Bedingungen der kirchlichen Arbeit anlangt, gibt es zwischen evangelisch und katholisch keine großen Unterschiede. Vermerkt sei in diesem Zusammenhang nur die große Bereitschaft14 zahlreicher katholischer und evangelischer Gemeinden zu wirklicher ökumenischer Zusammenarbeit, stark gefördert durch ein Ökumenismus-Dokument der gemeinsamen Synode der katholischen Jurisdiktionsbezirke. Unterschiedlich ist hingegen die kirchenpolitische und politische Grundorientierung von evangelischem Kirchenbund und katholischer Kirche in der DDR. Während auf evangelischer Seite die Zielsetzung, Zeugnis- und Dienstgemeinschaft in der sozialistischen Gesellschaft der DDR zu werden, zu den programmatischen Aussagen gehört, fehlen inhaltlich vergleichbare oder auch widersprechende katholische Äußerungen völlig.
Ich habe mir überlegt, ob ich hier zunächst einen historischen Abriss über die Entwicklung der Kirche in der DDR seit 1945 vortragen soll. Ich möchte darauf verzichten, weil dann zu sehr die Deutschlandfrage und die Frage der kirchlichen Organisationseinheit bei staatlicher Zweiteilung und politischem Antagonismus in den Vordergrund treten würde. Diese Frage aber steht nicht mehr im Vordergrund der Problematik des Kircheseins in der DDR. Für die Erkenntnis der heutigen Problemlage15 scheint es mir sinnvoller, der Frage nachzugehen, welche Faktoren und Grundtatsachen dafür in der gegenwärtigen, 1969 begonnenen kirchenpolitischen Periode in der DDR bestimmend sind. Ich möchte dann mit einer Erörterung der Situation abschließen, die sich mit der Selbstverbrennung von Brüsewitz ergeben hat.16
Ich halte den bei uns weithin üblichen Vergleich kirchlichen Lebens und kirchlicher Möglichkeiten in der DDR mit denen in der Bundesrepublik für nur begrenzt legitim, jedenfalls wenn Wertungen auf dieser Grundlage aufgebaut werden. Der aufschlussreichere und legitimere Vergleich ist der mit der Situation17 in den übrigen osteuropäischen Staaten. Immerhin, dem18 historisch bewussten westlichen Beobachter fällt die Schrumpfung der kirchlichen Mitgliederzahlen auf. Hier zeigt sich eine deutliche Auseinanderentwicklung zwischen der Bundesrepublik, wo noch mehr als 90 Prozent der Bevölkerung einer Kirche angehören, und der DDR, wo der Prozentsatz unter fünfzig gesunken ist und niemand absehen kann, wo die Entwicklung stehen bleibt. Gewiss, die von den Kirchen selbst genannten Mitgliederschätzungen sind immer noch beachtlich: Die Protestanten geben zwischen acht und neun Millionen Mitglieder der acht evangelischen Landeskirchen an (etwa 4 300 Pfarrer sind für sie aktiv tätig, dazu eine Vielzahl anderer Mitarbeiter), zu den sieben katholischen Jurisdiktionsbezirken gehören nach offizieller Angabe mehr als 1,2 Millionen Katholiken. Etwa achtzigtausend Mitglieder von Freikirchen überwiegend evangelischer Prägung kommen hinzu,19 schrecklicherweise20 nur noch einige hundert Mitglieder der jüdischen Gemeinden. Von den gängig als Sekten bezeichneten religiösen Gemeinschaften sind die Adventisten offiziell zugelassen und entfalten in ihren 330 kleinen Gemeinden reges Leben. Nicht anerkannt, aber in letzter Zeit im Ganzen toleriert und auch aktiv sind die Zeugen Jehovas.21
Die Zahlen sind hoch, doch im evangelischen Bereich jedenfalls hat man es sich abgewöhnt, noch mit ihnen gleichsam aufzutrumpfen. Der Staat rechnet, wie gelegentlich zu hören ist, mit nur noch zehn Prozent überzeugter und damit aktiver Christen in der DDR – 1,7 Millionen also. In der evangelischen Kirche glaubt man, dass es etwas mehr sind, aber gar so viel mehr nun auch wieder nicht.
Die Schrumpfung der Mitgliederzahlen geht heutzutage nicht oder kaum auf Kirchenaustritt zurück. Die DDR-Zahlen liegen da absolut und relativ niedriger als die in der Bundesrepublik. Zahlenwirksam ist vielmehr, dass die Kinder und Jugendlichen überwiegend gar nicht mehr Kirchenmitglieder werden. Die Taufziffern sind radikal zurückgegangen, wenn es hoch kommt, wird jeder vierte Säugling getauft. Die Beteiligung an Christenlehre – dem kirchlich veranstalteten Religionsunterricht – und Konfirmation liegt noch niedriger. Regional ist das natürlich sehr unterschiedlich.
Die Ursache für diese Schrumpfungstendenz wird nicht in einen Überzeugungs- oder Bekehrungserfolg der marxistisch-leninistischen Schulung, der atheistischen Erziehung, gesehen. Wer nicht mehr Christ ist, wird22 deshalb noch lange kein marxistischer Atheist. Vielmehr spielt hier wohl die entscheidende Rolle die seit Langem real vorhandene23 Säkularisierung, die durch die von der SED seit der Staatsgründung betriebene gesellschaftliche Umwälzung aufgedeckt und gleichsam sittlich24 legitimiert worden ist. Kirche, christlicher Glaube, Bibel kommen im Alltag25 des DDR-Bürgers nicht mehr vor, normalerweise auch nicht einmal negativ. Damit ist eine Umkehrung der Situation geschaffen worden, wie sie in der Bundesrepublik noch weithin herrscht. Bei uns gehört im Regelfall ein Entschluss dazu, der Kirche nicht mehr anzugehören. In der DDR ist es heute eine Entscheidung, sich zur Kirche zu rechnen. In beiden Staaten ist es nicht anders als sonst auf der Welt: Menschen neigen dazu, das überkommene fortzusetzen, sie entscheiden sich nicht gern zu abweichendem Verhalten.
In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre und in den Siebzigern hat sich auch statistisch gezeigt, dass es sich bei dem Mitgliederschwund der großen Kirchen nicht, oder doch nur zum kleineren Teil, um das oft zitierte Gesundschrumpfen handelt, also eine Reduktion der Mitgliedschaft auf den echten Bestand der gleichbleibenden Zahl der aktiven Kirchenmitglieder. Diese Zahl ist nämlich auch zum Teil sehr erheblich zurückgegangen. Die Gottesdienststatistiken jedenfalls auf evangelischer Seite weisen das aus. Allerdings bleibt die Beteiligung am Abendmahl gleich oder steigt, das Gleiche gilt für die freiwilligen Geldspenden, die gottesdienstlichen Kollekten, während die – ebenfalls nur aufgrund freiwilliger Zahlung hereinkommenden – Kirchensteuereinnahmen sinken.
Die Kirchen in der DDR rechnen also mit einer noch länger anhaltenden Welle des Mitgliederschwundes, und wenn es um die gesellschaftliche Relevanz der christlichen Gemeinden geht, rechnen sie heute bereits realistischerweise nur mit denen, die wirklich da sind. Nur sie26 fallen ins Gewicht. Daraus aber entsteht ein Problem, das im Westen oft nicht richtig erkannt wird. Die evangelischen Landeskirchen sind als Volkskirchen organisiert und sie haben sich nach dem Kriege auch so rekonstruieren können. Ihr Recht, ihre Organisationsformen, ihre Personalausstattung, ihre Gebäude sind auf volkskirchlichen Dienst angelegt.27 Und dieser Dienst ist weithin heute noch nötig, siehe die große Zahl der formalen Mitgliedschaft. Diese Struktur bei äußerst knappen finanziellen Mitteln erschwert die Beweglichkeit, erforderliche Anpassung an die Diasporasituation, die Herausbildung effektiver, der Situation angemessener Strukturen der aus bewussten, auch missionarisch bewussten Christen bestehenden Freiwilligkeitskirche. Es ist hier anzumerken, dass in der katholischen Kirche die Situation insofern günstiger ist, als sie28 vor 1945 in weiten Teilen der heutigen DDR keine oder nur ganz wenige Gemeinden hatte. Sie war infolge des Zustroms aus den29 Ostgebieten des früheren Deutschen Reiches genötigt,30 die kirchliche Organisation nach dem Kriege weithin neu aufzubauen. Das brachte naturgemäß besondere Belastungen mit sich, aber auch die Chance der situationsgerechten Struktur.31
Zu einer realistischen Information über heutiges kirchliches Leben in der DDR gehört nun allerdings nicht nur die Mitteilung von Schrumpfungsproblemen. Es ist gleichzeitig von wirklichem und auch neuem Leben zu sprechen. Das ist häufig nicht recht statistisch zu erfassen, ist von Ort zu Ort unterschiedlich, tritt manchmal öffentlich gar nicht in Erscheinung, erweist aber insgesamt die Realpräsenz der christlichen Gemeinde in der DDR nicht als eine auslaufende historische Größe, einen noch nicht überwundenen bürgerlichen Restbestand, sondern als ein Faktum mit Gegenwartsbedeutung und Zukunftsperspektive, nicht nur für den privaten Bereich der beteiligten Einzelnen, sondern auch für die Gesamtgesellschaft.
Ich will einige Stichworte nennen. Niemand zum Beispiel hat die Hauskreise gezählt, in denen sich Ehepaare und jüngere Erwachsene, gerade auch aus Kreisen der Intelligenz,32 zusammenfinden, um in Gemeinschaft Lebensfragen zu besprechen und Orientierung aus der Botschaft der Bibel zu gewinnen.
Öfter schon gibt es Berichte über den Gemeindeaufbau in sozialistischen Neubaugebieten, in Vorstädten und Trabantensiedlungen ohne Kirche, Pfarr- oder Gemeindehaus und vor allem ohne christlich-kirchliche Tradition. Hier sind Besuchsdienstgruppen am Werk, sammelt sich in kleinen Gruppen Gemeinde, die nicht von Traditionen, sondern von33 der Lebens- und Arbeitssituation ihrer Mitglieder Impulse erhält. Wie real diese sich neu zusammenfindende christliche Minderheit ist, kann sich auch an der Tatsache zeigen, dass im Sommer letzten Jahres die DDR-Regierung nach jahrzehntelangem Nein nunmehr die grundsätzliche Erlaubnis gegeben hat, in solchen Städten und Siedlungen kirchliche Zentren zu errichten. Sie sollen als Kirchen erkennbar sein, werden aber stets den Erfordernissen der Gemeindebildung in der neuen Situation Rechnung tragen, also Funktions- und Kommunikationsräume und zum Teil auch Wohnungen enthalten. Dass die DDR ihren Devisenvorteil davon hat – aus eigenen Mitteln können die Kirchen in der DDR solche Bauprogramme nicht verwirklichen, sie sind, wie auch für das seit Langem laufende Sonderbauprogramm zur Wiederherstellung und zum Umbau vorhandener Kirchengebäude auf Finanzhilfe aus den westdeutschen Kirchen angewiesen –, dass also die DDR auch ihre eigenen Zwecke damit verfolgt, steht auf einem anderen Blatt. Sie hätte sich jedoch34 kaum bereitgefunden, dauerhafte architektonische Nachweise der Existenz christlicher Gemeinden in den mit soviel ideologischen Zielsetzungen verbundenen sozialistischen Städten zu gestatten, wenn sie eben diese christliche Existenz nicht als Realität und als auf längere Zeit noch einzukalkulierende Größe erfahren hätte.
Gemeindeaufbau gerade im Neubaubereich ist nicht möglich, wenn die Gemeinde nur durch den Pfarrer dargestellt würde. Hier wird sichtbar, dass Laien, berufstätige Christen, eine erhebliche Rolle spielen. Das ist eine Erfahrung, die viele machen, wenn sie die tatsächlich vorhandene Kirche in der DDR aufsuchen und nicht nur in Zeitungen Bischofsworte lesen. Es gibt eine gewiss im Ganzen kleine, aber doch beträchtliche Zahl von Menschen, die keine oder kaum mehr eigene Erinnerungen an vergangene bürgerliche Zeiten und kirchliche Traditionen haben, die sich trotz möglicher beruflicher Nachteile, trotz sozialistischer Erziehung von Kindheit an aktiv für die christliche Gemeinde entscheiden. Bis hin in Synoden und Kirchenleitungen sind diese, meist in der volkseigenen Wirtschaft berufstätigen Laien vertreten und scheuen sich nicht, Zeit und Prestige einzusetzen, um Mitverantwortung wahrzunehmen.
Die Kirchen in der DDR haben sich immer geweigert, sich vom Staat ein religiöses Getto zuweisen zu lassen, sich auf den engeren Kultus und die Pflege privater religiöser Bedürfnisse zu beschränken. Bischof Schönherr sprach in seiner offiziellen Erklärung bei der Aufnahme von regulären Beziehungen zwischen Kirchenbund und DDR-Regierung 1971 vom Gottesdienst des ganzen Lebens, der für die evangelische Kirche konstitutiv ist. Von da her ist man sich überall im kirchlichen Bereich klar darüber, dass die Kirche sich nicht allein auf den Pfarrernachwuchs konzentrieren kann, wenn sie Zukunft in der DDR haben will. Das gilt für die katholische Kirche entsprechend. Der eigentliche Missionar, so wird oft gesagt, ist der im Alltag berufstätige Laie. Der Pfarrer lebt isoliert von der Wirklichkeit, er hat in der DDR im Regelfall nicht einmal die Möglichkeit, einen Betrieb besuchsweise kennenzulernen, in dem seine Gemeindemitglieder arbeiten. Seine Aufgabe muss es deshalb vor allem auch sein, »Normalchristen« dazu zu verhelfen, dass sie Auskunft über ihren Glauben geben können. Und in der Tat wird immer wieder berichtet, dass Christen, die sich als solche zu erkennen geben, nicht nur im Beruf und Alltag mit Spott und Schwierigkeiten zu rechnen haben, sondern auch damit, dass man sich an sie wendet, vor allem wenn es im menschlichen Bereich am Arbeitsplatz schwierig wird, und sie fragt: Du bis doch Christ, was hast Du hierzu zu sagen?
Solcher verstärkten Laienbildung dienen in der DDR vom evangelischen Kirchenbund zentral vorbereitete Gemeindeseminare, die überall im Lande das Rückgrat kirchlicher Erwachsenenbildung darstellen. Zu berichten wäre auch von mehrjährigen theologischen Fernkursen, nicht mit dem Ziel, zusätzliche hauptberufliche Pfarrer zu gewinnen, sondern normal berufstätige Menschen zu befähigen, Gottesdienst zu halten, Gemeinde zu sammeln usw.
Wenig bekannt ist vielleicht bei uns auch, dass entgegen zahlreichen Prognosen die kirchliche Jugendarbeit in der DDR nicht zum Erliegen gekommen,35 sondern gerade in den letzten Jahren mancherorts neu aufgeblüht ist. Zwar gibt es viele Kirchengemeinden, die kaum Konfirmanden und36 gar keine Gemeindejugendgruppen haben. Anderenorts finden sich dafür manchmal mehr Jugendliche ein, als Räume da sind. Und es sind nicht nur getaufte und konfirmierte junge Leute, sondern immer häufiger auch solche, die bisher überhaupt nicht mit dem Christentum in Berührung gekommen sind. Sie suchen ein Gemeinschaftsleben, das nicht so strengen Zielsetzungen unterworfen ist wie das der FDJ, sie erfahren Freiheit und lernen das Evangelium als Angebot und Hilfe, nicht als toten Katalog von abstrakten Wahrheiten kennen. Immer wieder wird auch37 von Taufen solcher Jugendlicher berichtet.
Gewiss, es ist vor der Illusion zu warnen, als ob hier ein Neuaufbruch christlichen Lebens auf breiter Front stattfinde. Es handelt sich im Ganzen um sehr kleine Zahlen. Aber es ist auch von großen Zahlen zu berichten, von regelmäßigen Jugendtreffen mit mehreren tausend Teilnehmern, von Jugendgottesdiensten unter freiem Himmel, auch von Jugendevangelisationen mit großem Zulauf.
Ich habe selbst einen Eindruck davon bekommen, als ich im vergangenen Herbst am evangelischen Kirchentag in Halle teilnehmen konnte. Ich erwartete überwiegend ältere Teilnehmer. Ich sah und erlebte eine vieltausendköpfige Kirchentagsgemeinde, die im Altersaufbau der Gesamtbevölkerung entsprach oder eher etwas jünger war. Ich sah die große Marktkirche in Halle voll von jungen Menschen, diskutierend, spielend, singend, betend. Eine Szene ist mir vor allem in Erinnerung: Studenten bauten aus Kartons ein Hindernis auf. Jeder Umstehende hatte die Chance, irgendetwas damit anzufangen. Etwa dreißig Arten, sich dem Hindernis gegenüber zu verhalten, wurden spontan vorgeführt. Nur eine davon war, davor resignierend stehen zu bleiben.38
Nicht vergessen werden soll übrigens, dass zum christlichen Jugendleben in der DDR auch eine neue Frömmigkeitsbewegung gehört, die39 vor allem in Sachsen, Mecklenburg und auch in Potsdam größere Zahlen von Jugendlichen zu Gebet, Meditation und Gottesdienst zusammenführt. Es handelt sich, wie glaubwürdig versichert wird, nicht um einen Import der westlichen Jesus-People,40 sondern um eine DDR-eigene Jesusbewegung, die den Zusammenhang mit der organisierten Kirche nicht verlieren will, so sehr sie sich auch auf die Initiative Einzelner stützt.
Ein Zeichen realen christlichen Lebens ist im Übrigen auch die umfangreiche diakonische Tätigkeit aller Kirchen in der DDR. Mehr als zehn Prozent aller Krankenhäuser werden konfessionell geführt, es gibt 34 katholische und 52 evangelische Kliniken. Ein Teil von ihnen nimmt offiziell die Funktion von Kreiskrankenhäusern wahr. Hinzu kommen Altenheime und vieles andere. Einen besonderen Schwerpunkt bildet die Sorge für geistig und körperlich Behinderte. In diesem Bereich ist die diakonische Arbeit in den letzten Jahren ständig ausgebaut worden. Weniger ins Auge fallend sind die vielfach sehr intensiven diakonischen Bemühungen der Gemeinden. Zwar sterben die Gemeindeschwesternstationen wegen Nachwuchsmangels aus, aber die Gruppen junger Leute, die regelmäßig alte Leute besuchen, ihnen die Wohnung renovieren und sonst an die Hand gehen, sind nicht statistisch erfasst. Ihre Zahl dürfte eher wachsen.
Der Staat fördert die diakonische Tätigkeit besonders in den Anstalten und erkennt sie offiziell an. Gewiss geschieht das aus Zweckmäßigkeitsgründen. Aber wiederum ist hier zu vermerken: Die christlichen Anstalten wären verschwunden, wenn aus den Gemeinden nicht Menschen kämen, die bereit sind, aus christlichem Antrieb in ihnen tätig zu sein.
Von Kirchenpolitik habe ich bisher immer nur nebenbei gesprochen. Aber natürlich ist es nicht möglich, von Kirche in einem so alle Lebensbereiche beanspruchenden und regulierenden Staat zu reden, wie es die DDR ist, ohne nach den Grundbedingungen zu fragen, die staatlich-gesellschaftlich für Existenz und Arbeit der Kirchen gegeben sind, und der Frage nachzugehen, wie sich die Kirchen dazu verhalten.41
Ich kenne keinen Christen in der DDR, der sich Illusionen über das Ziel der SED macht, der Religion nach Kräften zum Absterben zu verhelfen, den sogenannten religiösen Aberglauben zu überwinden und damit am Ende die Kirchen austrocknen und verschwinden zu lassen. Unterschiedlich sind hingegen die Einschätzungen über die Zeiträume und die Etappen dieses erwünschten Prozesses, unterschiedlich wird auch die Frage beantwortet, wie wichtig der Partei dieses Ziel ist, welche Energie sie jetzt und künftig dran setzen wird, es so bald als möglich zu erreichen, welche Risiken und Nachteile sie ggf. künftig hinnehmen wird, die sich aus einer Beschleunigung des Absterbeprozesses der Kirchen ergeben.
Je nachdem, wie diese Frage beantwortet wird, fällt auch die Situationsbeurteilung aus, ist man skeptisch bis resigniert oder gelassen und ziemlich unbekümmert. Aber, soweit ich sehen kann, gibt es nur ganz wenige, die für Christen die Situation in der DDR jetzt schon oder in absehbarer Zukunft für unlebbar halten und daraus den Schluss ziehen: Um meines christlichen Glaubens willen muss ich dieses Land verlassen. Die Normalantwort heißt: Das unterscheidet uns ja von den Kommunisten, dass wir ihren Glauben, den sie als Wissenschaft ausgeben, nicht teilen, und dass wir deshalb hier leben und arbeiten können trotz aller Misshelligkeiten und Widerstände, weil wir eine reale Zukunftshoffnung haben, die uns frei macht davon, uns einer geschichtlichen Gesetzmäßigkeit unterworfen zu sehen, wie die Kommunisten sie propagieren.
Die von der SED geformte und gesteuerte, wenn nach außen hin auch oft von der DDR-CDU propagierte staatliche Kirchenpolitik hat sich bisher noch nie auf einen eindeutigen Nenner, auf einen für alle Situationen passenden und sie erklärenden Schlüssel bringen lassen. Zumindest ihre Nuancen und aktuellen Ausformungen – der Wechsel von Eiszeiten und Zwischeneiszeiten bis hin zu partiellen Tauwetterperioden – dürften auch im Politbüro der SED immer wieder diskutiert werden.42
Die bisher nicht widerrufene oder eindeutig abgeänderte Grundlage für die Bestimmung des Verhältnisses des Staates zu den Kirchen ist eine Rede des Politbüromitgliedes Paul Verner vom Frühjahr 1971.44 Der neueste kirchenpolitische Vorgang von Gewicht hingegen ist die Tatsache, dass die SED im vergangenen Jahr auf ihrem IX. Parteitag in das neue Parteiprogramm einen Passus über die Religionsfreiheit aufnahm, der dem in der Verfassung entspricht, obgleich im Entwurf des Parteiprogramms eine solche Freiheitsgarantie nicht mehr enthalten gewesen war.44 Der evangelische Kirchenbund hatte öffentlich und zahlreiche Bürger sowie vermutlich auch die DDR-CDU hatten brieflich und intern gegen die Streichung dieser Freiheitsgarantie interveniert. Der Vorgang bestätigt die im kirchlichen Bereich weit verbreitete Meinung, dass die SED mit der Realität der Kirche in der DDR auf absehbare Zeit zu rechnen bereit ist, aber mit dieser Realität gelebten Glaubens immer wieder konfrontiert werden muss. Respektierung der Kirchen und Toleranz gegenüber der weltanschaulich nicht konformen christlichen45 Minderheit in der Bevölkerung sind zu haben, so heißt diese Analyse, aber sie werden nie freiwillig gewährt, sondern müssen glaubwürdig eingefordert werden.
Die erwähnte Rede Paul Verners war die politische Reaktion auf den Entschluss der acht evangelischen Landeskirchen in der DDR von 1969, einen eigenen Kirchenbund zu bilden und die bis dahin entschlossen vertretene Mitgliedschaft in der Evangelischen Kirche in Deutschland aufzugeben.46 Von ideologischem Wortgeklingel entkleidet, trug der SED-Mann etwa folgendes Angebot vor: Der Staat ist bereit, künftig mit den von den Kirchen selbst herausgestellten Organen und Personen als Repräsentanten der Kirchen zu rechnen. (Damit endete die Periode der Kirchenpolitik Ulbrichts, der sich seine kirchlichen Gesprächspartner, vor allem Emil Fuchs und Bischof Mitzenheim, praktisch47 selbst ernannt hatte und der DDR-CDU gleichsam die Aufgabe zuwies, die wahre Kirche zu repräsentieren und zu artikulieren.) Verner verband mit diesem Angebot die Erwartung, dass die Kirchen sich voll auf den Boden der geschaffenen Tatsachen stellen und nunmehr von sich aus ein eigenes Profil in der sozialistischen Gesellschaft entwickeln. Es gehe um eine positive Standortbestimmung der Kirche in der sozialistischen Gesellschaft und darum, »in Dienst und Zeugnis die Deutsche Demokratische Republik allseitig weiter zu stärken, den Frieden zu erhalten und zum Nutzen aller und jedes einzelnen Menschen zu wirken«. In ziemlich eindeutigen Worten sicherte er als Gegenleistung zu, dass die SED nicht versuchen werde, die Kirchen von innen her aufzurollen durch irgendwelche Formen einer marxistischen Theologie. Im Übrigen aber hätten die Kirchen einen klaren Standpunkt zu der Machtfrage einzunehmen.
Die Verner-Rede war eindeutig in drei Punkten, und in diesen Punkten ist die SED-Kirchenpolitik bis heute eindeutig geblieben: Die Kirchen werden nicht von innen her aufgerollt (also kein innerer Kirchenkampf nach Art der Deutschen Christen48). Die kirchliche Organisation und die gewählten Repräsentanten werden als legitimierte kirchliche Sprecher anerkannt. Dem Staat genügt die bisherige Zusicherung der Respektierung des sozialistischen Aufbaus nicht mehr, er verzichtet jedoch auf eine förmliche kirchliche Loyalitätserklärung und setzt die Kirchen stattdessen unter einen ständigen sozialistischen Erwartungsdruck.
Wolkig und vielseitig auslegbar blieb die Frage, ob die Kirchen damit auch als gesellschaftlich relevante Organisationen anerkannt werden, denen legitime gesellschaftliche Funktionen zukommen, oder ob sie nach wie vor als nicht ins sozialistische System passende bürgerliche Restbestände angesehen werden, deren gesellschaftliche Relevanz systematisch abzubauen ist und die nur noch in der Zwischenzeit zum gesellschaftlichen Nutzen verpflichtet werden. Die Schwankungen der DDR-Kirchenpolitik in den letzten sechs Jahren lassen sich aus der unterschiedlichen Akzentsetzung bei der Beantwortung dieser Frage in jeweils aktuellen Zusammenhängen erklären. Hierüber wäre lange zu reden. Dazu ist jetzt keine Zeit. So will ich nur zur gegenwärtigen Situation etwas sagen. Im Augenblick sieht es so aus, als ob den Kirchen eine gewisse, natürlich sehr begrenzte, gesellschaftliche Zuständigkeit eingeräumt wird. Sie soll sich öffentlich natürlich vor allem in Akklamation zu Zielen und Handlungen des Staates äußern, aber das Recht zu kritischer Stellungnahme und zur Lieferung eigenständiger Gesprächsbeiträge z. B. in der Menschenrechtsfrage wird nicht grundsätzlich bestritten, wenn auch publizistische Möglichkeiten zu seiner Wahrnehmung kaum bestehen.49
Der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR hat das von Paul Verner vorgebrachte Angebot im evangelischen Sinne positiv gedeutet und angenommen. Damit eröffnete sich ihm die Möglichkeit, in zähen Einzelverhandlungen und Gesprächen alle staatlichen Versuche abzuwehren, die Kirche voll zu privatisieren und ihre Zuständigkeit auf die Pflege religiöser Bedürfnisse von Einzelnen einzugrenzen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang der Kampf um Auslegung und Anwendung der sogenannten Veranstaltungsverordnung, mit deren Hilfe Anfang der siebziger Jahre versucht wurde, die Religionsfreiheit auf dem Verwaltungswege entscheidend einzuengen. Von der Pflicht zur polizeilichen Anmeldung von Veranstaltungen, die nach aller DDR-Erfahrung zum polizeilichen Genehmigungs- oder Verbotsrecht tendiert, sollten eigentlich nur Gottesdienste und kirchliche Amtshandlungen im kultischen Sinne befreit sein.50 Der Kirchenbund hat dies schon in seiner Antwort an Verner zurückgewiesen und auf dem »Gottesdienst des ganzen Lebens« bestanden, von dem her die Religionsfreiheit zu interpretieren sei, und er setzte sich 1973 damit im Wesentlichen durch. Auch andere Einschränkungen, vor allem die zahlreichen Auflagen für Ferienveranstaltungen mit Jugendlichen und Konfirmanden, die sogenannten Jugendbibelrüsten, sind kirchlich nicht anerkannt worden und werden in der Praxis auch kaum mehr durchgesetzt. Der Erfolg mit den Baugenehmigungen für Kirchen in sozialistischen Städten wurde schon erwähnt. Weitere Beispiele lassen sich anführen. Ein qualitativer Fortschritt gegenüber der Periode vor der Gründung des Kirchenbundes wurde vor allem darin erzielt, dass der Anspruch der DDR-CDU, der Christischen Friedenskonferenz,51 der Arbeitsgruppen Christliche Kreise bei der Nationalen Front52 und verwandter Organisationen [in sich zusammensank],53 die gesellschaftliche Bedeutung des christlichen Glaubens allein verbindlich zu artikulieren.54 Er wird nur noch mühsam als propagandistische Fassade aufrechterhalten. Tatsächlich wendet sich die SED heute, wenn sie sich für Kirche interessiert, nicht mehr an Gerald Götting und seine Mannen, sondern an die Kirche selber. Die DDR-CDU und die mit ihr kooperierenden Organisationen erlitten einen bemerkenswerten Funktionsverlust, der Bund evangelischer Pfarrer55 in der DDR löste sich im Herbst 1974 sogar zu seiner eigenen Überraschung selbst auf.
Das hier gezeichnete Bild wirkt optimistisch. Die Schattenseite soll nicht vergessen werden. Aber zunächst ist noch auf Folgendes hinzuweisen: Der evangelische Kirchenbund hat für die ihm eingeräumte und von ihm entschlossen wahrgenommene Möglichkeit, das gesamtkirchliche Leben zu entfalten und zu aktivieren und die acht evangelischen Landeskirchen gemeinsam gegenüber Staat, Gesellschaft und in der Ökumene zu repräsentieren, keine ideologischen Konzessionen gemacht. Der Verzicht auf die gesamtdeutsche kirchliche Organisationseinheit56 ist zwar praktisch politisch erzwungen worden, weil der Staat Verhältnisse geschaffen hatte, die einen seelsorgerlich zu verantwortenden anderen Weg nach Überzeugung der großen Mehrheit der Verantwortlichen nicht mehr übrig ließen. Aber die positive Erwartung der SED in diesem Zusammenhang wurde nicht erfüllt. Wie bekannt, nahm der Kirchenbund in seine Verfassung trotz staatlichen Protestes das Bekenntnis zu der besonderen Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland auf und wies dem Kirchenbund die Wahrnehmung der daraus resultierenden Aufgabe der Partnerschaft mit der nunmehr auf die Bundesrepublik und Westberlin beschränkten EKD zu. Die SED hatte mit der organisatorischen Trennung auch eine ideologische Abgrenzung, eine Absage der DDR-Kirche an die »Nato-Kirche« verbunden sehen wollen, und eine kirchliche Parteinahme auf der Seite der Arbeiterklasse im internationalen Klassenkampf. Derartiges ist von kirchlichen Sprechern und Organen weder deklariert noch praktiziert worden, im Gegenteil. Und heute scheint sich die SED damit wie mit den verbliebenen Resten organisierter Kirchengemeinschaft in der Evangelischen Kirche der Union57 und der Berlin-Brandenburgischen Landeskirche abgefunden zu haben, zunächst jedenfalls.58
Die andere Erwartung der SED, die nach einer positiven Standortbestimmung der Kirche in der sozialistischen Gesellschaft der DDR, hat der Kirchenbund und haben seine acht Mitgliedskirchen als eine Herausforderung aufgenommen. 1971 erklärte die Synode des Kirchenbundes in Eisenach programmatisch: Wir wollen nicht Kirche gegen, nicht neben, sondern Kirche in der sozialistischen Gesellschaft sein.59 Was dies heißen kann und in aktuellen Situationen heißen muss, daran wird seither herumbuchstabiert.
Es ist mir im Rahmen eines Überblickes60 über das umfassende Thema »Kirche in der DDR« nicht möglich, hier in Einzelheiten zu gehen. Auch die gewiss lohnende Anführung von wichtigen Zitaten aus Synodalerklärungen und einzelnen bischöflichen Äußerungen muss unterbleiben. Stattdessen will ich versuchen, orientiert an Erklärungen und Praxis des Kirchenbundes, eine kurze Charakteristik dessen zu geben, was mit der Zielsetzung »Kirche im Sozialismus« im Sinne einer »Zeugnis- und Dienstgemeinschaft« der evangelischen Kirchen in der DDR gemeint ist.61
Der Wille, Kirche in der sozialistischen Gesellschaft der DDR zu sein oder zu werden, setzt voraus, dass die Kirche diese Gesellschaftsordnung und diesen Staat nicht grundsätzlich ablehnt oder bekämpft. Vielmehr nimmt die Kirche im Sozialismus die gegebene Situation an und versucht, in ihr die Räume für christliches Zeugnis und christlichen Dienst zu finden, sie auszufüllen und zu erweitern. Das ist nicht zu verwechseln mit kirchlicher Parteinahme für diese Gesellschaftsordnung oder gar einer theologischen Theorie, die Kirche und Christsein an den Sozialismus bindet. Jeder Versuch, aus der Zielsetzung »Kirche im Sozialismus« eine ideologische Bindung im Sinne einer »Kirche für den Sozialismus« zu machen, ist bisher abgewehrt worden.62
Auf der anderen Seite entnimmt die Kirche im Sozialismus ihre Impulse, soweit sie aus der Gesellschaft kommen, dieser Gesellschaft und nicht einer anderen, etwa der bundesrepublikanischen. Sie legt zur Bewertung der sozialistischen DDR-Gesellschaft an sie nicht Maßstäbe an, die aus anderen Gesellschaftsordnungen gewonnen sind, sondern sie misst sie mit deren eigenen Maßstäben, sofern sie mit dem Evangelium vereinbar sind.
Kirche in der sozialistischen Gesellschaft bedeutet, dass eine gesellschaftliche Verantwortung der Kirche bewusst anerkannt und gewollt wird, ob das Recht dazu nun staatlich zugestanden wird oder nicht. Das heißt, die Kirche sieht ihre Aufgabe nicht nur darin, sich um ihre Mitglieder zu kümmern, sondern sie sieht eine Verpflichtung für das Ganze. Menschenrechtsprobleme werden für sie z. B. nicht erst relevant, wenn es um Glaubensfreiheit und Freiheit zur Religionsausübung geht oder wenn von Verletzungen anderer Menschenrechte die eigenen Mitglieder betroffen werden.
Die auf Zeugnis und Dienst ausgerichtete Kirche im Sozialismus fordert für sich nicht Privilegien und Zuständigkeiten, sie will nicht gesellschaftliche oder gar staatliche Macht. Sie will mit ihrem Proprium,66 dem Evangelium, der Gesellschaft dienen, ob das gewünscht wird oder nicht, und sie wird um Möglichkeiten und Freiheit für diesen Dienst bemüht sein.
Die Kirche im Sozialismus verpflichtet sich nicht zur Delegierung ihrer Verantwortung an Staat und Gesellschaft. Sie gibt keine ein für alle Mal geltenden pauschalen Zustimmungserklärungen. Sie nimmt sich die Freiheit, wo es ihr als evangelisches Zeugnis und als christlicher Dienst an der Gesellschaft nötig und nützlich zu sein scheint, Einzelprobleme zu prüfen und Ja oder Nein zu sagen.64 Sie sagt grundsätzlich Ja zu der Aufgabe der sozialistischen Gesellschaft, zu einem gerechteren Zusammenleben zu führen und Frieden zu schaffen, und sie wird Nein sagen, wenn ihr im konkreten Fall diese Ziele verlassen zu werden scheinen. So hat der Kirchenbund zum Beispiel Ja zum Antirassismus-Programm des Weltkirchenrates65 gesagt und den Kampf gegen den Rassismus als einen Beispielfall des Eintretens für die Menschenrechte bezeichnet. Während diese Erklärung vom Staat honoriert wurde, hat die Erklärung der Bischöfe vom Herbst 1975 gegen die Einordnung des Zionismus in den Rassismus durch die UNO-Vollversammlung,66 die mit Zustimmung des DDR-Vertreters erfolgte, erbitterte, wenn auch nicht veröffentlichte staatliche Gegenreaktionen ausgelöst. In diesem Zusammenhang wird ein Problem deutlich, das die Kirchenvertreter nicht müde werden, dem Staat vorzutragen: Wenn die DDR das Ja der Kirche groß publiziert, das Nein aber öffentlich verschweigt, muss die Kirche im Sozialismus um ihrer Glaubwürdigkeit willen in der Lage sein, auf zustimmende Äußerungen zu politisch-gesellschaftlichen Phänomenen zu verzichten, sie zu verweigern, auch wenn sie ihr an sich möglich wären.67
Die Kirche im Sozialismus will nach einer Formulierung von Bischof Schönherr bemüht sein, an dem Gespräch teilzunehmen, das der Staat mit seinen Bürgern führt, und sie meint, besonders in der Frage des Menschenbildes Eigenes beitragen zu können. Tatsächlich wird der Kirche eine Teilnahme am gesellschaftlichen Dialog, soweit er in der DDR überhaupt außerhalb des Politbüros der SED geführt wird, schwer, wenn nicht unmöglich gemacht. Die Chancen, als Kirche wirklich im Sozialismus verantwortlich etwas unmittelbar beizutragen, sind sehr gering. Umso wichtiger ist es, dass die Kirche sich darauf konzentriert, Menschen zu orientieren und zu stärken für ihr Wirken in Beruf und Gesellschaft. Sie bejaht und fördert grundsätzlich die Mitarbeit von Christen an Gestaltung und Ausbau dieser Gesellschaft, aber sie akzeptiert nicht die staatliche (und auch von einigen der DDR-CDU nahestehenden Theologen propagierte) Theorie, dass die Kirche den christlichen Bürgern nur die Motivation zu dieser Mitarbeit zu geben habe, Inhalte und Ziele aber der SED allein überlassen müsse. Vielmehr sollen Christen zu konkret unterscheidender Mitarbeit befähigt werden. Sie sollen dem Marxismus nicht eine eigene Gesellschaftstheorie entgegensetzen, die Marxisten hingegen in ihrer Praxis nach ihrem eigenen humanistischen Ansatz befragen. In diesem Zusammenhang ist auf einer Kirchenbundessynode einmal der Satz von der engagierten Hoffnung der Christen auf einen verbesserlichen Sozialismus68 gefallen, was zu einer monatelangen Vereisung im Verhältnis zwischen Staat und Kirche führte. Während nämlich die SED die Alleinzuständigkeit für den Sozialismus beansprucht und die Mitarbeit der Christen unter das Vorzeichen ihres totalen Führungsanspruches stellt, will die Kirche im Sozialismus Menschen fähig machen, in der Freiheit eines Christenmenschen den Sozialismus auch ernster zu nehmen, als ihn seine Exekutoren zuweilen praktizieren.69
Im Ganzen lässt sich sagen, Kirche im Sozialismus ist kein theologisch begründetes Gesellschaftssystem oder gar eine christliche Verbrämung marxistischer Ideologie, sondern der Versuch, Freiheit zu leben, Freiheit zum Dienst in kritischer Solidarität70 an einer Gesellschaft, deren Grundlagen und Gestaltung man nicht selbst gewählt hat, die man aber deshalb auch nicht verteufelt.
Es ist nun Zeit, auf einen Hauptspannungspunkt im Verhältnis von Staat und Kirche zu sprechen zu kommen, auf die »Situation im Bildungssektor«, wie es so schön im DDR-Deutsch heißt.71
Der kommunistische Staat erhebt einen totalen Erziehungsanspruch, der programmatisch und gesetzlich immer mehr abgesichert worden ist. Die Kinder und Jugendlichen sollen zu bewussten Kommunisten erzogen werden. Das schließt nicht nur die Vermittlung von Tatsachenwissen über die marxistisch-leninistische Theorie ein und die Vermittlung christlicher Inhalte aus, sondern verlangt auch das Bekenntnis zur Weltanschauung des Marxismus-Leninismus einschließlich ihrer atheistischen Komponente. Das führt dazu, dass diejenigen Kinder und Jugendlichen, die aufgrund ihrer Glaubens- und Gewissensbindung diesen Anspruch nicht zu erfüllen bereit sind, sich gefallen lassen müssen, in ihrer schulischen und beruflichen Ausbildung benachteiligt zu werden, sei es, dass ihnen der Zugang zur Erweiterten Oberschule (EOS)72 und damit zu Abitur und Direktstudium verschlossen bleibt, oder sei es, dass ihnen bestimmte Berufsziele versperrt werden. Nicht selten mussten sie es sich auch gefallen lassen, in der Schule wegen ihrer Glaubensbindung verlacht, verspottet oder diffamiert zu werden. Solchen Diskriminierungen haben sich auch junge Menschen ausgesetzt, die aus anderen als Glaubensgründen zu dem beanspruchten Wohlverhalten gegenüber Staats- und Parteiführung nicht bereit waren.73
Ausmaß und Grad dieser Benachteiligungen haben geschwankt. Gegeben hat es sie in milderer oder schrofferer Form immer. Immer hat es auch Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat darüber gegeben. Heute ist die Auseinandersetzung wieder sachlicher geworden. Die SED hat ihren totalen Anspruch nicht aufgegeben, ihn eher verschärft, aber dennoch ist es keinesfalls so, dass alle jungen Christen grundsätzlich nicht zur EOS zugelassen werden, oder dass Pfarrerskinder und Kinder kirchlicher Mitarbeiter sämtlich keinen Studienplatz erhalten. Die Situation ist unterschiedlich, es ist selbst den Betroffenen und Verantwortlichen in den Kirchen in der DDR nicht immer leicht, den Überblick über die gegenwärtigen Tendenzen zu behalten, da die Methoden wechseln, mit denen in Schule und am Arbeitsplatz auf die Kinder Einfluss genommen und auf die Eltern Druck ausgeübt wird.
Unter Berufung auf Verfassung und grundsätzliche politische Erklärungen über die volle Respektierung des christlichen Glaubens haben die Kirchen stets in öffentlichen Erklärungen, oft sehr scharfer Art, und in ungezählten Gesprächen und Verhandlungen Toleranz gefordert und Besserung zu erreichen versucht. Zuweilen hört man den Vorwurf, die Kirchen hätten zu viel geschwiegen. Das ist wohl kaum der Fall. Jahrelang ist keine einzige Synodaltagung ohne öffentliche Tatsachenmitteilung und Anklagen vergangen, und diese Synoden sind in solchen Fragen das wichtigste74 Publikationsinstrument, das den Kirchen zur Verfügung steht. Sie finden öffentlich statt, ihre Texte stehen zur öffentlichen Verbreitung zur Verfügung – nur dass die politische Presse der DDR sie nicht bringt und die kirchliche oft nur in vorsichtigen Andeutungen berichten kann. Die Weitergabe maschinengeschriebener Vervielfältigungen erreicht naturgemäß nur eine geringe Öffentlichkeit. Deshalb haben sowohl die katholische Kirche in einem gemeinsamen Hirtenbrief der Bischöfe als auch mehrere evangelische Landeskirchen mehrfach zum Mittel der Kanzelabkündigung gegriffen. Kennzeichnend für den Inhalt solcher Erklärungen ist das Bemühen, neben der Schilderung von Tatbeständen und Situationen und der Kennzeichnung ihrer Unrechtmäßigkeit und Unerträglichkeit, die bestehenden Spannungen zu lösen und Konflikte zu bereinigen, da den Kirchen nicht daran gelegen sein kann, den Grundsatzkonflikt zwischen christlichem Glauben und marxistisch-leninistischer Weltanschauung voll auf dem Rücken der Kinder auszutragen. Es ist also immer der Versuch gemacht worden, Eltern, Kindern und Lehrern und Behörden auf Wege zu weisen, die ein Zusammenleben von Christen und Marxisten ermöglichen und es erträglich machen, ohne dass einer der Beteiligten sich gezwungen sieht, seine Identität aufzugeben. Ein Beispiel:
Im Frühjahr 1975 wurde von den Kanzeln der evangelischen Kirchenprovinz Sachsen ein »Wort der Information und Seelsorge« der Magdeburger Kirchenleitung verlesen, in dem es hieß: »Wir beobachten mit immer größerer Sorge, wie im Bereich des Bildungswesens christliche Kinder, Jugendliche und Eltern benachteiligt werden. Trotz bester Arbeiten, schulischer und gesellschaftlicher Leistungen wird der Zugang zu bestimmten Berufen, zur EOS und anderen Bildungsstufen verwehrt, wenn die Schüler oder das Elternhaus sich zum christlichen Glauben bekennen. Ebenso wird in massiver Weise auf Kinder, Jugendliche und Eltern eingewirkt, vom Besuch der Christenlehre, von der Konfirmation und der Teilnahme an der Jungen Gemeinde75 abzusehen, da dies negativ für die berufliche und gesellschaftliche Entwicklung sei.« Nach weiteren Ausführungen dazu fuhr die Kirchenleitung fort: »Unsere Jugend wächst in die Welt von morgen hinein, für die sich Aufgaben größten Ausmaßes abzeichnen. Nicht nur, dass unsere sozialistische Gesellschaft verantwortlich denkende und tolerante Menschen brauchen wird, damit ›der Mensch des Menschen Freund‹ sein kann. Der Konflikt zwischen den Entwicklungsländern und uns reichen Industrienationen, die wachsende Not der Hungernden in der Welt, die aus der Industrialisierung erwachsende Umweltbedrohung, die Bewahrung und Herstellung des Weltfriedens werden die heranwachsende Generation vor große Anforderungen stellen. Unsere Frage muss sein, was Elternhaus und Schule und Gemeinde miteinander tun können, um unsere Jugend auf diese Aufgaben vorzubereiten. Weil es um die Einübung in diese Aufgaben geht, an denen Christen und Marxisten zusammen arbeiten müssen, ist ideologische Intoleranz, Bedrängung und Verletzung der Gewissen rückständig und zukunftsgefährdend. Wir bitten alle christlichen Eltern, das Gespräch und die Zusammenarbeit mit Lehrern und Schulen zu suchen, damit in allen Spannungen Wege gefunden werden, wie wir die Verantwortung für die Jugend miteinander statt gegeneinander wahrnehmen und die Jugend in ihre Verantwortung für die Welt von morgen hineinführen können.«76
Die offene Diskriminierung, die nachweisliche Benachteiligung einzelner Kinder hat in den letzten anderthalb Jahren nachgelassen. Staatsvertreter haben einzelne Fälle bereinigt und den Kirchenleitungen offiziell versichert, dass auch im Bildungsbereich Christen gleichberechtigt sein sollen. Aber der atmosphärische Gegenwind gegen den christlichen Glauben und das Bekenntnis dazu ist weiterhin vorhanden. Im April 1976 stellte Bischof Schönherr öffentlich dazu fest, »dass christlichen Eltern häufig der Rat gegeben wird, um der Zukunftsaussichten ihrer Kinder willen, diese aus dem kirchlichen Unterricht abzumelden. Leider genügt solche Andeutung bereits, um die Zahl von Christenlehre- und Konfirmandenunterricht noch mehr absinken zu lassen. Und leider täuschen auch solche behutsameren Methoden nicht darüber hinweg, dass ein junger Mensch, der sich zum Evangelium bekennt, als weltanschaulich und damit auch als wissenschaftlich defekt angesehen wird.«77
Die Kirchen sind sich klar darüber, dass der Grundwiderspruch zwischen dem staatlichen Erziehungsziel und dem christlichen Glauben nicht aufgehoben werden kann. Sie sehen es aber als Aufgabe der sozialistischen Gesellschaft an, diese Spannung nicht einseitig zu lösen, sondern sie gleichsam dialektisch auszuleben, und damit Toleranz einzuüben. Bischof Fränkel sagte ebenfalls im Frühjahr 1976: »Was wir als Christen und Kirche gerade auch aufgrund der Ergebnisse von Helsinki unserer Gesellschaft zumuten müssen, ist, dass das Erziehungsziel einer Gemeinschaft wahrhaft sozialistischer Persönlichkeiten nur unter Ausschluss administrativer Mittel der Macht angestrebt werden darf, die unaufhebbare Spannung zwischen diesem Ziel und der vollen Glaubens- und Gewissensfreiheit ausgehalten und damit die Koexistenz der Menschen durchgehalten werden. Ich darf wohl der von mir vertretenen Weltanschauung die Macht zutrauen, dass sie sich durchsetzt. Ich darf sie aber nicht mit Macht durchsetzen wollen; damit würde ich die in Helsinki erklärte Einheit von Frieden und Menschlichkeit preisgeben.«78
Seit Jahren bemühen sich die evangelischen Kirchen, nicht nur Gelegenheit zu erhalten, Einzelbeschwerden beim Staat vorzubringen, sondern ein Grundsatzgespräch mit dem Volksbildungsministerium zu führen, um diese Fragen zu klären. Bisher hat sich der Staat zu einem solchen Gespräch nicht bereitgefunden.
Ich weiß nicht, meine sehr verehrten Damen und Herren, ob ich Ihnen bisher viel Neues habe erzählen können. Alles, was ich vortragen konnte, ist ja schon oft publiziert worden. Neues kann ich Ihnen auch nicht über den Pfarrer Oskar Brüsewitz sagen, der sich am 18. August 1976 vor der Michaeliskirche der Kreisstadt Zeitz im Talar öffentlich verbrannt hat. Der Hergang ist bekannt, die Wirkung auch: Der Tod von Brüsewitz hat als aufrüttelndes Zeichen gewirkt, hat in West und Ost die Frage nach den Möglichkeiten des Christenseins in der DDR, nach den Aufgaben der Kirche dort neu aktuell werden lassen.
Der Selbstverbrennungstod in Zeitz war, obgleich sich Brüsewitz weder in seinen Abschiedsbriefen noch sonst eindeutig interpretiert hat, ganz gewiss keine Verzweiflungstat eines krankhaft Geltungssüchtigen. Er war als äußerste, letzte Warnung gemeint und offenbar seit längerem überlegt und vorbereitet. Wegen des raschen Herganges – die Polizei war fast unmittelbar nach dem Aufzüngeln der Flammen zur Stelle – kann sich keiner der Zeugen genau erinnern, was auf den Plakattafeln gestanden hat, die Pfarrer Brüsewitz aufgestellt hatte, bevor er sich das Leben nahm. Die Tafeln sind wahrscheinlich verbrannt. Sicher bezeugt ist79 nicht ihr Text, nur ihre Tendenz: Die Kirchen klagen den Kommunismus an, der die Jugend verdirbt.
Oskar Brüsewitz wollte mit seinem Tod sprechen, wollte unüberhörbar etwas mitteilen, was er mit Worten offenbar so nicht sagen konnte, dass dem Angeredeten kein ausweichen mehr möglich war. Und es ist ihm gelungen, aufzurütteln. Nur – und darüber bitte ich gerade westdeutsche Christen, sich Rechenschaft abzulegen – : Über den Inhalt und die publizistische Verwertung des von ihm gesetzten Zeichens verfügte er nicht. So ist ihm sein Tod von vielen genommen, entfremdet genutzt und auch vermarktet worden.80
Die Tat von Brüsewitz ist durch westliche Publikationsmittel weit bekannt gemacht worden.81 Die Nachricht hat sich dann wie ein Lauffeuer in der DDR verbreitet. Unlösbar verzahnt mit ihr lief die erste Interpretation mit: Protest gegen den Kommunismus, seinen Totalanspruch auf die Jugend, deren Erziehung zum Hass. Brüsewitz wurde in der weiteren Interpretation zum Opfertod, zum Märtyrersterben gegen das System, zum Zeugnis dafür, dass Menschen in der DDR als Christen nicht leben können, ohne von der Gesellschaft den Stempel der Geisteskrankheit aufgedrückt zu bekommen.
Tatsächlich82 ist sein Tod jedoch nicht so einfach und klar zu deuten. Ein aktueller politischer Anlass für seine Tat ist zum Beispiel nicht nachweisbar und von ihm nicht genannt worden. Der kurz vorher gelaufene SED-Parteitag88 hatte keine Verschärfung der kirchenpolitischen Situation gebracht, eher im Gegenteil, auch wurde die Erziehung der Jugend zum Hass und die Diskriminierung christlicher Kinder entgegen vielen Behauptungen in diesem Sommer 1976 nicht verschärft. Die Situation, auf die Brüsewitz reagierte, bestand schon seit Jahren.
Es scheint mir deshalb wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, wie der Tod von Brüsewitz in den christlichen Gemeinden der DDR und von Kirchenleitungen und Synoden interpretiert worden ist. Und hier zeigt sich, dass er vor allem nicht so sehr als letzter verzweifelter Protest gegen den Staat und den Kommunismus angesehen wird, sondern als unüberhörbarer Mahnruf an die Kirche in diesem Staat und dieser Gesellschaft.
Die Magdeburger Kirchenleitung, die für Brüsewitz zuständig und verantwortlich war, sagte das bereits in ihrem ersten »Wort an die Gemeinden«, formuliert, als Brüsewitz noch im Krankenhaus mit dem Tode rang: »Wir wissen, dass Bruder Brüsewitz sich in seinem Dienst als Zeuge Gottes verstand, auch mit manchen ungewöhnlichen Aktionen. Selbst mit dieser Tat wollte84 er auf Gott als den Herrn über diese Welt hinweisen. Er war getrieben von der Sorge, dass unsere Kirche in ihrem Zeugnis zu unentschlossen sei.«85
Damit hat Brüsewitz gleichsam ein Stoppsignal gegeben, zur Überprüfung aufgefordert, was es mit der Kirche im Sozialismus, ihrer Glaubwürdigkeit und Standhaftigkeit auf sich hat. In der gesamten DDR kam die kirchliche Diskussion darüber neu ingang. Die verdrängten Enttäuschungserlebnisse, die Bitterkeit über tatsächlichen oder vermeintlichen Zwang zur Anpassung, das Misstrauen gegenüber den Kirchenleitungen, von deren Kirchenpolitik man zu wenig weiß, der Zorn über den häufigen Kleinkrieg mit Partei und Behörden – alles, was sich seit Jahren bei vielen Pfarrern und Laienchristen angestaut hatte, brach nun hervor, entlud sich in Briefen an Kirchenleitungen und in leidenschaftlichen Diskussionen bei eigentlich jeder kirchlichen Zusammenkunft.
Ich muss darauf verzichten, hier Einzelheiten zu schildern. Stattdessen will ich versuchen, eine Erkenntnis zu formulieren. Es ist die Erkenntnis, dass es in der Kirche, in den christlichen Gemeinden der DDR bisher nicht nur eine, sondern mehrere Antworten auf die Situation gibt. Wegen der mangelnden publizistischen Diskussion in der DDR war das in der Vergangenheit nicht jedermann klar geworden. Ich sehe, ganz kurz gezeichnet, folgende Konzepte:
Brüsewitz selber wird als Repräsentant jener Richtung eingeordnet werden müssen, die als Ziel christlicher Verkündigung nur die Überwindung der gegen Gott gerichteten Weltanschauung des Marxismus-Leninismus ansehen kann. Das ist die aktive Variante der wohl weiter verbreiteten Strömung des Rückzugs auf den kirchlichen Innenraum, des von den Weltläufen unberührten Festhaltens an der Wahrheit der Väter oder auch der neuen, auf die persönliche Frömmigkeit und Heiligung, ohne unmittelbaren gesellschaftlichen Impetus, gerichteten Erweckungsbewegung.
Dem gegenüber steht auf der extrem anderen Seite der Versuch, vor allem von Theologen in der DDR-CDU, der Situation mit einer neuen Form der Zwei-Reiche-Lehre zu begegnen: Christen erhalten Antrieb und sammeln Kräfte für gesellschaftliche Mitarbeit aus dem Evangelium und der Gemeinde. Ihre Motivation führt sie zum gesellschaftlichen Dienst. Was der Gesellschaft und damit den Menschen praktisch-politisch dient, ist nicht dem Evangelium zu entnehmen, sondern von der Führungskraft der Arbeiterklasse, der SED, zu lernen, nachdem einmal die Grundentscheidung der Parteinahme für das Volk im internationalen Klassenkampf gefallen ist.
Während so nur eine geringe, aber publizistisch sehr verstärkte Minderheit denkt, ist alles, was mit dem Stichwort »Kirche im Sozialismus« aus der Kirche selbst heraus bezeichnet wird, viel weiter verbreitet, im Einzelnen aber noch weiterhin ungeklärt und unerprobt. Es geht hier um den Ausgangspunkt: Annahme der Situation, Verzicht auf kirchliche Privilegien und Herrschaftsansprüche. Das Ziel aber sind positive inhaltliche Beiträge zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft als einer menschlicheren und gerechteren Gesellschaft, also damit gleichzeitig der Veränderung der gegenwärtigen. Die Formeln von der »kritischen Solidarität« oder der »konstruktiven und damit kritischen Mitarbeit der Christen« in der sozialistischen Gesellschaft gehören hierher.86 Innerhalb dieses Konzeptes gibt es sehr unterschiedliche Akzentsetzungen. Einmal ist mehr vom Sicheinlassen87 auf die politischen Strukturen des Sozialismus, die Spielregeln der DDR-Gesellschaft die Rede mit dem Ziel einer langsamen Veränderung im Sinne der Humanisierung durch sachbezogene Mitarbeit, durch88 Ja und Nein. Zum anderen wird stärker der Akzent auf die leidende Kirche89 des gekreuzigten Herrn gelegt, auf das Zeugnis im Leiden, dessen Wirkungen verborgen sind, aber von denen der Glaube weiß, dass sie kommen.
Die Leitung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR hat bereits mit einem vom 11. September datierten Brief an alle Gemeinden,90 der in der ganzen DDR in Gottesdiensten verlesen wurde, in der kirchlichen Presse aber nicht erscheinen konnte, versucht,91 den Diskussionsstand nach Brüsewitz zu fixieren und eine erste Hilfe (und gleichzeitig Selbstverpflichtung) zur Aufarbeitung zu geben. Die Synode des Kirchenbundes hat diesen Brief bestätigt und in Beschlüssen dazu weitergeführt. Ich glaube, ich kann zum Abschluss dieses Berichts über Kirche in der DDR nichts Besseres tun, als die Stimme der Kirche mit diesem Brief selbst zu Worte kommen zu lassen. Er lautet – etwas gekürzt – :
»Die Selbstverbrennung unseres Bruders Pfarrer Oskar Brüsewitz hat eine tiefe Beunruhigung ausgelöst. Erklärungen, Verleumdungen, Richtigstellungen, der Ruf nach Information haben viele in Atem gehalten. Im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR sind die Erklärungen der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen mit Zustimmung aufgenommen worden. …92
Wir alle sind betroffen. Aus dieser Betroffenheit werden Anfragen laut: an unsere Kirchen, ob in ihnen das Zeugnis von Jesus Christus nicht unentschlossen und ängstlich ausgerichtet wird; an die Kirchenleitungen, ob sie die tatsächlichen Sorgen und Nöte der Gemeinden, der Pfarrer und Mitarbeiter entschieden genug aufnehmen und vertreten; an Pfarrer, Mitarbeiter und Gemeinden, ob sie einander tragende Gemeinschaft gewähren; an staatliche Organe, ob Glaubens- und Gewissensfreiheit, besonders für junge Menschen, wirklich Raum bekommt; an die Behandlung des Vorganges in der Öffentlichkeit, wie sie zusammenstimmt mit Wahrhaftigkeit und der Würde des Menschen.
Über Anfragen und Anklagen darf die Klage zu Gott nicht verstummen, dass ein Bruder diesen Weg ging. Wir wissen nicht, was Bruder Brüsewitz letztlich zu dieser Tat getrieben hat, aber wir haben nicht seine Richter zu sein, sondern den Weg, den er gewählt hat, in Gottes Urteil stehen zu lassen. Gewiss ist, dass er ein Zeuge unseres Herrn Jesus Christus sein wollte.
… Die Tat von Bruder Brüsewitz und die Wirkungen, die sie auslöste, zeigen erneut die Spannungen, die durch unsere Gesellschaft gehen, und die Zerreißproben, in die viele gestellt sind. Es wird sichtbar, dass wir dem Leben in unserer Gesellschaft und unserer Kirche nicht dienen, wenn wir Probleme und Widersprüche verdrängen, statt an ihrer Lösung offen mitzuarbeiten. So haben wir dafür einzutreten, dass in unserer Gesellschaft Achtung und Respekt vor der Überzeugung des anderen das Zusammenleben und die Zusammenarbeit der Menschen wirklich prägen. Dazu gehört, dass Christen und Nichtchristen sich gegenseitig ernst nehmen als Partner im Bemühen um die Bewältigung der Probleme und Aufgaben in unserer Welt. Besonders dringlich ist, dass im einheitlichen sozialistischen Bildungssystem eine Atmosphäre des Vertrauens geschaffen wird und Kinder und Jugendliche ungekränkt als Christen leben können. Wir alle sind auch herausgefordert, eindeutiger und überzeugender als bisher unseren Kindern darin zur Seite zu stehen. Über die Regelung von Einzelfällen93 im Bildungssektor hinaus muss auch eine grundsätzliche Klärung im Ganzen erreicht werden. Das Gespräch über diese grundsätzlichen Fragen, um das wir bisher vergeblich gebeten haben, streben die Kirchenleitungen weiterhin an. Wir bitten Eltern und kirchliche Mitarbeiter, auch ihre Gesprächsmöglichkeiten weiterhin zu nutzen.
Durch die Tat von Bruder Brüsewitz sind unüberhörbar Fragen laut geworden, die unter uns nicht ausgetragen worden sind.
Viele Pfarrer, Mitarbeiter und Gemeindeglieder leiden unter dem Kleinerwerden der Gemeinden, unter Gleichgültigkeit und mangelndem Mut. Die großen Verheißungen der Bibel und die kleine Schar scheinen einander zu widersprechen. Dass die Wirkungen des Zeugnisses so oft verborgen sind, macht uns zu schaffen. Wir wollen diese Fragen gemeinsam und vor allem ehrlich voreinander austauschen und bedenken.
Angst und Resignation trüben uns oft den Blick für das, was wir tun können.
Wir haben immer noch nicht genügend Klarheit gefunden für das politische Zeugnis der Kirche und jedes einzelnen Christen in unserer Umwelt.
Viele empfinden einen tiefen Graben zwischen den Entscheidungen und Erklärungen der Kirchenleitungen und dem, was die Gemeinde wirklich braucht. Wir haben noch nicht gelernt, füreinander durchschaubar zu handeln und zu reden.
Wir hoffen, dass die Spannungen in unseren Kirchen, die wir jetzt durchstehen müssen, uns zu neuer Gemeinschaft untereinander führen. Wir können offen miteinander umgehen. Wir brauchen uns unserer Schwächen voreinander nicht zu schämen. Wir dürfen uns den Zusagen Gottes anvertrauen. So werden wir uns gegenseitig zu Schritten der Hoffnung ermutigen. …«
Der Brief geht noch einen Absatz weiter. Ich schließe bewusst da, wo von Hoffnung die Rede ist.94