Westdeutsche Pressemeldungen zum übergesiedelten Lehrer Nitsche (2)
[ohne Datum]
Information Nr. 211a/77 über weitere Überprüfungsergebnisse zu den in der Westpresse erfolgten Veröffentlichungen über Dr. Nitsche (Information Nr. 207/77 des MfS vom 2.4.1977)
Die weiteren Überprüfungen des MfS zu den in der Westpresse erfolgten Meldungen über Dr. Nitsche ergaben:
Dr. phil. Nitsche, Hellmuth, wurde im Februar 1946 Mitglied der KPD/SED. Er war von 1948 bis 1950 als Mittelstufenlehrer in Jena tätig und studierte während dieser Zeit Germanistik und Kulturwissenschaften. Danach nahm er eine Tätigkeit als wissenschaftlicher Assistent und Lektor an der Karl-Marx-Universität Leipzig auf. In den Jahren 1954 bis 1956 war er als Dozent an der Universität Peking/VR China eingesetzt.1
Nach erneuter Tätigkeit an der Karl-Marx-Universität in Leipzig war er von 1959 bis 1964 Dozent an der Hochschule der Gewerkschaften in Bernau. Aus dieser Zeit liegen Hinweise vor, dass er ideologische Unklarheiten hatte, unmarxistisch an literatur-theoretische Fragen heranging und im starken Maße kleinbürgerlich auftrat. Darüber hinaus gab es Erscheinungen eines ausgeprägten Geltungsbedürfnisses und querulantenhafter Verhaltensweisen.
Im Jahr 1966 wurden Nitsche und seine Ehefrau im Auftrag des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen der DDR (MHF) zu einem langfristigen Auslandseinsatz im Kultur- und Informationszentrum der DDR2 in Kairo/Ägypten eingesetzt. Bereits 1967 musste Nitsche jedoch wegen »politischer Unzulänglichkeiten« wieder abberufen werden. Er hatte in Kairo durch sektiererisches Auftreten und Verhalten die einheitliche Auslandspropaganda durch das Kultur- und Informationszentrum der DDR erheblich erschwert und gefährdet. Von 1967 bis 1970 wurden Nitsche und seine Ehefrau durch das MHF nach der VR Ungarn delegiert, wo sie an der Universität in Debrecen tätig waren. Während dieser Zeit verfasste er zwei Artikel, in denen er Teilbereiche der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR angriff. In der daraufhin am 16.9.1970 durch das MHF geführten Aussprache wurde Nitsche aufgefordert, einige Grundfragen der marxistisch-leninistischen Literaturtheorie intensiv zu durchdenken und seine in den Artikeln bezogenen Positionen zu überprüfen. Eine offene prinzipielle Klärung der Probleme erfolgte mit ihm offensichtlich nicht.
Bis 1971 war Nitsche einige Zeit als redaktioneller Mitarbeiter beim Fernsehen der DDR und im Bereich Internationale Beziehungen im MHF beschäftigt. Im September 1971 nahm er eine Tätigkeit im Lehrgebiet Marxismus-Leninismus – Deutsch/Kulturpolitik an der Fachschule für Ökonomie Rodewisch, Außenstelle Berlin (Sitz Humboldt-Universität), auf. Diese Tätigkeit betrachtete er als »unter seinem Niveau« liegend. Von 1973 bis 1976 war er Sekretär der GO dieser Außenstelle.
Im September 1974 richtete Nitsche ein Schreiben an den Generalsekretär des ZK der SED, Genossen Honecker, in welchem er um Prüfung seines Wiedereinsatzes als Hochschulkader ersuchte. Am 29.10.1974 fand im MHF eine diesbezügliche Aussprache statt, wo Nitsche mehrere Angebote, an Hochschulen beruflich wirksam zu werden, unterbreitet wurden, so u. a. an der Technischen Hochschule Magdeburg, der Hochschule für Film- und Fernsehen der DDR, der Technischen Universität Dresden und der Ingenieurhochschule Seefahrt/Wustrow. Ein Teil dieser Einrichtungen lehnte eine Einstellung des Nitsche ab, während seinerseits auch Angebote ausgeschlagen wurden.
Am 1.7.1976 stellte Nitsche gegenüber der Abteilung Wissenschaften im ZK der SED telefonisch demonstrative Forderungen hinsichtlich der Wiedererlangung seiner Professur und der materiellen Rehabilitierung für den Zeitraum der letzten 10 Jahre. (Die durch das MHF 1965 erfolgte Übertragung einer außerplanmäßigen Professur war ihm als zeitweilige Maßnahme im Zusammenhang mit seinem Auslandseinsatz zur »Erhöhung des Ansehens der DDR im Ausland« bekannt.) In diesem Zusammenhang fanden mit ihm am 3.8.1976 Aussprachen im MHF und – auf eigenen Wunsch des Nitsche am gleichen Tag – vor der ZPKK statt, wo seine Forderungen zurückgewiesen wurden. Nitsche war mitgeteilt worden, dass seine Abberufung vom Auslandseinsatz in seinem eigenen politischen und ideologischen Fehlverhalten begründet lag.
Die Ergebnisse der Überprüfungen zu Nitsche lassen erkennen, dass er niemals überzeugter Kommunist war, Auffassungen von Ernst Bloch und Georg Lukács vertrat, mit allen Mitteln einen bürgerlichen Lebensstil anstrebte und persönliche Interessen über die der Gesellschaft stellte. Er erlag der politisch-ideologischen Diversion des Gegners und wurde zum Feind der DDR und der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Dabei verstand er es, sich durch philosophische Verbrämung seiner Ansichten zu tarnen.
Die Ehefrau des Nitsche – er ist in dritter Ehe verheiratet – nahm zunächst eine positive Entwicklung. Fortschreitend vertrat sie jedoch ebenfalls bürgerliche Auffassungen, fühlte sich »zu Höherem« berufen, und sie ist bereit, für ein bürgerliches Leben und eine angenehme Stellung unter »beliebigen gesellschaftlichen Verhältnissen« zu leben.
Aus dieser feindlich-negativen Einstellung heraus erklärte Nitsche am 5.8.1976 beim ZK der SED seinen Austritt aus der Partei. (Parteiausschluss erfolgte am 30.8.1976) Zum gleichen Zeitpunkt stellte er demonstrativ für sich, seine Ehefrau und seine zwei Kinder ein Ersuchen auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR und Übersiedlung nach der BRD bei der Abteilung Inneres des Rates des Stadtbezirkes Berlin-Mitte. Das Ersuchen wurde abgelehnt.
Bis zum 24.1.1977 wurden von Nitsche hartnäckig weitere fünf rechtswidrige Ersuchen an die Abteilung Inneres und an den Minister des Innern gerichtet. Am 10.9.1976 wurde das Arbeitsrechtsverhältnis des Nitsche durch die Fachschule für Ökonomie Rodewisch im Zusammenhang mit seinen feindlich-negativen Aktivitäten zur Erlangung der Übersiedlung gelöst.
In den rechtswidrigen Ersuchen auf Übersiedlung und Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR führen Nitsche und dessen Ehefrau als Begründung – neben der häufig zitierten UNO-Charta für Menschenrechte – an,
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sie seien »jahrelang in der DDR beruflich und politisch diskriminiert« worden und forderten ihre Rehabilitierung;
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sie hätten die Erkenntnis gewonnen, dass ihnen in diesem Staat niemals »Recht« widerfahren werde.
Die Ehefrau des Nitsche, Lehrerin an der 12. Oberschule Berlin-Mitte, mit der am 25.8.1976 durch den Stadtbezirksschulrat Berlin-Mitte eine Aussprache durchgeführt wurde, distanzierte sich nicht von den rechtswidrigen Ersuchen auf Übersiedlung, obwohl sie selbst aussagte, dass die von ihr geschriebene Begründung bezüglich einer angeblichen beruflichen, politischen und persönlichen »Diskriminierung« nicht zutreffend sei.
Gegen die Ehefrau des Nitsche wurde auf der Grundlage des »Gesetzes über das einheitliche sozialistische Bildungssystem vom 25.2.1965«3 sowie der »Verordnung über die Pflichten und Rechte der Lehrkräfte und Erzieher«4 ein Disziplinarverfahren eingeleitet und ihre fristlose Entlassung ausgesprochen.
Beachtung verdient in diesem Zusammenhang eine enge freundschaftliche Verbindung des Nitsche mit Dr. phil. [Name 1, Vorname 1], geb. am [Tag] 1938, wohnhaft: 1193 Berlin, [Adresse], zuletzt (September 1974 bis 17.3.1977) wissenschaftlicher Oberassistent im Institut für Philosophie der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, seit dem 17.3.1977 ohne Arbeitsrechtsverhältnis (Aufnahme der ihr vermittelten Arbeit im VEB EAW Treptow erfolgte bisher nicht), übt stundenweise Tätigkeit an der Volkshochschule Berlin-Friedrichshain aus, und deren Schwester Dr. [Name 1, Vorname 2], geb. am [Tag] 1935, gleiche Wohnanschrift, zuletzt Lehrer für Marxismus-Leninismus an der Fachschule für Ökonomie Rodewisch, Außenstelle Berlin, gegenwärtig ohne Arbeitsrechtsverhältnis.
[Name 1, Vorname 2] hatte an der o. g. Außenstelle unter dem Einfluss von Nitsche sich parteischädigend verhalten und den Nitsche gedeckt. [Name 1, Vorname 1] hatte sich seit Anfang 1976 unzulässigerweise in Angelegenheiten der Parteiarbeit und Leitungstätigkeit der o. g. Außenstelle eingemischt und eine Reihe von Genossen ungerechtfertigt beschuldigt. Mehrere Aussprachen, in denen ihr die Schädlichkeit ihres Verhaltens aufgezeigt wurde, blieben ohne Erfolg. Hinzu kommt, dass sie die ihr übertragenen Aufgaben nicht erfüllte. Wegen Eigenmächtigkeiten, unerlaubten Fernbleibens von der Arbeitsstelle, Nichterfüllung dienstlicher Aufträge und lügenhaften Verhaltens wurde sie zur Verantwortung gezogen (Unterlagen befinden sich bei der Kaderkommission des ZK der SED). Sie erklärte ihre Absichten, um Übersiedlung aus der DDR zu ersuchen. Sie hat inzwischen Verbindung zur Ständigen Vertretung der BRD in der DDR aufgenommen.
Am 1. März 1977 schrieb Nitsche den bereits erwähnten Brief an den Präsidenten der USA, der verleumderischen Charakter trägt. In der Westpresse vom 5.4.1977 (»Morgenpost«, »BZ«, »Die Welt«) werden verleumderische Passagen dieses Briefes veröffentlicht, so u. a.,
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die Familie wurde systematisch »ausgehungert«,
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wer in der DDR seine eigene Meinung äußere, wer sich auf die Menschenrechte oder die KSZE5 berufe, werde »fristlos entlassen«,
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»Verleumdung, Ächtung und Ausbürgern« seien in der DDR die gängigen Methoden, um Forderungen nach Gewährung von Menschenrechten endgültig zu »ersticken«.6
Wie intern und zuverlässig bekannt wurde, unternimmt gegenwärtig besonders der Springer-Inlandsdienst aktive Anstrengungen, mit Veröffentlichungen aus den von Nitsche verfassten und den Organen der BRD und Westberlin vorliegenden Materialien (ca. 130 Seiten) die Hetzkampagne gegen die DDR weiter zu verstärken. Nitsche habe dazu sein »Einverständnis« gegeben.
Hinsichtlich des weiteren Vorgehens und im Interesse der Herbeiführung einer Entscheidung zu Nitsche wäre es zweckmäßig, das bei der ZPKK und KPKK Berlin-Mitte vorliegende Material, insbesondere zu den mit Nitsche erfolgten Aussprachen und zum Verfahren über den Parteiausschluss, zur Auswertung mit zur Verfügung zu stellen.
Es wird als notwendig erachtet, gegen Nitsche und dessen Ehefrau ein Ermittlungsverfahren gemäß § 220 StGB – Staatsverleumdung –7 einzuleiten, sie zu den von ihnen begangenen feindlich-negativen Handlungen zu vernehmen und eine Durchsuchung der Wohnung vorzunehmen mit dem Ziel, strafrechtlich verwertbare Beweismittel (bisher vorliegende Materialien wurden intern beschafft und können offiziell nicht verwandt werden) sicherzustellen.
In Abhängigkeit vom Ergebnis dieser Maßnahmen könnte in Erwägung gezogen werden, das Ermittlungsverfahren gegen Nitsche mit Haft weiterzuführen. Von besonderer Bedeutung wäre dabei die Erarbeitung exakter strafrechtlicher Beweise, vor allem die Sicherstellung der von ihm verfassten Hetzmaterialien (die bisher nur intern vorliegen), zur Ausschleusung dieser Hetzmaterialien nach der BRD und Westberlin zum Zwecke der Organisierung einer Hetzkampagne gegen die DDR sowie zu den Verbindungen des Nitsche zu feindlichen Organisationen und Einrichtungen.
Dabei könnte in Betracht gezogen werden, das Ermittlungsverfahren gegen die Ehefrau des Nitsche unter Berücksichtigung des Vorhandenseins der Kinder – soweit nicht andere Gründe dem entgegenstehen – ohne Haft durchzuführen.
Bei einer Entscheidung, Nitsche und dessen Ehefrau die Übersiedlung zu genehmigen und sie aus der Staatsbürgerschaft der DDR zu entlassen, wäre zu beachten, dass im Ergebnis einer solchen Entscheidung auch rechtswidrige Ersuchen auf Übersiedlung der anderen genannten Personen nicht auszuschließen sind und ein ähnliches Vorgehen wie durch Nitsche zur Erreichung der Übersiedlung praktiziert werden könnte. Mit hoher Sicherheit ist auch davon auszugehen, dass Nitsche – sofern einer Übersiedlung zugestimmt würde – sich aufgrund seiner feindlichen Einstellung zur sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR fest in das System der feindlichen Organisationen und Einrichtungen und der von diesen ausgehenden Angriffe gegen die DDR und andere sozialistische Staaten integrieren würde.