Aktivitäten und Publikationen Robert Havemanns
10. April 1981
Information Nr. 182/81 über Haltung und Aktivitäten von Robert Havemann
Streng vertraulichen Hinweisen zufolge habe Robert Havemann1 in individuellen Gesprächen zum Ausdruck gebracht, dass er nicht vorhabe, sich zum X. Parteitag der SED2 zu äußern. Er hätte in der gegenwärtig komplizierten Situation nicht die Absicht, sich in irgendwelche aktuellen Belange einzumischen. Es sei »sinnlos« jetzt kritische Standpunkte zu behandeln.
Havemann habe weiter betont, für ihn existierten weder die SED noch der X. Parteitag. Deshalb könne er sich auch noch nicht festlegen, ob er überhaupt Materialien des Parteitages lesen würde. »Diese SED« habe mit einer politischen Partei nichts mehr zu tun; sie sei nur ein »Überwachungsorgan«, das zur Kontrolle von Leuten geschaffen sei, die Staatsfunktionen übernehmen. Das Politbüro, dessen Mitglieder nicht arbeiten würden, sei nur an der »Erhaltung seiner Macht« interessiert.
Weiteren internen Hinweisen zufolge informiere sich Havemann intensiv über die Lage in der VR Polen und äußere sich in individuellen Gesprächen dazu. Er habe betont, in »Neues Deutschland« dazu erfolgte Veröffentlichungen würden »Verdrehungen« beinhalten und nicht immer den Tatsachen entsprechen. Es sei eine ernste Lage entstanden, die im Falle eines Truppeneinmarsches das Ende unseres Sozialismus bedeuten würde. Ob Wałęsa,3 der einer Konfrontation ausweichen möchte, seinen Standpunkt durchsetzen könne, wäre noch nicht abzusehen. Havemann wünsche es ihm jedoch. Kania4 stehe dagegen – laut Havemann – »allein auf weiter Flur«, wolle aber auch keinen »Einmarsch«.5 Neben der Anwendung wirtschaftlicher und politischer Maßnahmen wäre nach Einschätzung von Havemann auch ein unrechtmäßiges militärisches Eingreifen der USA im Falle eines »Einmarsches« der sozialistischen Armeen in der VR Polen nicht auszuschließen. Er rate zum Abwarten und wünsche, dass keine der beiden Seiten »den Kopf verliert«.
Nach wie vor vertritt Havemann den Standpunkt, dass »die Wirtschaftskatastrophe« in der VR Polen nicht auf Streiks der Arbeiter zurückzuführen, sondern eine »Errungenschaft« der Partei und Regierung sei.6 Die entstandene Lage sei darauf zurückzuführen, dass sich die Arbeiter ihrer Kraft und Macht bewusst geworden wären, worin sich ihr hochentwickeltes Bewusstsein ausdrücke. Die erreichten Ergebnisse wären zu begrüßen, würden jedoch nicht von Dauer sein.
Die Rede des Genossen Kania auf dem 9. Plenum des ZK der PVAP7 bezeichnete Havemann als »inhaltslos«. Er rechne mit einem »noch kommenden Dilemma« in Polen. Im Zusammenhang damit hätte er »viele Gespräche« mit DDR-Bürgern geführt und sei mit ihnen einer Meinung, dass sich ähnliche Ereignisse in der DDR nicht entwickeln könnten. Bereits am ersten Tage würden unsere Staatsorgane mit aller Gewalt »eingreifen«, sodass es »sinnlos« wäre, überhaupt etwas zu planen. Er habe feststellen können, dass im sozialistischen Lager die Ereignisse in Polen »weitgehend totgeschwiegen« würden.
Dem MfS wurde weiter bekannt, dass am 19.4.1981, 22.00 Uhr, im RIAS ein Interview mit Havemann ausgestrahlt werden soll. Nach eigenen Angaben Havemanns im internen Kreis handele es sich dabei um eine Buchbesprechung des von ihm unter dem Titel »Morgen – die Industriegesellschaft am Scheideweg – Kritik und reale Utopie« im R. Piper und Co. Verlag, München 1980, herausgegebenen Buches. Er habe eine Lesung aus dem Abschnitt V über »Utopie und Hoffnung« vorgenommen und zu einzelnen Passagen Erläuterungen gegeben. Aktuelle Bezüge wären von ihm mit Absicht weggelassen worden, weil ihm dafür weder die Zeit noch die gegenwärtige Situation als geeignet erscheine.
Wie Havemann intern äußerte, sei das Interview bei ihm »von RIAS- und ›Stern‹-Leuten« gemacht worden. (Überprüfungen erbrachten keine Hinweise auf Besuche vom RIAS bei Havemann. Bub und Schmitt vom »Stern« hielten sich letztmalig am 13.2. und 14.3.1981 bei Havemann auf.)
Weiteren Hinweisen zufolge sei Havemann enttäuscht darüber, dass ein von ihm im Februar 1981 für »Stern« verfasster Artikel bisher nicht veröffentlicht wurde. Unter der Überschrift »Ist Europas Untergang unabwendbar?«8 setze er sich mit der drohenden Kriegsgefahr auseinander und fordere den Abzug der Truppen der USA und der Sowjetunion aus Europa sowie »eine weitgehende Entmilitarisierung beider deutscher Staaten«. Das würde zugleich »über kurz oder lang die Wiedervereinigung Deutschlands zur Folge« haben.
Über diese Problematik, so betone Havemann in seinem Artikel, habe er viele Gespräche »mit ost- und westdeutschen Personen« geführt, die keine Gefahr einer Restauration des Kapitalismus in der DDR oder anderen sozialistischen Staaten sehen, »wohl aber Veränderungen von der Art des Prager Frühlings9 von 1968 oder solchen, wie jetzt in Polen«. (Der Wortlaut des Artikels, der streng vertraulich bekannt wurde, ist als Anlage 1 beigefügt.)
Gleichfalls intern wurde dem MfS bekannt, dass Havemann aus Anlass des 70. Geburtstages seines BRD-Verlegers Piper, Klaus10 (27.3.1911), einen Artikel zu dem Thema »Fragen nach dem Sinn des Begriffes Realismus«11 verfasste, auf dessen Veröffentlichung er gleichfalls noch warte. Dieser Artikel (dessen Wortlaut vertraulich bekannt wurde und als Anlage 2 beigefügt ist) hat eine theoretische Abhandlung des Begriffes Realismus in den verschiedenartigsten Bezügen zum Inhalt und lehnt diesen Begriff, auf die Kunst bezogen, als »entbehrlich« ab.
Darüber hinaus beinhaltet dieser Artikel massive verleumderische Angriffe gegen die Parteipresse und die sozialistischen Massenmedien, gegen Fragen der Macht im Sozialismus, gegen den Marxismus-Leninismus und die Parteiführung. Er gipfelt in Anfeindungen gegen den Generalsekretär unserer Partei, ohne den Namen des Genossen Honecker direkt zu nennen.
Streng vertraulich wurde dem MfS ein weiterer Artikel Havemanns mit dem Titel »Über die führende Rolle der Partei«12 bekannt, den er Ende 1980 für eine Veröffentlichung in der VR Polen verfasst hat und – nach bisherigen Feststellungen – über dritte Personen an Vertreter des KOR13 verbringen ließ. Darin betont er u. a. die »Verletzungen der Grundsätze des Sozialismus« durch die PVAP und die Gewerkschaften und versucht, die Aktivitäten von »Solidarność« als legitim zu rechtfertigen. Die Führung der PVAP habe inzwischen »eingesehen«, dass die Partei durch eigene Schuld die führende Rolle in der Gesellschaft verloren hat. Hinweise über eine erfolgte Veröffentlichung des Artikels sind bisher nicht bekannt. (Dieser Artikel ist als Anlage 3 beigefügt.)
Diese Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.
Mielke14
Anlage 1 zur Information Nr. 182/81
Robert Havemann: Ist Europas Untergang unabwendbar?
Ja, der Untergang Europas ist unabwendbar, wenn wir Europäer die mit Riesenschritten auf uns zukommende Gefahr nicht sehen und nicht sofort den einzigen uns noch gebliebenen Weg der Rettung einschlagen. Das zwischen Ost und West zerrissene Europa muss wieder zusammengefügt werden und muss sich wirtschaftlich, politisch und militärisch von den beiden rivalisierenden Supermächten unabhängig machen.
Die Teilung Deutschlands schuf die Voraussetzungen für die Entstehung der beiden mächtigsten Militärblöcke der Welt, der NATO und des Warschauer Pakts, durch die Europa in eine waffenstarrende Ausgangsbasis für einen Krieg zwischen den Supermächten verwandelt wurde. Dass wir diesen Krieg noch nicht hatten, beruht auf dem atomaren Patt, d. h. auf der Angst vor der gegenseitigen Vernichtung. Eine H-Bombe hat die Sprengkraft von Tausend Hiroshima-Bomben. Beide Supermächte können mit ihren Interkontinental-Raketen jeden Punkt im Land der anderen in 30 bis 40 Minuten mit einer Treffsicherheit von weniger als Hundert Metern mit einem nuklearen Sprengkopf belegen. Die Vernichtung unserer Zivilisation ist programmiert. Sie wird unweigerlich eintreten, wenn eine der beiden Supermächte das Patt zu ihren Gunsten aufhebt, sodass der sofortige präventive Atom-Schlag für die andere die letzte Möglichkeit ihrer Rettung geworden ist.
Die USA versuchen gegenwärtig das nukleare Patt durch Stationierung ihrer Pershing II und Cruise Missiles in den europäischen NATO-Staaten zu ihren Gunsten aufzuheben. Diese Waffen sollen in möglichst geringer Entfernung von den Grenzen der Sowjetunion stationiert werden, und zwar derart über den Globus verteilt, dass man auf einen Schlag sämtliche sowjetischen Interkontinental-Raketen und die wichtigsten militärischen Leitzentren in einem Zeitraum von 10 bis 15 Minuten nach Auslösung des Schlags vernichten kann. Weil die Sowjetunion dann wehrlos wäre, ist sie gezwungen, noch vor Vollendung dieses Plans sämtliche sie bedrohende Mittelstrecken-Raketen in den NATO-Ländern mit geeigneten Mitteln zu vernichten. Keine Phantasie reicht aus, sich die Formen des Grauens auszudenken, das dann über uns hereinbrechen wird. Europa, vom Atlantik bis zum Ural, wäre ein einziger Trümmerhaufen, verseucht und vergiftet durch die Unmassen an radioaktiver Spaltprodukte, die für lange Zeit dies Gebiet der Erde für Menschen unbewohnbar machen würden.
Dieser Untergang Europas kann verhindert werden, wenn es gelingt, durch Verhandlungen zwischen den beiden Seiten den sogenannten Nachrüstungsbeschluss der NATO aufzuheben. Bei diesen Verhandlungen, die im Prinzip im Brüsseler NATO-Beschluss bereits vorgesehen sind, wird es sich um Verhandlungen zwischen drei Gruppen von Partnern handeln: 1. den USA, 2. der Sowjetunion einschließlich einiger Verbündeter, und 3. den Staaten Europas. Ziel der Verhandlungen kann nur sein: Auflösung der Ost-West-Konfrontation in Europa durch Auflösung der NATO und des Warschauer Pakts, Entlassung ihrer Mitglieder aus der Hegemonie der Supermächte in politische Unabhängigkeit und Neutralität, Entfernung aller Atomwaffen von ihren Territorien, Abzug aller ausländischen Streitkräfte aus diesen Ländern und Auflösung aller ausländischen militärischen Einrichtungen und Stützpunkte.
Das erste Ziel, die Aufhebung des NATO-Beschlusses, kann erreicht werden, wenn beiden Seiten überzeugende Garantien ihrer Sicherheit gegeben werden. Die Sowjetunion fühlt sich von drei Seiten lebensgefährlich bedroht: Von Ost durch China, von Süden durch die drohende Errichtung amerikanischer Stützpunkte in Pakistan, am Persischen Golf und im Nahen Osten, von Westen durch die westeuropäischen NATO-Staaten. Wenn die USA und die Sowjetunion beide ihre Besatzungstruppen aus Europa abziehen und die Sowjetunion auch ihre Mittelstrecken-Raketen aus dem europäischen Teil ihres Gebiets abzieht, wäre dem Sicherheitsbedürfnis beider Seiten in Europa genüge getan.
Wenn es nicht das Problem der Existenz der beiden deutschen Staaten gäbe, wäre dies wahrscheinlich leicht zu erreichen. Die radikale Herabsetzung der militärischen Potenziale in Europa wäre dann nicht mit dem Risiko einer Veränderung des Kräfteverhältnisses zwischen Ost und West verbunden. Aber die Neutralisierung Europas erfordert eine weitgehende Entmilitarisierung beider deutscher Staaten. Die unvermeidliche Folge hiervon wäre über kurz oder lang die Wiedervereinigung Deutschlands.
Ich halte es für vernünftig anzunehmen, dass sich die Sowjetunion einer Wiedervereinigung Deutschlands unter diesen Bedingungen nicht widersetzen wird. Die definitive Absicherung ihrer westlichen Flanke und die damit verbundene außerordentliche Milderung der Konfrontation mit den USA werden ihr weit mehr Sicherheit geben, als es das Militärsystem des Warschauer Pakts gegenwärtig und besonders in Zukunft zu leisten vermag. Außerdem wäre das neutralisierte und dadurch wirtschaftlich enorm leistungsfähige West-Europa ein idealer Handels- und Kooperationspartner für die sowjetische Wirtschaft. Auch die strukturellen ökonomischen Veränderungen in der DDR würden sich im wiedervereinigten Deutschland nachhaltig auswirken.
Ich habe über dieses Thema viele Gespräche mit ost- und westdeutschen Partnern geführt. Viele meinten, selbst wenn die Sowjetunion einverstanden wäre, die USA würden diese Lösung niemals akzeptieren. Meine Gegenfrage: Können wir Europäer denn nicht einmal dann über unser Schicksal selbst entscheiden, wenn es um Leben oder Tod geht?
Meine linken Gesprächspartner konnten es sich nicht vorstellen, dass die Sowjetunion die DDR – wie sie meinten – preisgeben könnte. Die wenigsten rechneten damit, dass es dann in der DDR und anderen Ostblockstaaten zu einer Restauration des Kapitalismus kommen würde, wohl aber zu Veränderungen von der Art des Prager Frühling15 von 68 oder solchen wie jetzt in Polen. Aber gerade wegen dieser von ihrem Standpunkt sehr positiven Perspektive zweifelten sie umso mehr an der Bereitschaft der Genossen in Moskau, dies zu tolerieren.
Auch meine pro-kapitalistischen Gesprächspartner fühlten sich angesichts dieser Perspektive von sehr zwiespältigen Bedenken beunruhigt. Anhänger der CDU fürchten, dass in einem wiedervereinigten Deutschland keinerlei Chance für eine CDU-Mehrheit mehr vorhanden wäre. Sie rechneten auch mit einer enormen Stärkung der Position der Gewerkschaften und einer Zurückdrängung der Macht des Kapitals in der Wirtschaft. Aber mit dem Odium des Verrats an der Nation wollten sie sich auch nicht belasten. Wer könnte sich das schon leisten? Zum ersten Mal seit 1945 ist die Erhaltung des Friedens in Europa von der deutschen Wiedervereinigung nicht mehr bedroht. Zum ersten Mal können sich die Völker darin einig werden, dass nicht das geteilte sondern ein geeintes Deutschland für den Frieden in Europa unentbehrlich ist.
Anlage 2 zur Information Nr. 182/81
Fragen nach dem Sinn des Begriffs Realismus von Robert Havemann16
Indem ich mich der dialektischen Methodik bediene, beginne ich mit der Frage danach, was Realismus nicht ist. Denn was ein Ding ist und was ein Begriff meint, ist kaum zu erklären, wenn man nicht weiß, was es nicht ist und nicht mit ihm gemeint ist. Es ist also die Frage nach der Negation des Realismus.
Ganz zweifellos ist Realismus eine Beziehung zur Realität. Die Frage ist nun: Ist die Negation des Realismus keine Beziehung zur Realität oder ist sie eine Beziehung zu einer Irrealität, zu einer nicht wirklichen Welt, etwa einer ausgedachten, phantastischen, mystischen Welt, oder zu einer Täuschung über die wirkliche Welt, zu einer Welt also, die es nicht gibt und die anders ist – auf welche Weise auch immer – als unsere real existierende Welt. Es scheint dies jedoch auf einen Pleonasmus hinauszulaufen; denn eine Beziehung zu jeder Art Irrealität ist eben keine Beziehung zur Realität.
Betrachten wir zunächst die – wie ich meine fragwürdige – These, die Negation des Realismus sei eine Beziehung zu einer Negation der Realität. Hieraus ergeben sich zwei Fragen: 1. Sind in beiden Fällen (Realismus und Negation des Realismus) nur die Substrate, die Objekte der Beziehung, verschieden, – einmal Wirklichkeit, das andere Mal Nichtwirklichkeit, – oder ist auch der methodische Charakter dieser Beziehung von gegensätzlicher Verschiedenheit? 2. Besteht nicht zwischen Realität und Irrealität, zwischen der real existierenden Welt und jeder noch so phantastischen Traumwelt, doch eine unlösbare Beziehung? Einmal schon rein formal, indem die eine Welt nichts anderes sein kann, als die partielle oder totale Negation der anderen; dann aber auch inhaltlich, weil keine Traumwelt anders dargestellt werden kann als in den Formen, Gestalten und Begriffen, die wir auch der wirklichen Welt abstrahiert haben, selbst wenn sie bis auf elementare Strukturen und Gestalten reduziert sind.
Schon diese beiden Fragen zeigen, dass die Negation des Realismus sich nicht darauf zurückführen lässt, eine Beziehung zu einer Negation der Realität zu sein. Weil jede noch so irreale, phantastische, utopische, täuschende, – eben irreale Welt dadurch, dass sie Sinn und Attribute aus der wirklichen Welt bezieht, eben doch in einer sehr engen Sinn- und Form-Beziehung zur wirklichen Welt steht, ist auch jede Negation des Realismus – zwar auf ihre besondere Weise – doch auch eine Beziehung zur wirklichen Welt. Demnach wäre nicht das Substrat das wesentlich Verschiedene, sondern vielleicht die Form und Methode. Würde Realismus dann nur bedeuten, die Welt so darzustellen, wie sie wirklich ist? So einfach scheint es zu sein. Aber ich will versuchen zu widersprechen, indem ich die Frage stelle: Ist es überhaupt möglich, die Welt so darzustellen, wie sie wirklich ist?
Die Schwierigkeiten beginnen schon mit der einfachsten und wohl selbstverständlichen Voraussetzung: Um die Welt so darzustellen, wie sie wirklich ist, müsste es zumindest Menschen geben, die fähig sind die Welt so zu sehen und zu erkennen, wie sie wirklich ist, und die darum auch wissen, wie und was in dieser Welt geschieht. Doch wer hätte auch nur einen Schimmer Gewissheit, ein solcher Mensch zu sein. Ständig, auch in den einfachsten Zusammenhängen und Erscheinungen, sehen wir jeder die Welt anders, projizieren wir ihre Lichter und Schatten auf den Hintergrund der eng umgrenzten Höhle, von der aus wir mit der Welt kommunizieren. Das Bild der Wirklichkeit in uns und die Wirklichkeit um uns sind zwei wesensverschiedene Dinge. Die Wirklichkeit, die Außenwelt, existiert unabhängig von unserem Bewusstsein. Wir sind zwar selbst ein Teil davon, aber auch das ist unabhängig von unserem Bewusstsein. Aber das Bild der Wirklichkeit in uns ist keine einfache Widerspiegelung, sondern ist niedergeschrieben in den Formen und Strukturen der Sprache unseres Bewusstseins. Es liegt im Wesen des Bildes, dass es nicht mit dem Abgebildeten identisch sein kann, weil es erst entstanden ist, indem sich das Abgebildete in die schmiegsame Substanz unseres Bewusstseins einprägte.
Gesetz den Fall, es gäbe aber doch Menschen, deren Bewusstsein hochentwickelt und dabei so schmiegsam und formbar sei, dass sie fähig seien, die Welt zu sehen und zu erkennen, wie sie wirklich ist. Wie aber sollte ein solcher Mensch sie ohne jede Verfälschung, ohne jedes Weglassen und ohne jede künstliche Hinzufügung, ohne jede Erläuterung und Verallgemeinerung, ohne alles Zutun von etwas, das nicht bereits in ihr ist, darstellen und abbilden, so wie sie wirklich ist? Wozu auch sollte er dies unternehmen? Wozu sollte er versuchen, die Welt in ihrer Totalität im vollkommenen Bild zu reproduzieren? Und selbst wenn es überhaupt möglich wäre, dies vollkommene realistische Bild zustande zu bringen, es wäre – außer für den einen der es schuf – für uns anderen alle, deren Bewusstsein dazu nicht ausreicht, nicht weniger unerkennbar, nicht weniger verwirrend und undurchschaubar, wie die in ihm abgebildete Wirklichkeit selbst.
Da die Forderung, die Welt so darzustellen, wie sie wirklich ist, sich damit als sinnlos und unerfüllbar erweist, kann sie nicht das Ziel eines sinnvollen Realismus sein. Wenn der Begriff Realismus einen Sinn haben soll, müssen wir seine Aufgabe reduzieren. Wir müssen uns mit der Frage befassen, ob ein Realismus denkbar ist, der die Welt nicht so darstellt wie sie ist.
Es gibt zwei begriffliche Einschränkungen des Realismus, die viel diskutiert wurden: der kritische Realismus und der sozialistische Realismus. Beide stellen die Welt nicht so dar, wie sie wirklich ist. Als hervorragender Vertreter des kritischen Realismus gilt Bertolt Brecht. Unter den zahlreichen sozialistischen Realisten könnte ich keinen als hervorragenden Vertreter benennen. Dazu ist diese Richtung auch noch zu jung, während der kritische Realismus schon lange existiert und viele große Repräsentanten hat, auf dem Gebiet der Literatur wie auch auf dem der bildenden Künste und der Musik.
Die Methode des kritischen Realismus zielt darauf, die Wirklichkeit durchschaubar zu machen, indem ihre typischen Erscheinungen herausgehoben und womöglich bis an die Grenzen der Karikatur überzeichnet und sichtbar gemacht werden. Soweit ich erkennen kann, war der erste große und diese Bezeichnung wirklich rechtfertigende kritische Realist Molière. Das Ziel des kritischen Realismus ist also nicht die »naturgetreue« Abbildung der Wirklichkeit, sondern die Erzielung einer ganz bestimmten Wirkung beim Leser, Zuschauer, Hörer und Betrachter. Die Werke des kritischen Realismus sollen dazu befähigen, die in der verwirrenden Vielfalt zufälliger Erscheinungen schwer erkennbaren wesentlichen Zusammenhänge besser und leichter zu erkennen. Sie haben also einen aufklärerischen Charakter.
Das Ziel des sozialistischen Realismus wie auch seine Methode sind hiervon grundverschieden. Die Welt wird auch hier nicht geschildert, wie sie wirklich ist, sondern sie wird dargestellt, wie sie nach dem Wunsch des Autors sein soll. Diese ersehnte Welt wird aber nicht als noch unverwirklichte Utopie beschrieben, sondern so als sei sie bereits Wirklichkeit. Der sozialistische Realismus bezieht sich hauptsächlich auf die gesellschaftliche Realität in den Staaten des »real existierenden Sozialismus« und auf revolutionäre Kämpfe und Freiheitsbewegungen. Immer wird die Welt so dargestellt, als seien die erstrebten Ziele bereits weitgehend errungen, der Weg in eine glückliche Zukunft gesichert und die Vollendung auf dem einmal eingeschlagenen Weg durch historische Gesetzmäßigkeit gesichert. Alles Dunkle und Negative, alle Schatten und Unmenschlichkeiten werden meist direkt als Überreste aus bösen vergangenen Zeiten und als Versuche der Feinde der Revolution, den Lauf der Geschichte umzukehren oder aufzuhalten, hingestellt. Dass der eingeschlagene Weg falsch sei und negative Erscheinungen die Folge eigener schwerer Fehler sein könnten, kommt den sozialistischen Realisten nicht in den Sinn. Solschenizyns »Der Archipel Gulag«17 ist deshalb geradezu eine Negation des sozialistischen Realismus, kann aber auch dem kritischen Realismus nicht zugezählt werden, weil die in schonungsloser Härte dargestellte Realität ohne jede übertreibende Typisierung und ohne Rührseligkeit und praktisch ohne analysierenden Kommentar beschrieben wird. Das Entscheidende an diesem Buch ist die dargestellte Wirklichkeit selbst, und zwar gerade darum, weil sie nicht vom Autor erfunden wurde. Alle Konsequenzen aus dem Dargestellten werden dem Leser überlassen. Die Suggestivkraft des Faktischen ist so groß, dass jedes überflüssig hinzugefügte Wort sie nur abschwächen könnte. Darin liegt die Stärke, aber auch die große Gefahr dieser Art von Darstellung der Wirklichkeit. So notwendig es ist, die Barbarei unseres Zeitalters, wo und wie immer sie in Erscheinung tritt, ohne jede Beschönigung bloßzustellen, als alleiniger Zweck und Methode kann dies niemals genügen. Zu groß ist die Gefahr, auf diese Art, gewollt oder ungewollt, mithilfe der Wahrheit zu lügen. Um die Grausamkeiten der Lager wirklich zu erfassen, müssen wir mehr über die Menschen erfahren, die sie geschaffen haben, von den obersten Instanzen der politischen Hierarchie herab bis zu den letzten mitleidlosen Peinigern in den Lagern selbst. Zum Kampf gegen die Barbarei genügt es nicht, nur ihre Erscheinungsformen zu enthüllen. Wir müssen versuchen, von ihrem Äußeren in ihr Inneres vorzudringen, von der Erscheinung zum Wesen, von ihren Ursachen zu den Gründen, die sie hervorbrachten.
Weil diese Postulate den Realismus Solschenizyns von der Position des kritischen Realismus kritisieren, ist die Frage von Bedeutung, warum und wie mithilfe der Wahrheit gelogen werden kann. Das ist bekanntlich sehr leicht. Lässt man aus einer größeren Zahl wahrer Sätze die unwesentlichen weg, so tritt die Wahrheit deutlicher hervor. Lässt man aber die wesentlichen weg, so verwandelt sich der Rest leicht in eine Unwahrheit. Nach dieser Methode wird immer verfahren, je nachdem, ob man mehr Wahrheit oder mehr Unwahrheit für die Durchsetzung der eigenen Zwecke braucht. Man kann auf diese Weise gerade darum so leicht mit der Wahrheit lügen, weil dabei nirgends die Unwahrheit ausgesprochen wird. Sie bildet sich erst als Konsequenz im Bewusstsein des Lesers. Man rechnet mit einer bestimmten Struktur im Denken der Leser, mit einem bereits ideologisch determinierten Modell der Wirklichkeit in seinem Weltbild, das so beschaffen ist, dass die ausgewählten »Wahrheiten« zwangsläufig zu unwahren Schlussfolgerungen führen müssen. Alle Demagogie bedient sich dieser Methode. Stellt demnach der sozialistische Realismus etwa eine mögliche Form der Anwendung dieser Methode dar?
»Der sozialistische Realismus versteht sich als revolutionär kämpfende Kunst an der Seite der Seite der Arbeiterklasse und ihrer Partei.« So könnte eine Selbstdefinition dieser Kunst in der ihr gemäßen Sprache lauten. Wie aber will sie dieser außerordentlichen Aufgabe gerecht werden? Brecht formulierte: »Die sozialistisch-realistischen Künstler … stellen die Verhältnisse zwischen den Menschen so dar, dass die sozialistischen Impulse erstarken. Sie erstarken durch praktikable Einsichten in das gesellschaftliche Getriebe und dadurch, dass sie – die Impulse – zu Genüssen werden. … Die sozialistisch-realistischen Künstler haben nicht nur eine realistische Einstellung zu ihren Themen, sondern auch zu ihrem Publikum.« Sie »berücksichtigen Bildungsgrad und Klassenzugehörigkeit ihres Publikums sowie den Stand der Klassenkämpfe«. Sie »behandeln die Realität vom Standpunkt der werktätigen Bevölkerung und der mit ihr verbündeten Intellektuellen, die für den Sozialismus sind«. »Das Kriterium sollte nicht sein, ob ein Werk oder eine Darstellung andern Werken oder Darstellungen gleicht, die dem sozialistischen Realismus zugezählt werden, sondern ob es sozialistisch und realistisch ist.« (Bertolt Brecht, Werkausgabe Edition Suhrkamp, Bd. 19, Seite 548)18 Für Brecht unterscheiden sich die Werke des sozialistischen Realismus von anderen Werken des Realismus nur durch ihren Inhalt, nicht aber durch ihre Form und Methode.
Mit diesen Thesen versuchte Brecht seinen Standpunkt in der Formalismus-Realismus-Diskussion gegenüber den Parteiideologen zu behaupten, indem er sich selbst als sozialistischen Realisten definierte, weil er die schroffe Konfrontation für unfruchtbar hielt und weil er hoffte, durch formale Billigung des Begriffs ›sozialistischer Realismus‹ bei gleichzeitiger Umformung seines Inhalts der Partei helfen zu können, entschied er sich, wie in anderen Situationen auch, für diese Taktik des Entgegenkommens. Leider hat es so gut wie nichts genützt. Nach wie vor wird jedes Werk, das die inneren Widersprüche des realen Sozialismus offen und kritisch behandelt, als antisozialistisch diffamiert, während sich in der staatlich protegierten Kunst und Literatur ein Genre entwickelt hat, das das Leben unter den Fittichen der Partei nur von seiner besten Seite kennt und alle noch vorhandenen negativen Erscheinungen nur als Überreste aus der Vergangenheit begreift, die bald überwunden sein werden. Dieser »Realismus« befolgt exakt die Grundsätze der Agitation in der Parteipresse und den Massenmedien, wonach nichts sein kann, was nicht sein darf, und wonach jede Hervorhebung und Analyse der systemeigenen inneren Widersprüche als konterrevolutionäre Propaganda und ideologische Subversion verteufelt wird. Der real existierende sozialistische Realismus malt ein Bild des Lebens im real existierenden Sozialismus, das in schreiendem Kontrast zur Wirklichkeit steht. Dass diese Werke gerade deshalb den politischen Zweck, dem sie dienen wollen, total verfehlen und sich, wenn überhaupt, nur durch »Reize« des Sujets und der Story beim Publikum Interesse erschleichen können, dafür scheinen die zuständigen Genossen im Parteiapparat blind zu sein wie eh und je.
Ungeschmälert gelten in den Ländern des real existierenden Sozialismus die Thesen Schdanows: »Die Literatur hatte ›vorwärts zu blicken‹ – das hieß praktisch, nicht die sowjetische Welt beschreiben, wie sie wirklich war, sondern so, wie sie nach ideologischen Prämissen sein sollte.« (L. Kołakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus, Bd. 3, S. 138)19 Nach wie vor werden Schriftsteller, die diesen Grundsätzen des sozialistischen Realismus zuwider handeln, verfemt, aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, sogar in fingierten Verfahren gerichtlich zu hohen Geldstrafen verurteilt und durch Entziehung der materiellen Basis ihrer Existenz unter gleichzeitiger Androhung langjähriger Haftstrafen zum »freiwilligen« Verlassen des Landes gezwungen.
Der sozialistische Realismus ist sowohl historisch, das heißt nach dem Zeitpunkt seiner Entstehung als auch nach seinem Inhalt eindeutig ein Produkt des Stalinismus. Seine Funktion ist nicht die Aufdeckung der gesellschaftlichen Widersprüche und der Struktur der neuen Herrschaftsverhältnisse, sondern deren Verhüllung. In schreiendem Gegensatz zur Wirklichkeit wird von den gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Bedingungen im realen Sozialismus ein Bild der Harmonie und des revolutionären Aufschwungs gezeichnet. Die überwältigende Mehrheit des Volks, allen voran die Arbeiterklasse, erkämpft tagtäglich neue grandiose Siege im Kampf für den Aufbau das Sozialismus, erfüllt vom unerschütterlichen Vertrauen in die Partei der Arbeiterklasse und die von ihr geleitete Regierung mit dem obersten Genossen an der Spitze.
Wenn man »Ideologie« mit Marx als »falsches Bewusstsein« versteht, als eine Anschauung von der Wirklichkeit, in der in phantastischer Weise Wahrheit, Irrtum und Lüge gemischt sind, deren eigentliche Funktion aber darin besteht, die gesellschaftlichen Widersprüche und ihre inneren Zusammenhänge zu verhüllen, die gesellschaftliche Realität also undurchsichtig zu machen, weil die bestehende Ordnung anders auf die Dauer nicht bestehen kann, dann könnte man meinen, dass der sozialistische Realismus ein wesentlicher Bestandteil der »Ideologie« des realen Sozialismus ist. Aber der sozialistische Realismus hat es nicht einmal so weit gebracht und er konnte dies auch gar nicht, einfach deshalb, weil der reale Sozialismus selbst bisher noch keine ihm adäquate und im Marxschen Sinne funktionierende Ideologie zustande gebracht hat. Was an den Parteihochschulen und an den gesellschaftswissenschaftlichen Lehrstühlen der Universitäten und Hochschulen unter der irreführenden Bezeichnung »Marxismus-Leninismus« gelehrt wird, erfüllt die Kriterien des Marxschen Ideologiebegriffs keineswegs. Es handelt sich dabei nur um eine kanonisierte Parteidoktrin, die nicht einmal von ihren verbalen Verfechtern als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis ernst genommen wird. Den breiten Massen sind die Denkweisen dieser Doktrin ebenso fremd und ihre Behauptungen unglaubwürdig, wie ihnen alles, was den Stempel der Staatspartei trägt, von vornherein suspekt ist.
Die wenig beneidenswerte Rolle, die die Staatsdoktrin des realen Sozialismus im Leben der Gesellschaft spielt, die Tatsache, dass ihr jede Überzeugungskraft und scheinbare Evidenz ihrer wichtigsten Aussagen mangelt, besagt selbstredend nicht, dass wir es nun im realen Sozialismus mit einer Gesellschaft zu tun haben, die in erheblichen Maße frei von Ideologie ist. Gerade darum, weil der verballhornte und seines ursprünglichen Sinns weitgehend entleerte Marxismus der Parteidoktrinäre, unfähig, auch nur eine der vielen beunruhigenden Fragen der Zeit zu beantworten, es niemals vollbrachte, aus einer Idee der Herrschenden nun auch zur herrschenden Idee zu werden, konnten die Trümmer der alten Ideologien der bürgerlichen Gesellschaft ihren längst fälligen Untergang fast ungeschoren überleben und sich in den Anschauungen und Denkweisen der Menschen, die die Länder des realen Sozialismus bewohnen, in einem Ausmaß behaupten und an Überzeugungskraft gewinnen, weil es diese Ideologie nicht einmal in den Ländern der nachfaschistischen Restauration in Westeuropa zustande gebracht hat. Dort sorgte die erzwungene Rückkehr zur bürgerlichen Demokratie dafür, dass die barbarischen Bestandteile dieser Ideologie, die der Faschismus entfesselt und für seine Zwecke ausgenutzt hatte, nun verleugnet werden mussten, obwohl sie doch in Wahrheit originale Elemente dieser Ideologie bildeten. So ist der Rassismus mit allen seinen unmenschlichen Konsequenzen tief in der bürgerlichen Ideologie verwurzelt, wo er nichts anderes darstellt, als die biologistische Erklärung und damit Rechtfertigung der sozialen Hierarchie. Die Reichen, die Da-Oben, sind eben die biologisch Besseren, die von Geburt Klügeren, die zu Recht Führenden. So offensichtlich scheint es einem jeden zu sein, dass er seine Intelligenz wie auch seine Dummheit, seinen Charakter im Bösen wie im Guten mit den bei der Reduktionsteilung in der befruchteten Eizelle verbliebenen Genen seiner Eltern geerbt hat. Da aber in Wahrheit weder Intelligenz noch Charakter genetisch determiniert sind, kann man an der keinen Widerspruch duldenden Evidenz, mit der diese falschen Ansichten im Bewusstsein in Erscheinung treten, mit aller Deutlichkeit erkennen, dass es sich um Bestandteile einer echten Ideologie handelt, eben um »falsches Bewusstsein«.
Das ideologische Grundschema des Stalinismus ist ziemlich einfach: Die Arbeiterklasse hat die Expropriateure enteignet, alle Produktionsmittel vergesellschaftet und sich selbst zur herrschenden Klasse aufgeschwungen. Sie hat den bürgerlichen Staatsapparat vernichtet und an seiner Stelle ihren eigenen Staat geschaffen, dessen Stärkung und Festigung für den erfolgreichen Aufbau des Sozialismus entscheidend ist. Die Herrschaft der Arbeiterklasse wird konkret verwirklicht durch die Avantgarde der Klasse, die Partei. Diese führende Rolle der Partei ist die Form, in der in der sozialistischen Gesellschaft die Diktatur des Proletariats ausgeübt wird. Wer sie antastet oder auch nur in Zweifel zieht, ist ein Konterrevolutionär.
Es ist klar, dass es in diesem Schema einen Widerspruch zwischen der Partei und der Arbeiterklasse nicht geben kann. Jeder Feind der Partei ist auch Feind der Klasse. Das bedeutet aber auch, dass es keinen Widerspruch zwischen der Partei und ihrem Zentralkomitee, keinen Widerspruch zwischen dem Zentralkomitee und seinem Politbüro und last not least keinen Widerspruch zwischen dem Politbüro und seinem ersten Sekretär geben kann. Die ganze Macht der Klasse ist auf diese Weise von unten nach oben in die Person des einen großen Genossen delegiert. Er ist die Inkarnation aller Weisheit und Güte, aber auch unerbittlicher Wächter und Beschützer der Revolution. Diese Ordnung zu glorifizieren und zu rechtfertigen, zu zeigen, wie aus ihr nur Gutes und Positives hervorgehen kann und wie alles Schlechte und Negative nur das Werk von Feinden und Rückständigen sein kann, ist die Aufgabe des sozialistischen Realismus.
Mir scheint, nach allem bleibt als Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Begriffs Realismus nur die Frage, ob denn der Begriff Realismus überhaupt einen Sinn habe. Wenn man unter einem realistischen Kunstwerk eines versteht, das uns hilft, unsere Welt besser zu verstehen, das unsere Augen öffnet, um mehr von dieser Welt wahrzunehmen und tiefer in ihre Zusammenhänge einzudringen, das uns aktiviert, das unsere Fähigkeit, zu genießen wie auch zu leiden, nicht abstumpft, sondern entfacht, das uns ermutigt, den Streit nicht aufzugeben, in den wir uns eingelassen haben, weil wir die Welt verändern wollen, – dann müssen wir uns fragen, ob wahre Kunstwerke überhaupt je einen anderen Sinn hatten als diesen. Kann man demnach wirklich sagen, dass nur Kunstwerke dieser Art wahre Kunstwerke seien, was den Begriff des Realismus entbehrlich machen würde?
Gehen wir davon aus, dass Kunstwerke stets mehr sind als bloße Aussagen, dass sie zwar Bilder sind, die sich auf das durch sie Abgebildete beziehen ohne mit ihm identisch zu sein, aber dass sie keine Reproduktionen, sondern Neuschöpfungen sind, die für sich selbst, unabhängig, worauf sie sich in der Realität beziehen, selbstständige Realität sind. Das heißt aber, dass sie sich auch auf eine in jede Weise irreale Welt unserer Träume und Phantasien beziehen können. Könnten wir den Begriff Realismus also schließlich doch noch dadurch definieren, dass wir den realistischen Kunstwerken jene gegenüberstellen, die die Form der Wirklichkeit bewusst außer Kraft setzen und sich auf eine vom Künstler selbst geschaffene, irreale Welt beziehen und deren einzige Realität ihre eigene ist?
Aber so sehr wir uns auch danach sehnen mögen, der Realität dieser Welt zu entfliehen, wobei – unsere eigene Phantasie beflügeln – Bilder einer phantastischen und irrealen Welt und selbst Bilder in völlig nicht-gegenständlichen Formen, Gestalten und Arabesken, auch solche literarischer Art, die also aus Wörtern gebildet sind, uns sehr hilfreich sein können, – schließlich und endlich wird uns auch auf diesem Wege die Flucht nicht gelingen. Auch die Werke des Irrealismus beziehen sich auf die Realität, eben weil sie deren Negation sein wollen, die sie für sich selbst wohl auch zustande bringen können, die aber gerade darum auf schmerzhafte Weise die Ketten sichtbar und fühlbar machen, mit denen wir an sie gefesselt sind.
Weil alle Kunst Auseinandersetzung ist mit dem, was in uns ist und was das »In-Uns« formt, bedrängt, verunstaltet, quält, und auch, was es reich und glücklich und weise macht, ist Kunst in jeder Form immer Auseinandersetzung mit dem, was ist. Deshalb finde ich auf die Fragen nach dem Sinn des Begriffs Realismus schließlich keine andere Antwort als: Wir können diesen Begriff entbehren. Er verwirrt und führt zu gefährlichen Täuschungen über das Wesen der Kunst. Er ist aus der Gebrauchssprache von Kommis und Politikern entlehnt (Sie reden ja so gern davon, dass sie die Dinge realistisch betrachten!). In Fragen der Kunst aber hat der Betriff Realismus keinen Sinn.
Anlage 3 zur Information Nr. 182/81
Robert Havemann: Über die führende Rolle der Partei
Bei der gerichtlichen Registrierung und Zulassung der neuen polnischen Gewerkschaftsorganisation »Solidarität« haben sich schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten über den Begriff der »führenden Rolle der Partei« im Sozialismus ergeben. Das für die Zulassung maßgebende Gericht fügte den Statuten der neuen, unabhängigen Gewerkschaft einen Passus hinzu, in dem die führende Rolle der Partei ausdrücklich anerkannt und diese Anerkennung zu einem Grundsatz der neuen Gewerkschaften erklärt wird.20
Bei der Beurteilung dieses Vorgangs muss man davon ausgehen, dass die neuen Gewerkschaften den Sozialismus als Form des politischen und gesellschaftlichen Lebens anerkennen. Das bedeutet, dass sie auch in ihrer weiter reichenden politischen Perspektive nicht das Ziel verfolgen, die alte bürgerliche Gesellschaftsordnung wiederherzustellen, deren wesentliches Kennzeichen das Privateigentum an den Produktionsmitteln ist. Im Sozialismus kann es nur gesellschaftliches und genossenschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln und dementsprechend auch nur gesellschaftliche und genossenschaftliche Aneignung der erzeugten Produkte geben. Daran soll sich auch in Zukunft nichts ändern. In Gegenteil: Der neue polnische Gewerkschaftsbund »Solidarität« ist entstanden, weil die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei PVAP in ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik die Grundsätze des Sozialismus verletzt und entstellt hat. Das hatte zur Folge, dass die Arbeiterklasse und andere Schichten des Volks mit der Politik der PVAP und mit den unter ihrer Führung arbeitenden Gewerkschaften in höchstem Maße unzufrieden waren. Als die Partei fortfuhr, die Kritik zu ignorieren und versuchte, die Kritiker mit Gewalt zu unterdrücken, kam es schließlich zu den großen Massenstreiks. Daraufhin hat die Führung der PVAP endlich die Berechtigung der Kritik anerkannt und öffentlich eingestanden, dass sie das Vertrauen der Volksmassen verloren hat. Das ZK der Partei hat festgestellt, dass viele leitende Funktionäre selbstherrlich und ohne Rücksicht auf die Interessen der Werktätigen regiert und manche sich dabei auf schamlose Weise persönlich bereichert haben. Die Partei hat auf den Plenarsitzungen des ZK offen über die schlimme Lage der Partei und ihre Isolierung von den Volksmassen gesprochen und damit begonnen, die schweren Fehler ihrer bisherigen Politik zu analysieren, die zu diesem Niedergang der Partei geführt haben. Sie hat auch eine Reihe führender Genossen zur Verantwortung gezogen und einige von ihnen aus dar Partei ausgeschlossen. Die neue Führung der Partei unter dem Genossen Kania hat die Mitglieder ermahnt, den Stil der politischen Arbeit gründlich zu ändern und auf alle Fragen und Beschwerden der Bevölkerung geduldig einzugehen, um auf diese Weise das Vertrauen der Volksmassen zur Partei und zur Sache des Sozialismus zurückzugewinnen.
Die Führung der PVAP hat also eingesehen, dass die Partei durch eigene Schuld die führende Rolle in der Gesellschaft verloren hat. Denn eine Partei, die nicht von der großen Mehrheit der Volksmasse als Vertreterin ihrer Interessen anerkannt und deren Politik nicht vom Vertrauen der Arbeiterklasse getragen wird, kann nicht die führende Rolle für sich beanspruchen, als ob dies ein Recht sei, das ihr unter allen Umständen zusteht, selbst wenn ihre Politik mit den Grundsätzen des Sozialismus und der Demokratie unvereinbar geworden ist. Wenn das Warschauer Gericht den neuen unabhängigen Gewerkschaften das Prinzip von der »führenden Rolle der Partei« gegen ihren Willen in ihr Statut hineinschreibt, so begeht es damit in eklatanter Weise gerade den Fehler, der zum Massenprotest der polnischen Arbeiterklasse gegen die Politik der Partei geführt hat. Die führende Rolle kann nicht dekretiert werden, weder von einem Gericht noch von irgendeiner anderen staatlichen Instanz noch gar von der Partei selbst. Ihre führende Rolle kann sich die Partei nur durch ihre politische Praxis erwerben und darf nie aufhören, aufs Neue um sie zu ringen.
Solange der Anspruch auf die führende Rolle allein auf die physischen Machtmittel des Staatsapparats gegründet ist, kann man in Wirklichkeit gar nicht von einer führenden Rolle der Partei sprechen. Es handelt sich dann einfach um eine Diktatur, und zwar um die Diktatur einer Clique von Parteifunktionären, von der schon die Polin Rosa Luxemburg gesagt hat, dass dies eine Diktatur in rein bürgerlichem Sinne ist.21 Diese Diktatur ist die Herrschaft einer kleinen Minderheit und damit das Gegenteil der Diktatur des Proletariats, die ja die Diktatur der großen Mehrheit über eine kleine Minderheit ist und deshalb der staatlichen Machtmittel gar nicht bedarf. Als in der ČSSR im Jahre ’68 die Partei begann, ihre Politik mit den Interessen der Arbeiterklasse in Übereinstimmung zu bringen, begann sie auch, Schritt um Schritt, ihre Isolierung von den Massen zu überwinden. Sie war auf dem Wege zur Diktatur des Proletariats, im Marxschen Sinne, nachdem sie die stalinistische Diktatur über das Proletariat beseitigt hatte. Die KPTsch wurde damals zur einzigen Partei in den Staaten des realen Sozialismus, die über eine breite Vertrauensbasis im Volk verfügte. Auch die polnische Partei hat jetzt in den Verhandlungen mit den Streikkomitees unter Führung des Genossen Wałęsa den einzig richtigen Weg beschritten, durch Anerkennung der Forderungen der Arbeiter und ihrer Kritik an der bisherigen Politik der PVAP das Vertrauen der Volksmassen wiederzugewinnen und damit die politischen Voraussetzungen zu schaffen, ohne die eine führende Rolle der Partei undenkbar ist.
Die Forderung nach Unabhängigkeit der Gewerkschaften ist in den Ländern des realen Sozialismus von grundsätzlicher Bedeutung. Sie bedeutet die Abkehr von der bisherigen Linie, wonach die Gewerkschaften nur der Transmissionsriemen für die Durchsetzung der Politik der Partei in den Massen sein sollen. Aber unabhängige Gewerkschaften sind von der Partei und den staatlichen Organen unabhängig und können nicht deren Transmissionsriemen sein. Sie sind auch nicht nur Interessenvertreter der Arbeiter als Tarifpartner bei Tarifverhandlungen mit dem staatlichen Arbeitgeber und entscheidend in allen Personalfragen, sondern verfügen darüber hinaus über ein weitreichendes Mitbestimmungsrecht in Politik und Wirtschaft. Sie haben deshalb ein uneingeschränktes Recht, in allen Fragen zu bestimmen und zu entscheiden, die die industrielle Produktion, den Einsatz von Investitionsmitteln, die Ziele der Produktion und die Verwendung der erzielten Gewinne betreffen. Dieses Recht geht im Sozialismus weit über das hinaus, was man in den bürgerlich-kapitalistischen Staaten das Mitbestimmungsrecht der Gewerkschaften nennt. Alle Wirtschaftspläne der staatlichen Organe bedürfen der Zustimmung der Gewerkschaften und können ohne ihre aktive Mitwirkung nicht ausgearbeitet werden. Die führende Rolle der Partei kann sich dabei nur darin zeigen, dass sie die Zustimmung der Mehrheit der Arbeiter und Angestellten zu ihrer Politik erlangt. Dies ist nur möglich bei völliger Öffentlichkeit aller für die Wirtschaftspolitik entscheidenden Beratungen und Diskussionen, das heißt aber auch bei uneingeschränkter Pressefreiheit und Freiheit der Meinungsäußerung in allen Massenmedien. Erst hierdurch werden die Voraussetzungen für eine demokratische Kontrolle aller Organe des Staats und der Partei geschaffen, ohne die sich der Sozialismus niemals entwickeln und frei entfalten kann.