Bevölkerungsreaktionen anlässlich des X. Parteitages der SED (4)
14. April 1981
Weitere Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung der DDR [Bericht O/96d]
Nach vorliegenden Berichten sind seit den frühen Morgenstunden des 13.4.1981 in vielen Arbeitskollektiven in Industrie und Landwirtschaft, Verwaltungen und Institutionen Aussprachen zum bisherigen Verlauf des Parteitages1 im Gange.
Überwiegend wird in diesen Begegnungen und in individuellen Gesprächen deutlich, dass die im Rechenschaftsbericht dargelegten Probleme der Außenpolitik sowie der Wirtschafts- und Sozialpolitik im Mittelpunkt des Interesses stehen. Insbesondere werden die Breite, Dynamik und Wirksamkeit der außenpolitischen Aktivitäten der DDR sowie ihre Übereinstimmung und Abgestimmtheit mit der UdSSR hervorgehoben. Eine hohe Bewertung findet die Besonnenheit der Politik von Partei und Regierung im Interesse der Erhaltung des Friedens. Das wird sowohl auf die Politik im Zusammenhang mit der Verschärfung der Aggressivität des Imperialismus als auch auf die Aussagen im Rechenschaftsbericht an den X. Parteitag bezüglich der Ereignisse in der VR Polen bezogen.2 Der im Rechenschaftsbericht vermittelte Zusammenhang zwischen der Erhaltung des Friedens und der täglichen Arbeit der Werktätigen wird als sehr anschaulich empfunden.
In vielen weiteren Diskussionen wird hervorgehoben, dass der vom Genossen Honecker vorgetragene Bericht u. a. eine Darstellung der erfolgreichen Bilanz der in allen gesellschaftlichen Bereichen der DDR erzielten hohen Arbeitsergebnisse darstelle und die Bevölkerung der DDR auf das Erreichte stolz sein könne. Begrüßt wird die Bestätigung durch den Parteitag, die weitere Verwirklichung der Hauptaufgabe in den kommenden Jahren fortzusetzen.
Mehrfach wird betont, dass auch der Teil des Rechenschaftsberichtes, der sich mit der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik befasse, von Realitäten ausgehe, und Bezug nehmend auf von bestimmten Kreisen der Bevölkerung vorher geäußerten Erwartungen müsse erkannt werden, dass auch in der DDR »keine Wunder geschehen« könnten.
In vielen Arbeitskollektiven werden die vorgesehenen ökonomischen Steigerungsraten als anspruchsvolle Ziele anerkannt, die an jeden einzelnen hohe Anforderungen stellen. Im Zusammenhang damit wird das 10-Punkte-Programm für die ökonomische Strategie der achtziger Jahre als ein langfristiges Programm erkannt, das geeignet ist, diese hohen Ziele zu meistern.3
Aus verschiedenen Kollektiven liegen aber auch skeptische Meinungen hinsichtlich der Möglichkeiten der Erfüllung der vorgesehenen Leistungssteigerung vor. Gleichzeitig wird darauf verwiesen, dass durch Verbesserungen der Arbeitsorganisation, -disziplin und -moral in vielen Arbeitskollektiven weitere Reserven erschlossen werden müssen.
Betont wird, die Planergebnisse seien noch zu verbessern, wenn die ideologische Erziehungsarbeit zur sozialistischen Bewusstseinsbildung jeden Bürger erreiche, sich in manchen Betrieben die Leitungstätigkeit verbessere und Mängeln, Missständen, Verletzungen der Arbeitsdisziplin u. a. generell energischer begegnet werde.
In anderen Meinungsäußerungen wird hervorgehoben, der Rechenschaftsbericht sei insgesamt »zu rund« und »unkritisch« und gehe an wichtigen Problemen vorbei. Während der Erfolgsbilanz ein großer Raum gegeben werde, wäre z. B. zu »Planmanipulierungen« (von denen auch sonst nur »hinter vorgehaltener Hand gesprochen« würde), zu »Preissteigerungen«, »Versorgungsmängeln«, »unzureichender Warendecke von Erzeugnissen der unteren Preisgruppe« nichts gesagt worden.
Auch zu Fragen der Kriminalität und Asozialität sowie zu anderen negativen Erscheinungen, die »dem normalen Bürger« täglich begegnen, gäbe es bisher auf dem Parteitag keine Ausführungen.
Erste Meinungen liegen zu einigen Diskussionen auf dem Parteitag vor.
Übereinstimmung ist dahingehend vorhanden, dass die Ausführungen des Genossen Armeegeneral Hoffmann klar verständlich gewesen seien und jeden Bürger emotional angesprochen hätten.4
Mit Genugtuung sei vermerkt worden, dass junge Diskussionsredner und Arbeiter sehr kritisch zur Lage in der VR Polen aufgetreten seien. Für führende Funktionäre der PVAP sei damit klar geworden, wie die Bürger über die Entwicklung in ihrem Land denken würden. Vor dem X. Parteitag sei dieses Auftreten »sehr geschickt« gemacht worden.
Als unbefriedigend wurde von progressiven Bürgern die Begrüßungsansprache des Genossen Barcikowski bezeichnet. Zwar wäre von ihm vor dem X. Parteitag der SED keine »Kampfansage« gegen die konterrevolutionären Kräfte zu erwarten, er habe jedoch in seinen Ausführungen »jongliert« und sich zu keinen klaren Aussagen entschieden. Solche »Auftritte« würden nicht gerade Sympathien für die Führung der PVAP hervorrufen.5 In einigen Arbeitskollektiven wurden im Zusammenhang mit dieser Diskussion eventuelle weitere Solidaritätsmaßnahmen für die VR Polen abgelehnt und die Meinung vertreten, in der VR Polen selbst müsse zunächst für Ordnung gesorgt werden.
In geringem Umfang wurden Fragen aufgeworfen,
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inwieweit es noch »Gemeinsamkeiten« zwischen den beiden deutschen Staaten geben würde; in letzter Zeit zeichne sich eine »Mäßigung« in gegenseitigen politischen Anschuldigungen ab;
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ob eine Erhöhung des Etats für die Landesverteidigung der DDR geplant sei und ob dazu mit detaillierteren Angaben gerechnet werden könnte. Entsprechende Formulierungen in der Rede des Genossen Honecker sowie Aussagen im Diskussionsbeitrag des Genossen Heinz Hoffmann, die die Notwendigkeit der Verstärkung der Landesverteidigung begründen, könnten diesbezügliche Schlussfolgerungen zulassen;
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inwieweit trotz Erhöhung des Wohnungsbauprogramms der Bedarf an Wohnungen gedeckt werden könne (besonders Hauptstadt Berlin).
Ersten vorliegenden internen Hinweisen über Meinungsäußerungen von in der DDR akkreditierten Korrespondenten westdeutscher Medien zufolge wurde von ihnen insbesondere der vom Genossen Honecker an den X. Parteitag erstattete Bericht mit »großer Spannung« erwartet.
Die Korrespondenten zeigten besonders starkes Interesse an der Bewertung des Verhältnisses der DDR zur VR Polen sowie zur BRD und anderen kapitalistischen Ländern.
Starke Beachtung fand die Feststellung, dass sich die Entwicklung dieser Beziehungen nicht unter Preisgabe der bestehenden Bündnisverpflichtungen, aber auch nicht außerhalb des Standes der Beziehungen UdSSR–USA vollziehen könne.
Die Einheit von Wort und Tat – speziell auf die BRD bezogen – fordere eine Entscheidung zur Frage der Abrüstung, zum Einhalten »innerdeutscher Verträge« durch die Bundesregierung (Lorenz, »Der Spiegel«, Baum, »Frankfurter Rundschau«, Nöldechen, »Westfälische Rundschau«, Lölhöffel, »Süddeutsche Zeitung«).6
Die in der DDR akkreditierten ständigen Korrespondenten Pleitgen, Leiter des ARD-Büros, und Jennerjahn, DPA, äußerten übereinstimmend, dass der »Rechenschaftsbericht insgesamt wenig aufregend« und im Gegensatz zur Rede des Genossen Breschnew auf dem XXVI. Parteitag der KPdSU »geradezu langweilig gewesen sei«.
Interessant an den Ausführungen zum Verhältnis DDR–BRD sei »die Vieldeutigkeit der Formulierungen«. Genosse Honecker habe sich damit »Spielraum nach jeder Seite hin bewahrt«. Offensichtlich »sitze er hinsichtlich des Verhältnisses zur UdSSR und zur BRD zwischen zwei Feuern«.
Eine echte Überraschung seien »die milden Formulierungen im Zusammenhang mit der Situation in der VR Polen«.7