Bevölkerungsreaktionen anlässlich des X. Parteitages der SED (5)
15. April 1981
Weitere Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung der DDR [Bericht O/96e]
In allen Bevölkerungsschichten wird der X. Parteitag der SED1 weiterhin aufmerksam verfolgt und steht im Mittelpunkt der Diskussionen. Zum Rechenschaftsbericht überwiegen zustimmende Meinungsäußerungen, vornehmlich im Rahmen der bereits bekannten Tendenzen.
Obwohl ein reger Meinungsaustausch insbesondere in Arbeitskollektiven – häufig von gesellschaftlichen Kräften gefördert – stattfindet, beweisen die Diskussionen, dass ein systematisches Studium des Rechenschaftsberichtes erst in geringem Umfang vorgenommen wurde. Es dominieren vielfach Diskussionen, in denen sich die Beteiligten gegenseitig auf bestimmte Passagen des Berichtes und in den Diskussionsbeiträgen aufmerksam machen.
Dabei findet der Verlauf des Parteitages in seiner Gesamtheit positive Zustimmung. Gewürdigt werden Sachlichkeit, Realismus, Optimismus, das insgesamt klare Bekenntnis zur Fortsetzung der Politik der Hauptaufgabe, die konstruktiven Aussagen zur Bewältigung gesellschaftlicher Entwicklungsprobleme und Besonnenheit in Fragen der Außen- und Friedenspolitik.
Nach Ansicht von im Bereich der Gesellschaftswissenschaften tätigen Personen habe der Parteitag bisher die internationalen Bedingungen und Möglichkeiten für die Entwicklung der DDR exakt herausgearbeitet. Sehr realistisch sei dabei die Lage der imperialistischen Hauptländer analysiert. Umfangreicher als durch den XXVI. Parteitag der KPdSU seien im Rechenschaftsbericht die Ursachen für die mit zunehmender Aggressionsbereitschaft verbundene Destabilisierung des Imperialismus aufgezeigt worden.
Bei der Behandlung des Wechselverhältnisses zwischen allgemeiner und zyklischer Krise des Imperialismus sei der wissenschaftliche Ansatz der Aussagen tiefer ausgeprägt worden als vergleichsweise in Reden von Repräsentanten der Bruderparteien in der Vergangenheit. Hinsichtlich der Verbindung von Ökonomie und Politik habe der Rechenschaftsbericht auf stärkere theoretische Durchdringung dieser Problematik orientiert.
In einer Reihe von Äußerungen wird die internationale Beteiligung am X. Parteitag der SED besonders hervorgehoben. Die Vielzahl der anwesenden Delegationen, insbesondere aus den jungen Nationalstaaten und von nationalen Befreiungsbewegungen mache deutlich, dass sich der Einfluss der internationalen kommunistischen und Arbeiterbewegung, der antiimperialistischen Bewegung insgesamt vergrößert habe.
Wiederholt wurden mit Genugtuung die Grußansprachen ausländischer Kommunisten und Repräsentanten hervorgehoben und betont, augenscheinlich sei besonders auf dem X. Parteitag die hohe Wertschätzung, die von ihnen der DDR und ihrer führenden Kraft, der SED, beigemessen wird.2
In einigen Äußerungen wurde teilweise Unverständnis über die »relativ zurückhaltende« Beurteilung der Lage in Polen sichtbar.3 Betont wurde, deutlicher als im Rechenschaftsbericht sei in Diskussionsbeiträgen »nach Arbeiterart« zu Problemen im Zusammenhang mit Polen Stellung genommen worden.4
Vereinzelt wurde darüber diskutiert, die Grußansprachen der Vertreter der RKP und des BdKJ hätten erneut »Befremdung« ausgelöst, u. a. dadurch, da sie das Friedensprogramm des XXVI. Parteitages der KPdSU nicht erwähnt hätten und die nationale Eigenständigkeit sowie die eigenen Wege zum Sozialismus besonders betont hätten.5
Mehrfach wurde hervorgehoben, dass die Diskussionsbeiträge der Genossen Mies6, Jähn7 sowie z. T. Barbara Weber8 besonders gut verständlich gewesen seien, Optimismus und Parteiverbundenheit beweisen und emotional im positiven Sinne gewirkt hätten.
In geringem Umfang wurden abwertende bis negative Meinungsäußerungen zum Rechenschaftsbericht und zum bisherigen Verlauf des Parteitages bekannt, die jedoch kaum öffentlichkeitswirksam waren. In einem Teil dieser Diskussionen machen sich Einflüsse der Argumentationsrichtungen aus westlichen Rundfunk- und Fernsehstationen bemerkbar.
Derartige Äußerungen beinhalten vor allem solche Tendenzen, wie
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der Rechenschaftsbericht sei zu lang und werde deshalb von vielen nicht gelesen;
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große Teile des Berichtes seien für einen Arbeiter nicht verständlich und zu stark theoretisierend; auf dem Parteitag der KPdSU sei die Sprache kritischer und »arbeiterfreundlicher« gewesen;
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der bisherige Verlauf habe nichts Neues gebracht, Altes sei lediglich in neuen Worten wiederholt;
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der Rechenschaftsbericht sei lediglich »auf Erfolg gemacht«, die Probleme, die wirklich interessierten, hätten keine Erwähnung gefunden;
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für aufmerksame Leser werde deutlich, dass die wirtschaftlichen Ziele »zurückgeschraubt« würden; in den Betrieben machten sich nicht nur die schwierige Rohstofflage und Lieferverluste aus Polen bemerkbar, sondern mangelnde Arbeitsdisziplin und Arbeitsmoral seien vielfach spürbar;
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die »angeschobene« Verpflichtungsbewegung, drei Tagesproduktionen zusätzlich zum Jahresplan zu erbringen, sei unter den gegebenen Schwierigkeiten illusorisch und würde von vornherein breitgefächerte Planmanipulierungen einschließen;
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der Parteitag sei ein »Jubelfest« für Funktionäre, die sich an einigen Erfolgen »berauschen« und sie verallgemeinern würden, auf jeden Fall werde er auf Kosten der Werktätigen ausgetragen;
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der Parteitag »und der ganze Rummel« darum (Hinweis auf Versorgung der zahlreichen Delegationen, Aufwand für Transport, Sicherheitskräfte u. a.) habe nichts mit Sparmaßnahmen zu tun, die »der einfache Arbeiter« realisieren müsse;
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die Meetings in Betrieben würden einen hohen Arbeitsausfall bewirken, der nicht mit dem geforderten Leistungsanstieg in Einklang zu bringen wäre;
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es erhebe sich die Frage, für wen die Manifestation der Jugend9 organisiert war, da der Zugang für die »normale« Bevölkerung weitgehend durch Sicherungskräfte blockiert gewesen sei;
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viele Realitäten würden nicht mit den »Erfolgsmeldungen« auf dem Parteitag übereinstimmen; das zeige sich auch an der Bereitschaft von Mitgliedern der FDJ, an der mangelnden Einsatzbereitschaft von Genossen und parteilosen Bürgern zur Mitarbeit im Wohngebiet und anlässlich gesellschaftlicher Höhepunkte;
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die Unterbezahlung bestimmter Berufsgruppen, die auch auf dem X. Parteitag nicht geklärt worden sei, wäre eine »Unterlassungssünde«, die noch »katastrophale Auswirkungen« zeigen könnte. So seien bereits jetzt ganze Bereiche in Kliniken »lahmgelegt« oder könnten nur noch mithilfe der per Studienanordnung verpflichteten Studenten bzw. Studienbewerber aufrechterhalten werden;10
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mit großen Personalveränderungen im Politbüro sei nicht zu rechnen, aber es wäre eine »Verjüngung« notwendig. In letzter Zeit seien außerdem verstärkt Elemente des »Personenkults« um Genossen Honecker spürbar, gegen die er sich offensichtlich aber auch nicht wehren würde (Einzelmeinungen);
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in Rundfunk und Fernsehen würden auf dem und über den Parteitag viele Personen »viel reden«; sie sollten besser in dieser Zeit arbeiten, dann ginge es in der DDR auch schneller vorwärts.