Bevölkerungsreaktionen anlässlich des X. Parteitages der SED (7)
17. April 1981
Weitere Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung der DDR [Bericht O/96g]
Die in vorhergehenden Hinweisen zur Reaktion der Bevölkerung der DDR enthaltenen grundsätzlichen Tendenzen sind nach wie vor bestimmend in den Meinungsäußerungen. Das Interesse am Verlauf des Parteitages1 war während der Konferenztage in breitesten Kreisen aller Schichten der Bevölkerung festzustellen. Die Meinungsäußerungen sind in der übergroßen Mehrzahl durch zustimmende und konstruktive Haltungen gekennzeichnet.2
In großem Umfang finden Zustimmung
- –
die offensive und konsequente Politik von Partei und Regierung, die auf Frieden und Entspannung ausgerichtet ist;
- –
die klaren Aussagen zur Wirtschaftspolitik sowie in diesem Zusammenhang Orientierungen für die weitere Entwicklung in allen Leistungsbereichen (10 Punkte zur Wirtschaftsstrategie der achtziger Jahre);3
- –
die eindrucksvolle Bilanz über die bisherigen Erfolge der gesamten Politik der SED (u. a. bezogen auf sozialpolitische Belange, die Entwicklung der Volksbildung, der Hoch- und Fachschulen);
- –
die Orientierung der SED, trotz außenwirtschaftlicher Belastungen die anspruchsvollen Ziele im Rahmen der gestellten Hauptaufgabe zu erreichen;
- –
die Manifestation der SED als marxistisch-leninistische Partei.
Weiterhin finden die Diskussionsbeiträge der Genossen Heinz Hoffmann4, Mies5 u. a. ein breites positives Echo.
Vielfach wird Bereitschaft bekundet, zur Verwirklichung der gestellten Ziele und zur Unterstützung der friedenserhaltenden Politik von Partei und Regierung einen entsprechenden persönlichen Beitrag zu leisten.
Wie in den Vortagen enthalten die vorliegenden Informationen eine Reihe von Meinungsäußerungen darüber, dass im Unterschied zum XXVI. Parteitag der KPdSU6 in den Referaten und Diskussionsreden des X. Parteitages nicht in genügendem Maße zu noch vorhandenen Mängeln, Schwächen und Hemmnissen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen sowie seitens staatlicher, wirtschaftsleitender oder anderer gesellschaftlicher Organe Stellung genommen wurde. Teilweise wird darauf verwiesen, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR in einem solchen Maße politisch gefestigt und gesichert seien, was ein kritischeres Herangehen an vorhandene Mängel im Interesse der umfassenden Erfüllung vom Parteitag gefasster Beschlüsse rechtfertigen würde.
Aus Arbeiterkreisen wurde geäußert, um noch stärker die Vorzüge und Triebkräfte im Sozialismus zu entfalten, sei es notwendig, offenere Diskussionen über noch bestehende Hemmnisse und Mängel zu führen. Schlussfolgerungen aus dem X. Parteitag müssten u. a. darin bestehen, über diese Probleme in den Kollektiven zu diskutieren und Maßnahmen zu deren Zurückdrängung und Beseitigung einzuleiten.
In den letzten Tagen haben sich Meinungsäußerungen zur Lage in der VR Polen, ausgehend vom Diskussionsbeitrag des Genossen Barcikowski, verstärkt. Vorrangig sind Auffassungen, im Diskussionsbeitrag seien wiederum die wirklichen Probleme in der VR Polen verwischt worden; vordergründig entstehe der Eindruck, dass »nur Worte gemacht« werden, denen keine Taten folgen.7 Eine Reihe Äußerungen beinhalten, die entsprechenden Passagen im Rechenschaftsbericht an den X. Parteitag seien angesichts des Auftretens des Genossen Barcikowski sehr »maßvoll« oder »zurückhaltend«8 gewesen und hätten nicht die Schärfe der Aussagen dazu an den XVI. Parteitag der KPTsch9 erreicht. Wiederholt wird die Frage gestellt, wie die zugesicherte Hilfe der Bruderparteien für die polnischen Kommunisten praktisch aussehen solle; darüber werde in allen Beiträgen eine klare Aussage vermisst. Gleichzeitig werden Befürchtungen laut, die Solidarität für Polen könnte auf Kosten des Lebensstandards in der DDR gehen.10
Während unmittelbar nach Bekanntwerden des Rechenschaftsberichtes an den X. Parteitag11 eine gewisse Enttäuschung bei den Kreisen der Bevölkerung zu verzeichnen war, die mit bestimmten Erwartungshaltungen und Spekulationen (Lohn- und Gehaltserhöhungen, Rentenerhöhungen u. a.) in Erscheinung getreten waren, ist gegenwärtig festzustellen, dass Diskussionen dazu wieder zunehmen. Sie beziehen sich vornehmlich darauf, dass eine Reihe sozialpolitischer Maßnahmen erst in Auswertung des X. Parteitages durchgesetzt würden und deshalb in absehbarer Zeit noch zu erwarten seien. Das bezieht sich besonders auf Rentenerhöhungen, Herabsetzung des Rentenalters, Verbesserung der Entlohnung des mittleren medizinischen Personals und der Mitarbeiter in Pflegeeinrichtungen.
In geringem Umfang, aber in fast allen Bezirken auftretend, werden jedoch auch »Spekulationen« der Art angestellt, wonach nach dem X. Parteitag der SED
- –
der Grundwehrdienst der NVA verlängert werde,
- –
die Preispolitik verändert und ein Ansteigen der Preise – insbesondere zu Lasten der unteren Preisgruppe – eintreten werde,
- –
der Lebensstandard der DDR-Bevölkerung stagniere, da die DDR die außenwirtschaftlichen Belastungen und die verstärkt notwendig werdenden Solidaritätsaktionen auf die Dauer nicht mehr verkraften könne, auch wenn auf dem X. Parteitag dazu gegenteilige Aussagen gemacht worden seien.12
Vorliegenden Hinweisen zufolge verhalten sich Personen, die in OV bearbeitet werden, unter operativer Kontrolle stehen, in der Vergangenheit operativ angefallen sind oder zu operativ interessierenden Personenkreisen gehören, im Zusammenhang mit dem X. Parteitag nach wie vor weitestgehend zurückhaltend. In der Berichtszeit wird jedoch in ersten internen Meinungsäußerungen deutlicher, dass sie sich z. T. »Argumente« westlicher Massenmedien zu eigen machen, in geringem Umfang auch als ihre persönliche Meinung weitergeben, ohne damit eine Öffentlichkeitswirkung zu erreichen bzw. anzustreben. Die Meinungsäußerungen beinhalten u. a. solche Aussagen wie
- –
der Rechenschaftsbericht sei unreal, vermittle ein »Traumbild« und spiegele insgesamt die »Entfremdung« des Politbüros von der Masse des Volkes wider;
- –
der Parteitag habe Forderungen an die Leistungskraft der Arbeiter nach dem »Ausbeuterprinzip« des Kapitalismus gestellt;
- –
die Planziele in den Bereichen der Volkswirtschaft und insbesondere die Forderung nach Erwirtschaftung von 3 bis 3,5 Tagen Planvorsprung wären nur durch Manipulierungen, doppelte Abrechnungen, Erhöhung der Preise bei Vortäuschung besserer Qualität .u. dgl. erreichbar;
- –
die angekündigte weitere Verbesserung der Lebenslage stehe im Widerspruch zu der gegenwärtig rückläufigen Versorgungslage;
- –
trotz ständiger Erfolgsmeldungen und Versprechungen hinsichtlich stabiler Preise tendiere das Preisniveau in allen Verkaufsbereichen weiter nach oben;
- –
in der DDR gebe es zu viele Privilegien für hohe Funktionäre, dadurch hätten sie die Basis zur Arbeiterklasse verloren und könnten sich nicht mehr in deren Probleme versetzen.