Bevölkerungsreaktionen anlässlich des X. Parteitages der SED (8)
21. April 1981
Weitere Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung der DDR [Bericht O/96h]
Hinweisen aus allen Bezirken der DDR und der Hauptstadt Berlin zufolge spiegeln die Diskussionen der Bevölkerung der DDR das große Interesse, das dem Verlauf, den Dokumenten und Beschlüssen des X. Parteitages der SED1 entgegengebracht wurde, wider. In den Betrieben, Institutionen und Kollektiven wird unter Führung und Kontrolle der Parteileitungen die bereits während des Parteitages begonnene Auswertung des Rechenschaftsberichtes, der Direktive zum Fünfjahrplan und der Diskussionsbeiträge von Delegierten, Gästen sowie die Erarbeitung entsprechender Schlussfolgerungen fortgesetzt. In größerem Umfang werden Verpflichtungen abgegeben, die sich auf die Realisierung von Aufgaben und zusätzlichen Plänen im persönlichen Arbeitsbereich beziehen.
In einer Vielzahl von Kollektiven unterschiedlichster Bereiche werden die im Rechenschaftsbericht an den X. Parteitag abgerechneten Leistungen als Summe der von allen Bürgern erzielten Ergebnisse gewertet. Insgesamt überwiegen in allen Bezirken und Bevölkerungsgruppen die positiven, zustimmenden Meinungsäußerungen zu den Ergebnissen des Parteitages. Dabei heben sich folgende Grundrichtungen ab:
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Zustimmung zur Friedenspolitik (Hervorhebung der Aussage: lieber jahrelang harte Arbeit/harter Dienst – als eine Stunde Krieg);
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Begrüßung des Kurses der Stabilität der Innen- und Außenpolitik;
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Zustimmung zu den Aussagen zur weiteren Verwirklichung der Hauptaufgabe;
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Genugtuung über die auf das Wohl der Bürger gerichtete Politik, die Sicherheit im Sinne der Verfassung der DDR gewährt;
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Hervorhebung der Sachlichkeit, Konstruktivität und Nüchternheit sowie des sichtbaren Realitätsgehaltes der konzipierten Aufgaben;
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breite Zustimmung zur dargelegten ökonomischen Strategie der 80er-Jahre, insbesondere zu den im Rechenschaftsbericht genannten zehn Schwerpunkten.2
Im Folgenden wird auf einige andere gegenwärtig zu verzeichnende Diskussionsrichtungen aufmerksam gemacht, wobei jedoch nach wie vor eingeschätzt wird, dass die positiven, zustimmenden Meinungsäußerungen weit überwiegen.
Pessimistische und skeptische Äußerungen liegen aus allen Bezirken vor, wobei sich diese hauptsächlich auf Produktionsbereiche aber auch auf Planungsorgane (z. B. Staatliche Plankommission/Bezirksplankommissionen) konzentrieren. Sie betreffen übereinstimmend zusätzliche Verpflichtungen, insbesondere solche mit der Zielstellung, bis zu 3,5 Tagesproduktionen über den Plan hinaus zu erwirtschaften. Während diese Aktivitäten grundsätzlich positiv gewertet werden, wird jedoch mehrfach und in den letzten Tagen verstärkt auf vorhandene Leistungsgrenzen in Betrieben und Kombinaten verwiesen. Es werden Befürchtungen geäußert, dass abgegebene Verpflichtungen, auf dem Parteitag entstanden und emotional vorgetragen, im Endergebnis nicht erfüllt würden. Teilweise wären Verpflichtungen von Betrieben und Kombinaten abgegeben worden, die in den vergangenen Jahren ihre Pläne nicht erfüllt hätten. Im Zusammenhang mit diesen Verpflichtungen seien darüber hinaus Materialbereitstellung, Transportkapazitäten und anderes offensichtlich nicht ausreichend kalkuliert, obwohl diese bei der Realisierung der Verpflichtungen eine entscheidende Rolle zu spielen hätten. Teilweise wird der Wert der Verpflichtungen angezweifelt, da den Betrieben »nichts anderes übrig bleibe«, mit der Größenordnung der Verpflichtung »mitzugehen«.
Hinweisen zufolge wird unter breiten Kreisen des Stammbetriebes VEB Kombinat Carl Zeiss Jena angezweifelt, ob die Verpflichtung des Kombinats realisierbar sei. Teilweise besteht Unverständnis, wie es zur Abgabe dieser Verpflichtung kommen konnte, zumal vorher keine Absprache oder Diskussion erfolgt wäre.
Von mittleren leitenden Kadern der Rathenower Optischen Werke »Hermann Dunker«, Bezirk Potsdam, werde der geforderte zusätzliche Leistungszuwachs infrage gestellt und geäußert, es wäre bisher unklar, ob die Verpflichtung im Diskussionsbeitrag des Genossen Biermann für alle zum Kombinat Jena gehörenden Betriebe gelte; in ihrem Betrieb wären die geforderten zusätzlichen Tagesproduktionen nicht möglich.
In einigen politisch negativen Diskussionen wird betont, die vom X. Parteitag proklamierten Verpflichtungen auf ökonomischem Gebiet seien nicht realisierbar3 und lediglich dazu bestimmt, unsere Bevölkerung und die Weltöffentlichkeit zu beeindrucken.Unter Angehörigen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz volkseigener Großbetriebe, Forschungseinrichtungen sowie Fach- und Hochschulen gibt es Diskussionen zum geplanten perspektivischen Einsatz von Industrierobotern. Dazu bekannt gewordene Diskussionen und Meinungsäußerungen haben u. a. zum Inhalt, dass
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der geplante Einsatz der Industrieroboter bis zum Jahre 1985 nicht der Realität entspreche und dafür teilweise die erforderlichen Voraussetzungen sowohl für die Forschung als auch Produktion fehlen würden;
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damit die DDR »auf dem Papier« annähernd der Zielstellung der USA bezüglich des Einsatzes von Industrierobotern gleichkomme;
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die auf dem X. Parteitag genannte Zielstellung illusorisch sei, da dies weit die vorhandene Investitionskraft unserer Republik überschreite.4
Von Werktätigen des Transport- und Verkehrswesens wird der ökonomischen Strategie grundsätzlich zugestimmt. In geringem Umfang, aber in mehreren Bezirken auftretend, wurde hervorgehoben, die Festlegungen in der Direktive hinsichtlich der Verlagerung des Transportes von der Straße auf die Schiene seien infolge mangelnder Bereitstellung von Waggons zum gegenwärtigen Stand nicht realisierbar. Sie seien nur lösbar durch Erhöhung der Anzahl der Waggons und durch die Beschleunigung des Waggonumlaufes. Dazu gäbe es aber keine exakten Festlegungen.
In wiederholten Fällen wurde geäußert, Probleme des Verkehrswesens wären auf dem Parteitag nicht ausreichend entsprechend ihrer volkswirtschaftlichen Bedeutung direkt behandelt worden. Vereinzelt wurden Zweifel geäußert, inwieweit das Verkehrswesen in der Lage sei, die insgesamt vom Parteitag vorgegebenen Orientierungen, die in vielen Bereichen das Verkehrs- und Transportwesen mit berührten, zu realisieren, da eine Leistungssteigerung aufgrund des unzureichenden Entwicklungsstandes der materiell-technischen Basis in vielen Fällen nicht mehr möglich sei.
Aus verschiedenen Bereichen des Post- und Fernmeldewesens wurden Meinungsäußerungen dahingehend bekannt, dass die Aussagen im Rechenschaftsbericht sowie die in der Direktive enthaltenen Aufgabenstellungen auf diesem Gebiet für die Lösung der vorhandenen Probleme nicht ausreichen.5
Umfangreich wird über die Ergebnisse des Parteitages auch in der Landwirtschaft diskutiert. Die Aufgabenstellung zur Erhöhung der Leistungen in der Land- und Nahrungsgüterwirtschaft wird begrüßt. Überwiegend wird eingeschätzt, die vorgegebene Aufgabenstellung zur Produktionssteigerung um 0,2–0,3 dt Getreide je Hektar im Jahr sei eine reale und solide Zielstellung. Gegenüber dem IX. Parteitag würde damit von »utopischen Zielsetzungen« abgegangen. Die Festlegung neuer Agrarpreise sei zu begrüßen, da die derzeit gültigen teilweise aus den 50er-Jahren stammen und der tatsächlichen Lage nicht mehr entsprechen. Als eine »kluge Maßnahme« wird auch der Vorschlag der Einberufung eines Bauernkongresses bewertet. Auf diesem könnten Diskussionen und Festlegungen zu anstehenden Problemen, wie z. B. den Kooperationsbeziehungen zwischen Betrieben der Tier- und der Pflanzenproduktion, den Beziehungen der Nahrungsgüterwirtschaft zur Landwirtschaft sowie der Entwicklung der Agrarindustrievereinigungen (AIV) erfolgen. Diese Probleme müssten in Vorbereitung auf den Bauernkongress über einen längeren Zeitraum gründlich erörtert werden. Vorwiegend von leitenden Kadern von Landwirtschaftsbetrieben wurden Einzelmeinungen bekannt, in denen Unklarheiten zur künftigen Entwicklung der Agrarindustrieverbände (AIV) bzw. der Kooperationsbeziehungen in der Landwirtschaft zum Ausdruck kommen. So z. B.:
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Der Begriff Agrarindustriekomplex sei nicht mehr so in den Mittelpunkt gestellt worden wie auf dem IX. Parteitag. Offenbar wäre noch kein Beweis für die Richtigkeit der Entwicklung von AIV erbracht worden. Im ZK der SED habe man offenbar lange vor dem X. Parteitag eine Korrektur der anfangs überschwänglichen Auffassung der Bedeutung der AIV »in aller Stille« vorgenommen. Deshalb sei der X. Parteitag über eine Analyse der Entwicklung der AIV »hinweggegangen«. Man werde die bestehenden AIV erhalten, an eine Ausdehnung sei aber nicht zu denken.
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Jetzt müssten völlig neue Formen und Methoden der Kooperation zwischen Tier- und Pflanzenproduktion erarbeitet werden. Eine Orientierung auf die Notwendigkeit der Verbesserung der Tätigkeit der Kooperationsräte reiche nicht aus, um die sich ausdehnenden Mängel aus der Teilung der Betriebe (in Tier- und Pflanzenproduktion) zu überwinden. Gegenwärtig sehe die Lage so aus, dass die LPG-Tierproduktion ihren Aufgaben nicht oder nur zu Lasten der LPG-Pflanzenproduktion gerecht würden.
Weiterhin werden entsprechend dem gegenwärtigen Stand folgende Probleme vorrangig in allen Bevölkerungsschichten angesprochen:
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Die Ausführungen im Bericht des ZK, in der Direktive sowie die Diskussionen seien insgesamt »zu problemlos«. Dabei wird mehrfach ein Vergleich zur »kritischen Linie« des XXVI. Parteitages der KPdSU gezogen und die Meinung vertreten, dass der X. Parteitag besonders subjektive Mängel zu wenig deutlich machte.
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Die angestrebten Ziele in einigen Bereichen und Positionen (u. a. Handel und Versorgung) werden skeptisch betrachtet. Auch frühere Parteitage hätten Beschlüsse gefasst, die nicht erfüllt worden seien (es werden z. T. Vergleiche zu früher formulierten Zielstellungen angestellt; noch bestehende Mängel in der Versorgung werden dabei aufgezählt).
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Die Hervorhebung des persönlichen Beitrages des Genossen Erich Honecker in Diskussionsreden wird z. T. als besonders augenfällig eingeschätzt. (Teilweise wird Unverständnis darüber ausgedrückt und hervorgehoben, vermutlich sei dem Genossen Honecker selbst »peinlich«, dass auf diese Art der »Personenkult« wieder auflebt.)
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Spekulative Meinungen beziehen sich nach wie vor auf Erwartungen hinsichtlich sozialer Verbesserungen wie Lohn- und Rentenerhöhungen, Stipendienzulagen und Rentenalterherabsetzungen. Dabei wird zum Ausdruck gebracht, vom X. Parteitag wäre in dieser Hinsicht mehr erwartet worden, aber vermutlich würden diese detaillierten Festlegungen erst nach dem X. Parteitag getroffen.
In geringem Umfang, aber in allen Bezirken und Bevölkerungsschichten auftretende abwertende, negative und feindliche Meinungsäußerungen beinhalten u. a. Tendenzen dahingehend, dass
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der Parteitag »aus Lobhudelei« bestanden habe und die Ausführungen nicht den Realitäten entsprechen würden;
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es überall erfüllte und übererfüllte Pläne, aber auch leere Geschäfte geben würde;
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durch die Verpflichtungsbewegung der Grundstein gelegt worden sei für erneute Planmanipulierungen und -verschiebungen;
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auf dem Parteitag eine Atmosphäre »wie im Theater« bestanden habe, die Beifallsbekundungen sichtbar organisiert gewesen seien und »Berufsbrüller« eingesetzt worden wären;
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für den Arbeiter auf dem Parteitag »nichts herauskomme«;
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nach dem Parteitag »noch mehr geschuftet werden« müsste;
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auf dem Parteitag »große Reden gehalten« worden seien, aber kein Funktionär mehr Bindung zur Arbeiterklasse hätte; seltene Betriebsbesuche würden vorher »bis ins Kleinste organisiert« und die Funktionäre mit großen Westwagen dazu hingefahren;
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der Parteitag »nichts Neues« gebracht, aber sicher sehr hohe Kosten verursacht hätte;
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alle Diskussionsreden abgelesen worden seien und sicher vorher festgelegt wären; das hätte man von vornherein in Broschürenform abhandeln und »den ganzen Rummel« ausfallen lassen können;
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die gesamte Informationstätigkeit der Kommunikationsmittel der DDR längere Zeit einseitig auf den Parteitag ausgerichtet gewesen sei und über »große Ereignisse« wie den Flug der USA-Raumfähre »Columbia«6 sowie andere wichtige internationale Ereignisse nicht ausreichend berichtet worden wäre.