Bevölkerungsreaktionen in Vorbereitung auf die Wahlen (2)
12. Juni 1981
Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung der DDR in Vorbereitung auf die Wahlen zur Volkskammer, zur Stadtverordnetenversammlung der Hauptstadt der DDR und zu den Bezirkstagen am 14. Juni 1981 (2. Bericht) [Bericht O/99b]
Weiteren Hinweisen aus den Bezirken zufolge nahmen im Zusammenhang mit den im Verlauf der Wahlbewegung1 durchgeführten Versammlungen, Foren und persönlichen Gesprächen Reaktionen, Meinungsäußerungen sowie die Verpflichtungsbewegung weiter an Umfang zu.
Die sich dabei bereits im 1. Bericht abzeichnenden Schwerpunkte blieben im Wesentlichen unverändert.
Im Rahmen der durchgeführten vielfältigen Wahlveranstaltungen mit Abgeordneten bzw. vorgesehenen Kandidaten für die Volksvertretungen herrschte grundsätzlich eine offene, kritische und schöpferische Atmosphäre. Zahlreiche Bürger nutzten dies insbesondere dazu, Hinweise, Vorschläge, Kritiken und Anfragen an die Kandidaten heranzutragen.
Wie dazu eingeschätzt wird, zeigen die Ergebnisse der Wahlvorbereitungen, dass die Bevölkerung der Politik von Partei und Regierung grundsätzlich zustimmt und den Kandidaten ihr volles Vertrauen entgegenbringt. Von vielen Arbeitskollektiven und Hausgemeinschaften wurde in diesem Zusammenhang die Absicht zum Ausdruck gebracht, mit erfüllten Plänen sowie gemeinsam und frühzeitig zur Wahl zu gehen.
In vielen Veranstaltungen und dabei abgegebenen Stellungnahmen wird von der Bevölkerung auch gleichzeitig auf die Bedeutung einer hohen Wahlbeteiligung in der gegenwärtigen Klassenkampfsituation hingewiesen.
In den Wahlveranstaltungen standen auch weiterhin die Auswertung der Beschlüsse des X. Parteitages der SED2 sowie der Wahlaufruf des Nationalrates der Nationalen Front3 zu den Fragen
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des Kampfes um die Erhaltung des Friedens,
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der Lage und Entwicklung in der VR Polen,
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der Stärkung der sozialistischen DDR entsprechend den Beschlüssen des X. Parteitages der SED,
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der Fortführung der Politik der Hauptaufgabe im Zusammenhang mit den erhöhten Anforderungen sowie
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der Möglichkeit der weiteren antiimperialistischen Solidarität
im Mittelpunkt.
Einen breiten Raum in der allgemeinen Volksaussprache nahmen unverändert Vorschläge, Hinweise und Kritiken, hauptsächlich zu ungelösten Fragen im kommunalen Bereich ein. (Nach vorliegenden Hinweisen ist in allen Bezirken der DDR eine steigende Tendenz der Eingaben zu solchen Problemen zu verzeichnen.)
In ersten Meinungsäußerungen zum Besuch des Generalsekretärs des ZK der SED, Genossen Erich Honecker, am 9./10.6.1981 in der Bezirksstadt Karl-Marx-Stadt4 wird seine enge, persönliche Verbundenheit mit diesem Zentrum der Arbeiterklasse der DDR hervorgehoben. Viele Werktätige des Bezirkes betrachten diese Tatsache zugleich als Anerkennung und Würdigung ihrer bisherigen Leistungen. Das Auftreten des Generalsekretärs wird als ein großer Höhepunkt im Rahmen der Vorbereitungersen zu den Volkswahlen empfunden.
Verbunden mit dem Aufenthalt des Genossen Honecker in Karl-Marx-Stadt wurden verschiedene Erwartungshaltungen bekannt, die im Wesentlichen auf die schnellere Beseitigung verschiedener territorial bestehender Mängel und Unzulänglichkeiten abzielen, (verstärkte Sanierung von Altbaugebieten; Verbesserung der Wohn- und Einkaufsbedingungen; Erhöhung von Ordnung und Sauberkeit in bestimmten Teilen der Stadt; Gestaltung der Außenanlagen im Neubaugebiet »Fritz Heckert«).
Trotz der überwiegend positiven Reaktionen der Bevölkerung gibt es nach wie vor auch kritische, abwertende und vereinzelt negative Meinungsäußerungen, in denen u. a. die politisch-ideologischen Vorbereitungen und die organisatorischen Maßnahmen zur Durchführung der Wahlen als »übertrieben und unnötig« bezeichnet werden. Die ständige Wahlpropaganda in den Massenmedien der DDR und in allen Versammlungen in Betrieben und Wohngebieten wirke z. T. »ermüdend«. Hinzu komme, dass der Inhalt der politischen Argumentation zu »allgemein und monoton sei« und zu wenig »echte« Tagesprobleme der Menschen berücksichtige. Viele derartige Veranstaltungen brächten deshalb nicht den erwarteten Nutzeffekt.
Die Unterschätzung der Bedeutung der Wahl durch eine Anzahl von Bürgern kommt in solchen Meinungsäußerungen zum Ausdruck, wonach
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die Wahlen nichts verändern würden, da das Ergebnis – unabhängig von der Wahlbeteiligung – bereits feststehe,
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der demokratische Charakter und das Prinzip der Freiwilligkeit nicht gewährleistet seien (Fehlen verschiedener Parteien und entsprechender Kandidaten; indirekter Zwang zur Wahlbeteiligung),
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nur mit einer »Parteienwahl« ein echtes Spiegelbild der »Meinung des Volkes« gewährleistet wäre,
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bei der Vielzahl der als Kandidaten aufgestellten Funktionäre sich praktisch eine Wahl erübrige und es zweckmäßiger sei, diese nur festzulegen und als Abgeordnete zu bestimmen,
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Arbeiter den geringsten Anteil der Kandidaten stellen würden, da man diese gar nicht in den Volksvertretungen haben wolle.
Entsprechend der Wahldirektive sind am 24.5.1981 insgesamt 470 Sonderwahllokale in allen Kreisstädten, Stadtkreisen, Stadtbezirken und anderen Orten eingerichtet worden (1976 insgesamt 420 Sonderwahllokale).
Im Zusammenhang mit der Abstimmung der Wählerlisten mit den Meldekarteien der Volkspolizeikreisämter wurde in einigen Kreisen sichtbar, dass das Meldesystem oftmals noch zu nachlässig gehandhabt wird, was insbesondere für die neuen großen Wohnkomplexe zutrifft.
An Universitäten, Hoch- und Fachschulen, in Gesundheitseinrichtungen, im Bereich der Schifffahrt und Hochseefischerei sowie in den Wohnheimen des VEB Kombinat Carl Zeiss Jena sind insgesamt 409 selbstständige Wahlbezirke mit voraussichtlich ca. 200 000 Wahlberechtigten geschaffen worden.5
Bis einschließlich 9. Juni 1981 haben bereits insgesamt 941 076 Wahlberechtigte von ihrem Stimmrecht Gebrauch gemacht (gegenüber dem Vergleichszeitraum der Wahlen zu den örtlichen Organen 1979 erhöhte sich die vorzeitige Stimmenabgabe um 50,5 %).6
Seit der Bestätigung der Wahlvorschläge durch die Bezirkswahlkommissionen wurden insgesamt fünf Bezirkstagskandidaten in den Bezirken Karl-Marx-Stadt, Neubrandenburg, Schwerin und Gera wegen unmoralischen bzw. ordnungswidrigen Verhaltens (3×) und wegen Zurückziehen der Zustimmungserklärung von den Kandidatenlisten gestrichen.
Hinweisen einiger Bezirke zufolge ist das Interesse an Wahlvorbereitungshandlungen, die neben den zentralen Wahlveranstaltungen mit Beteiligung von Spitzenkandidaten durchgeführt werden, teilweise gering (u. a. angeblich zu geringe Kontakte zu Kandidaten, da diese in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt seien; »allgemein erklärtes Desinteresse an Veranstaltungen«). Zum überwiegenden Teil werden diese Veranstaltungen lediglich von Mitgliedern der SED und von gesellschaftspolitisch stark engagierten Bürgern aller Schichten organisiert und besucht.
Ein Teil der Wahlveranstaltungen entsprach vorliegenden Informationen zufolge außerdem nicht den Erwartungen der Bürger, führte zu abfälliger Reaktion, wenn Referenten in ihren Ausführungen nur sehr allgemein blieben, die tatsächlich die Bürger bewegenden Probleme nicht angesprochen oder die Anfragen der Bürger nicht befriedigend beantwortet würden.
Insbesondere erschwerten aber Mängel und Probleme, die seit mehreren Jahren besonders auf kommunalpolitischem Gebiet kritisiert und nicht gelöst wurden, den Kandidaten und Wahlhelfern eine offensive Argumentation.
Im Zusammenhang mit der Übergabe der Wahlbenachrichtigungskarten gaben vereinzelt Bürger Erklärungen ab, sich nicht an der Wahl beteiligen zu wollen, nahmen diese nicht entgegen bzw. vernichteten sie in demonstrativer Weise.
Aus weiteren vorliegenden Hinweisen ist festzustellen, dass Bürger – wie auch zu früheren Wahlen – die Wahlbeteiligung von der Realisierung persönlicher Forderungen und Anliegen abhängig zu machen versuchen (Wohnungs- und kommunale Probleme, Verbesserung der Versorgung mit Ersatzteilen u. a.).
Derartige Verhaltensweisen werden in der Regel motiviert mit solchen Erfahrungen, wonach man bestimmte gesellschaftliche Höhepunkte ausnutzen könne, um individuelle Ansprüche kurzfristig durchzusetzen.
In diesem Zusammenhang wird – auch unter progressiven Kräften verbreitet die Ansicht vertreten, warum erst im Zeitraum unmittelbar bevorstehender Wahlen große Aktivitäten entwickelt werden, das Gespräch mit dem Bürger gesucht wird und bisher unerledigte Eingaben realisiert werden.
Unter Jung- und Erstwählern ist zum Teil ein ungenügendes Interesse an der Vorbereitung und Durchführung der Volkswahlen festzustellen. Foren für Erstwähler werden oft nur schwach besucht.
Unverständnis zeigen teilweise Studenten bezüglich der durch ihre Studieneinrichtungen getroffenen Regelung, die Wahl unbedingt am 14. Juni im Wahllokal ihres Studienortes durchzuführen und keine Sonderwahllokale nutzen zu dürfen.7
Die Aussprache mit kirchlichen Amtsträgern, Theologen, kirchlichen Mitarbeitern sowie Mitgliedern von Gemeindekirchenräten hat sich weiter verstärkt. Fragen der Erhaltung des Friedens und des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche spielten die dominierende Rolle. Überwiegend stehen diese Personen positiv zu den im Wahlaufruf des Nationalrates der Nationalen Front der DDR genannten Vorschlägen zur Durchsetzung der Friedenspolitik.8 Verschiedene Geistliche beider Konfessionen, die bisher nicht an Wahlen teilnahmen, bekundeten in diesem Zusammenhang ihre Absicht zur Teilnahme an der Wahl.
Ein Pfarrer im Bezirk Erfurt brachte z. B. zum Ausdruck, dass er durch die Ausführungen des Generalsekretärs des ZK der SED auf dem X. Parteitag und der speziellen Aufforderung an die Christen zur Mitarbeit bei der weiteren Ausgestaltung der sozialistischen Gesellschaft in der DDR in seinem Entschluss zur Wahlbeteiligung bestärkt wurde.
Wahlvorbereitende Veranstaltungen der Arbeitsgruppe »Christliche Kreise«9 bei den Kreisausschüssen der Nationalen Front werden vorrangig von solchen Bürgern besucht, die sich durch ihre gesellschaftliche Funktion dazu verpflichtet fühlen. Gering blieb der Kreis eingeladener kirchlicher Amtsträger.
Während Aussprachen mit kirchlichen Amtsträgern in Vorbereitung der Wahlen wurde deren teilweise differenzierte Einstellung zu innen- und außenpolitischen Fragen sichtbar. So versuchte eine Reihe dieser Personen u. a. ihr Engagement für die DDR von der Realisierung bestimmter Forderungen abhängig zu machen, z. B. der Bereitstellung staatlicher Mittel für die Instandhaltung kirchlicher Bauten.
Wie in zurückliegenden Jahren sind erneut Ankündigungen besonders aus dem genannten Personenkreis bekannt, der Wahl fernzubleiben. Dabei wird folgendermaßen argumentiert:
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der Glaube verbiete es, an der Wahl teilzunehmen;
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eine Nichtteilnahme bedeute, sich ein »kleines Stück persönlicher Freiheit zu erhalten«;
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die Nichtteilnahme sei Ausdruck ihrer gegen die sozialistischen Verhältnisse in der DDR gerichteten Einstellung;
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die Wahlen seien bedeutungslos und hätten auf die Änderung der Machtverhältnisse in der DDR keinen Einfluss; auch die Blockparteien hätten keine Daseinsberechtigung mehr, da sie den Aufbau des Sozialismus auf »ihre Fahnen geschrieben hätten«.
Darüber hinaus wurden Argumente gegen den Wehrunterricht an den Schulen,10 die Medienpolitik der DDR und den gesetzlich festgelegten Mindestumtausch11 bei Einreisen in die DDR vorgebracht.
Bisher wurden keine gegen den Wahlablauf am 14. Juni 1981 gerichteten Handlungen bekannt. Vereinzelte Vorkommnisse in Sonderwahllokalen, wo Wähler aus einer feindlich-negativen Einstellung heraus bzw. aus persönlicher Verärgerung politisch provozierend auftraten und z. B. die Wahlscheine zerrissen, blieben ohne Öffentlichkeitswirkung und ohne Einfluss auf das Wahlgeschehen insgesamt.