Bevölkerungsreaktionen zur Lage in der VR Polen (1)
18. August 1981
Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung der DDR im Zusammenhang mit der Lage in der VR Polen [Bericht O/101a]
Hinweisen aus allen Bezirken der DDR zufolge wird unter allen Schichten der Bevölkerung die Situation in der VR Polen permanent und mit großer Besorgnis verfolgt und diskutiert. Abhängig von den bekannt werdenden Ereignissen in und Veröffentlichungen über die ernste Lage in der VR Polen1 nehmen die Diskussionen darüber zeitweise einen großen Umfang an.
Die Diskussionen werden mit großer Mehrheit sachlich geführt und sind weiterhin gekennzeichnet von der
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festen Verbundenheit mit der Partei- und Staatsführung der DDR sowie deren Politik, insbesondere der Friedenspolitik;
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Freundschaftlichkeit und Verbundenheit mit der Sowjetunion sowie der Betonung der Notwendigkeit der Übereinstimmung der sozialistischen Bruderländer;
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parteilichen, klassenmäßigen Einschätzung der in der VR Polen entstandenen Situation sowie der internationalistischen Haltung gegenüber dem polnischen Nachbarstaat und der Bruderpartei;
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Verurteilung der antisozialistischen Umtriebe in der VR Polen und Besorgnis, dass es konterrevolutionären Kräften gelingen könne, dauerhafte Positionen einzunehmen;
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Meinung, die »Tatenlosigkeit« der polnischen Partei- und Staatsführung habe unverzeihliche Ausmaße angenommen.
Kennzeichnend für die gegenwärtige Reaktion der Bevölkerung der DDR im Zusammenhang mit den zunehmenden Aktivitäten antisozialistischer und konterrevolutionärer Kräfte ist die Besorgnis um die Einheit und Geschlossenheit der sozialistischen Staatengemeinschaft sowie um die weitere Zukunft des sozialistischen polnischen Staates.
Teilweise wird argumentiert, durch die Tatenlosigkeit der Führung der PVAP sei die gesamte Partei Polens gelähmt, und es werde immer sichtbarer, dass die Lage von der polnischen Führung nicht mehr beherrscht werde, dass »Solidarność« die Situation im Lande weiter zuspitze und anstrebe, die politische Macht zu erringen.2
Hinweisen zufolge haben viele Bürger den IX. Parteitag der PVAP3 mit Interesse verfolgt, meist in der Annahme, dass von diesem Forum die Festlegung der Generallinie erfolge und unmittelbar danach mit der praktischen Umsetzung begonnen würde.
Danach war in zahlreichen Diskussionen Enttäuschung zu erkennen, teilweise verbunden mit Fragen, wie die Entwicklung weitergehen solle.
Von vielen Mitgliedern der SED und fortschrittlichen Kräften wird in Meinungsäußerungen hervorgehoben, dass der vom Ersten Sekretär des ZK der PVAP vorgetragene Bericht des ZK keine klassenmäßige Analyse der Lage in der VR Polen und in der PVAP und keine klare Orientierung für den Kampf gegen die konterrevolutionären Kräfte beinhaltet.
Der Parteitag habe die Fortdauer der Konzeptionslosigkeit und ideologischen Widersprüchlichkeit in Grundfragen der Politik der Partei bestätigt. Es sei für viele Außenstehende der Eindruck entstanden, dass von der polnischen Parteiführung das Wirken der konterrevolutionären Kräfte und die von ihnen ausgehenden Gefahren für den Sozialismus verharmlost und durch revisionistische sowie opportunistische Auffassungen weiter entkräftet würden.
Hervorgehoben wird in Diskussionen weiter, die Aussagen und Formulierungen zur Freundschaft Polens mit der UdSSR und den anderen sozialistischen Staaten hätten den Eindruck von formalen Beteuerungen hinterlassen. Bestürzung habe bei Kommunisten und fortschrittlichen Bürgern hervorgerufen, dass weder während des IX. Parteitages der PVAP noch danach eine Zurückweisung des Antisowjetismus, der in Polen anwachse, zu erkennen sei.
Mehrfach wird in Diskussionen fortschrittlicher Kräfte mit Besorgnis festgestellt, die PVAP gebe eine Kampfposition nach der anderen auf, es sei eine zunehmende Verwirrung in der Partei, eine »Demokratisierung« des Parteilebens nach dem Muster westlicher sozialdemokratischer Parteien und die Aufgabe bisheriger leninistischer Normen zu erkennen. Ständig wurden sogenannte Abrechnungen mit der Vergangenheit in einem Maße erfolgen, dass kein Platz mehr bleibe für konstruktive Forderungen und Festlegungen, die Generallinie der PVAP für die nächste Zukunft betreffend.
In weiteren Diskussionen wird vermerkt, der Parteitag habe auch die letzten Positionen einer marxistisch-leninistischen Partei aufgegeben, und revisionistische sowie opportunistische Kräfte hätten endgültig die Führung übernommen. Das spiegle sich auch in der Zusammensetzung des ZK der PVAP und seines Politbüros wider, in denen diese Kräfte die Oberhand gewonnen hätten.
»Solidarność« sei offiziell mit Mehrheit im Zentralkomitee vertreten und habe damit legal die Möglichkeit, in der Folgezeit die wenigen noch verbliebenen ehrlichen Kommunisten zu überstimmen und zu verdrängen.4
Die Autorität der Partei sei weiter gesunken und der Einfluss der Kommunisten auf vielen Gebieten bereits völlig zum Erliegen gekommen.
Resonanz und breite Zustimmung hat insbesondere bei vielen Arbeitern der Brief des ZK der KPdSU an das ZK der PVAP gefunden.5 Hervorgehoben wird, darin sei die Lage real vom Klassenstandpunkt aus eingeschätzt worden. Die Orientierung sei wesentlich für das richtige Erkennen der Schwerpunkte, Zusammenhänge und Hintergründe und wäre wichtig für die Festlegung vorwärtsweisender Maßnahmen. Häufig wird die Frage gestellt, ob und wie dieser Brief auch den polnischen Arbeitern zur Kenntnis gelange.
Meinungen werden dahingehend geäußert, der Brief bleibe vermutlich bei den breiten Massen der Werktätigen Polens wirkungslos, da diese infolge der Irreführung durch die konterrevolutionären Kräfte und »Solidarność« die Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit und Besorgnis der Sowjetunion nicht erkennen würden.
Breites Unverständnis besteht über den Zustand, dass große Teile der Bevölkerung Polens offensichtlich auch nicht erkennen würden, dass ihre nachlässige Einstellung zur produktiven Arbeit, ihre Teilnahme an Streiks usw. zur weiteren Destabilisierung der Wirtschaft des Landes führen.
Es wird betont, dass die gegenwärtige schlechte wirtschaftliche Lage in der VR Polen nur zu überwinden sei, wenn Streiks unterbleiben und alle arbeitsfähigen Bürger einer geregelten Arbeit nachgehen.6
Eingeschätzt wird, dass ohne die solidarische Hilfe und Unterstützung der sozialistischen Staatengemeinschaft die Lage noch weitaus komplizierter wäre.7 Über die Rückzahlung der gegenwärtig entstandenen Schulden bestehen ernsthafte Zweifel.8
Die Mitteilung über die Lieferung von 10 000 t Fleisch seitens der DDR an die VR Polen9 löste unterschiedliche Reaktionen aus. Einerseits wird die Notwendigkeit der Unterstützung der VR Polen anerkannt, andererseits jedoch bezweifelt, ob sich die DDR eine solch umfassende Hilfe leisten könne. Es liegen auch zahlreiche ablehnende Meinungsäußerungen zu dieser Hilfeleistung vor, die zumeist solche Tendenzen beinhalten:
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Derartige Maßnahmen werden sich negativ auf die Versorgung der Bevölkerung auswirken. Damit wird Polen in seinen Streikaktionen bestärkt.
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Es ist unverantwortlich, dass die DDR-Bürger unter der verfahrenen Wirtschaftspolitik Polens leiden sollen. Die polnische Regierung muss selbst die Initiative übernehmen und besonders in der Landwirtschaft konkrete Maßnahmen durchsetzen.
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Die Lieferung von 10 000 t Fleisch stellt letztlich doch nur einen Tropfen auf den heißen Stein dar und könne die in der VR Polen bestehenden Versorgungsschwierigkeiten nicht lösen. Polen nehme »von beiden Seiten« und tue nichts außer zu streiken.
In einigen Fällen wurde die Frage aufgeworfen, durch wen und wie ehrliche Kommunisten, die trotz der angespannten Situation in Polen im marxistisch-leninistischen Sinne öffentlich wirksam sind, unterstützt werden. Die Solidarität der Bruderparteien müsse sich besonders auf diese fortschrittlichen Kräfte in Polen konzentrieren, um sie in ihrem Standpunkt zu ermutigen.
Bürger aus verschiedenen Schichten der Bevölkerung vertraten die Auffassung, dass es an der Zeit wäre, die Lage in der VR Polen »gewaltsam« zu normalisieren und die sozialistischen Verhältnisse zu stabilisieren. Diese Aufgabe könne nur durch die polnische Armee selbst bewältigt werden. Eine »Militärregierung« und der »Ausnahmezustand« wären nötig, um Ruhe und Ordnung in der VR Polen wieder herzustellen.
In diesem Zusammenhang besteht teilweise Unverständnis, wonach von der polnischen Führung bisherige Möglichkeiten nicht mit diesem Ziel genutzt worden seien. Dabei wird an den »ungenutzten« Ablauf der Kommandostabsübung »Sojus 81«10 erinnert. In Einzelfällen wird auf die gegenwärtig im Südosten der DDR stattfindenden gemeinsamen taktischen Übungen von Truppenteilen und Einheiten der NVA der DDR und der polnischen Armee hingewiesen.