Bevölkerungsreaktionen zur Lage in der VR Polen (4)
22. Dezember 1981
3. Bericht zur Reaktion der Bevölkerung der DDR auf die Vorgänge in der VR Polen [Bericht O/101d]
Die am 13.12.1981 in der VR Polen eingeleiteten Maßnahmen zur Zerschlagung der Konterrevolution stehen nach wie vor im Mittelpunkt der Gespräche in allen Bevölkerungskreisen der DDR.1
Generell ist im breiten Umfang Genugtuung und Erleichterung zu erkennen, dass die eingeleiteten Maßnahmen in der VR Polen konsequent fortgesetzt werden. Damit wird vielfach die Hoffnung verbunden, dass die Konterrevolution endgültig zerschlagen wird und in der VR Polen in absehbarer Zeit wieder Ruhe und Ordnung einziehen.
Unter breiten Kreisen der Bevölkerung der DDR sind Veränderungen im Stimmungsbild dahingehend erkennbar, dass nach der Phase einer zunächst spontanen Zustimmung zu den Maßnahmen des Militärrates nach Ausrufung des Ausnahmezustandes jetzt ein tiefgründigeres Nachdenken, intensives Beschäftigen mit den Ursachen und Hintergründen sowie dem derzeitigen Ablauf der Vorgänge erfolgt.
Dabei dominieren weiterhin
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Zustimmung zu den Maßnahmen und Aktivitäten des Militärrates;
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Genugtuung über das konsequente Vorgehen der bewaffneten Organe gegen die Konterrevolutionäre, auch mittels Anwendung von Gewalt und über die exakte Vorbereitung der verfügten Beschlüsse und Verordnungen sowie den hohen Geheimhaltungsgrad der Maßnahmen;
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Anerkennung des klugen und taktischen Vorgehens der polnischen Armee und der Sicherheitsorgane und der disziplinierten, hohen Einsatzbereitschaft der bewaffneten Organe unter erschwerten Einsatzbedingungen;
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Genugtuung, dass wichtige Zweige der Wirtschaft der VR Polen wieder in Gang gesetzt wurden und werden.
Zunehmend werden unter allen Teilen der Bevölkerung – z. T. unter dem Eindruck der in den letzten Tagen bekannt gewordenen Aktionen von Konterrevolutionären gegen bewaffnete Organe – Meinungen geäußert, die bisherigen Erfolge seien hoch einzuschätzen, aber nicht überzubewerten. Teilweise gibt es Hinweise auf Lehren aus den Vorgängen in Polen in zurückliegenden Jahren.
Übereinstimmend wird darauf verwiesen, eine sofortige Normalisierung der Situation in der VR Polen werde nicht erwartet; es sei offensichtlich ein längerer Zeitraum notwendig, die Masse der polnischen Werktätigen vom richtigen Weg zu überzeugen, nachdem jahrelange Versäumnisse in der politisch-ideologischen Arbeit zugelassen wurden.
Die Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand seien nur ein erster Schritt; die politische und ökonomische Stabilisierung des Landes sei noch viel komplizierter und allein mit Maßnahmen des Militärrates nicht mehr zu bewältigen.
In geringerem Umfang, aber in allen Bezirken vorhanden, werden Fragen nach der gegenwärtigen Führungsrolle der PVAP gestellt, wobei gleichzeitig auf die großen Versäumnisse in der Vergangenheit aufmerksam gemacht wird (Mitglieder der SED, aber auch aus Arbeiterkreisen kommend). Verwiesen wird darauf, dass sich die Führung der PVAP in der gegenwärtigen Situation bisher nicht mit einer offiziellen Erklärung an die Mitglieder der PVAP und das polnische Volk gewandt habe. Daraus wird geschlussfolgert, dass offensichtlich die Uneinheitlichkeit im ZK der PVAP nachhaltig wirke.
Einen sehr großen Umfang nehmen Meinungsäußerungen zu den Solidaritätsmaßnahmen der DDR für die VR Polen ein. Dabei dominieren eindeutig Zustimmung und Bereitschaft zu Solidaritätsleistungen.2
Progressive Bürger, aber darüber hinaus auch jene, die sich in der Vergangenheit weniger politisch äußerten oder sich abwartend verhielten, begrüßen die Solidaritätsaktion; Meinungsäußerungen beinhalten solche Auffassungen:
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die Hilfsgüter werden durch Verantwortliche der bewaffneten Organe jetzt in die richtigen Kanäle geleitet;
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die Notlage in den polnischen Familien ist größer als angenommen; es ist Pflicht der Arbeiter, gegenseitig Hilfe zu leisten;
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viele Arbeiter sind keine überzeugten »Solidarność«-Anhänger, sondern nur »Mitläufer«; sie erhalten Hilfssendungen zu Recht;
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die polnische Bevölkerung muss spüren, dass sich unter der jetzigen Führung in der Versorgung sichtbare Verbesserungen einstellen; dadurch werde in Arbeiterkreisen der Einfluss von »Solidarność« zurückgedrängt und eventueller Widerstand gebrochen.
Die Bereitschaft, im Rahmen der Solidaritätsaktion einen persönlichen Beitrag zu leisten, ist wesentlich gestiegen. Zunehmend wird aber darauf hingewiesen, Voraussetzung für die Weiterführung der Aktion müsste die feste Zusicherung der polnischen Seite sein, dass die polnischen Werktätigen diszipliniert ihrer Arbeit nachgehen, sich bemühen, aus eigener Kraft die Wirtschaft in Gang zu setzen und Feinde streng und unnachgiebig bestraft werden.
Bedenken und Zurückhaltung im Zusammenhang mit der Solidaritätsaktion widerspiegeln sich im geringen Umfang in Meinungsäußerungen besonders von Beschäftigten der Leicht- und Lebensmittelindustrie, wonach
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die Hilfe nicht so weit gehen dürfe, da dadurch ernsthafte Schwierigkeiten für die Versorgung der Bevölkerung der DDR erwachsen könnten (mit Hinweis auf Tagesproduktionen von Backwarenkombinaten, Molkereien, Schlacht- und Fleischverarbeitungsbetrieben, Kinderkonfektionsbetrieben, Herstellungsbetrieben von Säuglingsnahrung, u. a. als Hilfssendungen für die VR Polen);
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ein Widerspruch entstanden sei zwischen den intensiven Kraftstoffeinsparungen in der DDR und dem Transport der Hilfsgüter durch NKW (mit Hinweis auf Möglichkeiten der weiteren verstärkten Nutzung von Gütercontainern auf dem Schienenwege).
Vereinzelt wurden Meinungsäußerungen bekannt, die Paketaktion sei lediglich als Reaktion auf Hilfeleistungen aus dem westlichen Ausland zu sehen.3
Vereinzelt gibt es Meinungsäußerungen, sich nicht an der Spendenaktion zu beteiligen, wobei gleichzeitig bestimmte nationalistische Haltungen erkennbar sind. Die entsprechenden Argumente beinhalten im Wesentlichen:
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die polnischen Bürger hätten in der Vergangenheit mehrfach ihre Anti-DDR-Haltung bewiesen und könnten die Hilfe der DDR nicht würdigen;
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die Arbeitsunlust der Polen, die sich u. a. in Streiks geäußert habe, müsste jetzt von der Sowjetunion und der DDR wirtschaftlich getragen werden;
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lieber spenden wir für afrikanische Völker, für Kuba oder Vietnam, dort seien die Ursachen der mangelhaften wirtschaftlichen Lage besser zu begreifen;
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durch die Hilfssendungen würde weitere Arbeitsbummelei in Polen begünstigt;
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in Polen würde in ähnlicher Situation nichts für die DDR gegeben;
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die »Hamstereinkäufe« der polnischen Bürger in der DDR müssten durch Regierungsmaßnahmen unterbunden werden, und jetzt rollen Züge und NKW mit in der DDR geschaffenen Werten dorthin; wo ist da der Unterschied?
Unmut wurde in Einzelfällen dahingehend geäußert, die jetzige Solidaritätsaktion sei übertrieben und wirke – auf die Kinderpaketaktion bezogen – in ihrer Geschäftigkeit angesichts des Ernstes der Lage »lächerlich«.
Neu im Stimmungsbild der Bevölkerung sind bestimmte Erwartungshaltungen, wie die Entwicklung in der VR Polen weiter verlaufen müsste. (Alle Schichten der Bevölkerung, besonders Arbeiter und andere fortschrittliche Bürger.)
Vordergründig werden dabei besonders folgende Meinungsäußerungen festgestellt:
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Erwartung der endgültigen Abrechnung mit Verrätern und Opportunisten;
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Neubeginn und Verstärkung der ideologischen Arbeit unter der Bevölkerung im Sinne der Verbreitung der marxistisch-leninistischen Weltanschauung;
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fleißige, zielgerichtete Arbeit in der Volkswirtschaft;
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Abrechnung mit der bisherigen Landwirtschaftspolitik, stärkere Orientierung auf die Gestaltung der sozialistischen Landwirtschaft;
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Sammlung ehrlicher Arbeiterfunktionäre und Mitglieder der PVAP;
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Säuberung des Partei- und Staatsapparates von Anhängern von »Solidarność« und zentrale Leitung der gesamten Volkswirtschaft;
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strengere Maßnahmen gegen kriminelle Handlungen und Spekulantentum, insbesondere gegen Einzelbauern, die Lebensmittel horten.
Erwartet wird zunehmend ein entschiedeneres Vorgehen des Militärrates gegen die polnische katholische Kirche. Bei Betonung, die Haltung von Bischof Glemp4 sei lediglich als Taktik, nicht aber als Einstellung zu den Maßnahmen zu werten, bestehen z. T. Befürchtungen, der Kirche würden legale Möglichkeiten zum Unterschlupf und zur Sammlung konterrevolutionärer Kräfte eingeräumt.
Auch weiterhin werden eine Reihe Fragen besonders von Studenten u. a. jugendlichen Personenkreisen gestellt, die z. T. aus Unkenntnis, mangelnder politischer Klarheit bzw. durch den Einfluss westlicher Massenmedien entstehen. Diese Fragen konzentrieren sich auf folgende Probleme:
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Was ist Ziel und Inhalt des Ausnahmezustandes? Ist er gleichzusetzen mit einem Militärputsch?
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Auf welche Zeitdauer wird [werden] der Ausnahmezustand und die Militärregierung veranschlagt?
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Die gegenwärtige Form der Machtausübung ist kein Aushängeschild für einen sozialistischen Staat. Ist eine Militärdiktatur im Sozialismus überhaupt vereinbar mit dem Marxismus/Leninismus?
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Welcher Verfahrensweg gilt für »Solidarność«-Anhänger, die Mitglieder des ZK der PVAP sind? Was wurde aus Kania?5
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Wie viele Personen wurden bisher tatsächlich interniert,6 und wie wird mit ihnen verfahren, was ist mit Wałęsa?
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Steht die polnische Armee hinter dem Militärrat, oder gibt es Meutereien?
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Wie wird sich das Grenzregime zwischen der DDR und der VR Polen gestalten?
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Wie wird sich in der VR Polen künftig die Rolle der Gewerkschaft gestalten?
Obwohl Meinungen mit feindlich-negativen, abwertenden und z. T. verleumderischen Aussagen einen geringen Umfang haben und, da sie meist im Kreise Gleichgesinnter geäußert werden, in den meisten Fällen nicht öffentlichkeitswirksam sind, ist in den letzten Tagen inhaltlich eine stärkere Differenzierung festzustellen. Dabei macht sich eine zunehmende Beeinflussung von »Argumenten« westlicher Medien bemerkbar.
Die mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes in der VR Polen dominierende Tendenz der Zurückhaltung und abwartenden Haltungen in dem Kreis der in Operativen Vorgängen bearbeiteten und unter OPK stehenden Personen in der DDR hat sich in den letzten Tagen dahingehend verändert, dass diese Personen jetzt zum Teil offen unter Gleichgesinnten mit feindlich-negativen Positionen in Erscheinung treten.
In einigen Fällen wurden die Maßnahmen des Militärrates abgelehnt und unverhohlen Sympathien mit den Personen in der VR Polen bekundet, die sich gegen die eingeleiteten Maßnahmen auflehnen.
Hervorzuhebende Argumente im feindlich-negativen Stimmungsbereich sind:
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die in Polen bestehende »Militärdiktatur« verletze die Menschenwürde und sei gleichzusetzen mit der Junta in Chile;7
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hinter den Aktionen der Polen stehe der »Russe«, es sei in Polen jetzt das Gleiche wie zu Stalins Zeiten; wer nicht gehorche, werde erschossen;
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durch die DDR-Medien werde bewusst falsch informiert; in Wirklichkeit wehre sich das polnische Volk gegen die Willkürmaßnahmen;
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die Entwicklung in Polen habe gezeigt, dass das polnische Volk überhaupt keinen Sozialismus wolle;
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in Polen sollten »freie Wahlen« durchgeführt werden, das Ergebnis wäre der Beweis, was das Volk wünscht;
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das polnische Volk werde sich letztendlich doch »freikämpfen« und nicht aufgeben; die »Militärdiktatur« könne sich nicht durchsetzen; das polnische Volk lasse sich nicht wie bei den Vorgängen in Ungarn (1956)8 und in der ČSSR (1968)9 mit vorgehaltener Pistole regieren;
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die Solidaritätsmaßnahmen der DDR seien im Grunde wirkungslos, da die »wirkliche Hilfe« aus westlichen Ländern komme;
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die Internierungslager würden an die Hitlerzeit erinnern.
In wenigen Einzelfällen äußerten namentlich bekannte feindlich-negativ eingestellte Personen intern,
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auch in der DDR müsse nach polnischem Vorbild um »Freiheit« gerungen werden;
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die gegenwärtigen politischen Verhältnisse in der DDR könnten in Zukunft auch nur nach dem Muster eines Militärrates aufrechterhalten werden;
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auch in der DDR habe ein gewisser Teil der Funktionäre die Verbindung zur Arbeiterklasse verloren.