Bevölkerungsreaktionen zur Vorbereitung des X. Parteitages (1)
9. März 1981
Erste Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung der DDR im Zusammenhang mit der Vorbereitung des X. Parteitages [Bericht O/94a]
Vorliegenden Hinweisen aus allen Bezirken der DDR und aus der Hauptstadt Berlin zufolge nehmen Meinungsäußerungen im Zusammenhang mit der Vorbereitung des X. Parteitages der SED zu.1 Insgesamt ist ihr Umfang jedoch noch gering.
Die Meinungsäußerungen beschränken sich gegenwärtig überwiegend auf Mitglieder der SED, progressive Bürger und weitere Werktätige. Schwerpunkte traten dabei nicht in Erscheinung.
In vielen Fällen sind Ausgangspunkte Diskussionen über den XXVI. Parteitag der KPdSU,2 die Durchführung der Delegiertenkonferenzen der SED, insbesondere der Bezirksdelegiertenkonferenzen,3 sowie die durch Partei- und Gewerkschaftsorganisationen entfalteten Wettbewerbsinitiativen in Vorbereitung des X. Parteitages.
Im Vordergrund stehen progressive und politisch positive Meinungsäußerungen in der Richtung, am Inhalt und im Wesen der Politik der Partei- und Staatsführung werde sich auch mit dem X. Parteitag nichts grundlegend ändern. Die Ausführungen des Genossen Honecker in Gera4, auf der Bezirksdelegiertenkonferenz der SED in Berlin,5 im Interview mit dem britischen Verleger Robert Maxwell,6 im Gespräch mit dem Sonderkorrespondenten der »Humanité«, Yves Moreau,7 und insbesondere die Ansprache vor dem XXVI. Parteitag der KPdSU8 würden eindeutig zum Ausdruck bringen, dass die DDR nach wie vor an ihrer konsequenten politischen Linie festhält.
Weitere Meinungsäußerungen beinhalten, der XXVI. Parteitag der KPdSU habe von den politischen Aussagen her die Markierungspunkte gesetzt für die anschließend folgenden Parteitage der Bruderparteien der sozialistischen Länder. Der X. Parteitag der SED würde zu Fragen der Außenpolitik mit Sicherheit auch keine andere Strategie festlegen.
Es wird davon ausgegangen, dass die Politik der Partei- und Staatsführung in der DDR weiterhin darauf gerichtet sein wird, den Frieden zu erhalten und die neuen Initiativen der Sowjetunion im Sinne der Politik für Frieden, Abrüstung und Entspannung zu unterstützen.
Weiter wird erwartet, dass der Parteitag konsequent den bisherigen Weg der erfolgreichen Wirtschafts- und Sozialpolitik zum Wohle des ganzen Volkes fortsetzen und dazu die notwendige Grundlinie für die erste Hälfte dieses Jahrzehnts aufzeigen wird.
Progressive Bürger äußerten, der X. Parteitag werde auf zwei wesentliche Grundlinien orientieren: Die konsequente Fortsetzung der Politik zur Erhaltung des Friedens und die Politik, die der Erhaltung, Sicherung und Weiterentwicklung des Volkswohlstandes diene.
Mehrfach beinhalten Diskussionen, viele Bürger der DDR seien von der einfachen und offenen Sprache des XXVI. Parteitages der KPdSU beeindruckt, wobei die Erwartung zum Ausdruck gebracht wird, auch der X. Parteitag möge diese klare Sprache finden, die für alle Bürger verständlich wäre. Einzelne Meinungen drücken aus, die Sprache in den Kommunikationsmitteln der DDR, in Kommuniqués, Verlautbarungen und Partei- und staatlichen Dokumenten sei mitunter so kompliziert, »hochtrabend und bis zum allgemein unüblichen Sprachgebrauch tendierend«, dass den einfachen Bürgern das Lesen und Verarbeiten des Inhalts schwerfalle.
Aus Kreisen von Journalisten und progressiven Schriftstellern wurde darauf verwiesen, der XXVI. Parteitag der KPdSU habe klar umrissene konstruktive Aufgaben zur Verstärkung der ideologischen Arbeit, zur Tätigkeit der Massenmedien, für die Propagandaarbeit sowie zum schnelleren Reagieren auf aktuelle Fragen gestellt, die insgesamt auch Gültigkeit für die Propagandaarbeit der SED besitzen würden. Entsprechend klar umrissene Aufgabenstellungen müssten auch in den Beschlüssen des X. Parteitages der SED enthalten sein.
Ebenfalls seien in den Dokumenten des XXVI. Parteitages Ziele und Aufgaben der Kulturpolitik klar dargelegt worden, die, bezogen auf die DDR, in den Materialien des X. Parteitages ebenfalls notwendig wären.
In diesem Zusammenhang wurde von einzelnen Kulturschaffenden geäußert, die praktische Durchführung und Umsetzung der Kulturpolitik in der DDR ließe in den letzten Jahren und gegenwärtig eine Reihe von Fragen und Unklarheiten offen, sodass es notwendig wäre, nicht nur in verallgemeinerter, sondern praxisbezogenerer Form grundlegend dazu Ausführungen zu machen.
Hinweisen aus allen Bezirken der DDR zufolge treten mehrfach Erwartungshaltungen, bezogen auf Ergebnisse des X. Parteitages der SED, auf. Territoriale oder personenbezogene Schwerpunkte wurden nicht bekannt.
Die Erwartungshaltungen oder Unklarheiten, Spekulationen und Fragen beziehen sich überwiegend auf sozialpolitische Aspekte und solche Gesichtspunkte, wonach
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eine Rentenerhöhung bevorstünde und das Rentenalter herabgesetzt würde,9
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bestimmte Lohnerhöhungen erfolgen könnten (u. a. Bereich Gesundheitswesen, Angestellte allgemein),
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das Wohnungsbauprogramm weiter forciert würde, da sonst die gestellten Ziele nicht erreicht würden,
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ein strengeres Bewertungssystem für Arbeitsleistungen und -abrechnungen in allen wirtschaftlichen Bereichen eingeführt werde, um mangelhafte Arbeitsdisziplin, Stillstandszeiten, Schluderei u. a. zu beseitigen,
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Arbeitskräfteumverteilungen aus Verwaltungen in die materielle Produktion erfolgen sollen,
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Maßnahmen getroffen würden, die das Warenangebot in Qualität und Quantität sowie in allen Preisgruppen stabil gewährleisten,
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ein günstiges und gerechtes Verteilungssystem für solche Waren, die vorläufig in nicht ausreichender Menge zur Verfügung gestellt werden können, festgelegt und geschaffen würde (z. B. gerechtes, kontrollierbares Bestellsystem für Kühltruhen, Farbfernsehgeräte, Waschautomaten u. a.),10
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Festlegungen getroffen würden, um Spekulationen, Unter-Ladentisch-Verkäufen u. a. negativen Erscheinungen im Handel konsequent entgegenzutreten,
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keinerlei weitere sozial-politische Maßnahmen zu erwarten seien, da sich die DDR mit den bisher beschlossenen übernommen hätte und dadurch auf ökonomischem Gebiet Rückschläge erfolgt wären,
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die Durchführung einer Amnestie bevorstünde,
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eine Herabsetzung des »Reisealters« für Reisen in das nichtsozialistische Ausland und Erweiterungen von Möglichkeiten für Reisen von Nichtrentnern in das nichtsozialistische Ausland geschaffen würden,
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eine Herabsetzung des Mindestumtauschsatzes für aus der BRD/Westberlin einreisende Rentner gebilligt werden könnte.11
In Einzelfällen erfolgte Meinungsäußerungen zur gegenwärtigen Informationspolitik beinhalten, das Maß von Veröffentlichungen und Verlautbarungen zu politischen Themen (angeführt werden Delegiertenkonferenzen, XXVI. Parteitag der KPdSU, Vorbereitung X. Parteitag) werde in den Zeitungs- und elektronischen Medien bei Weitem überschritten; vermutlich würde dies im Zusammenhang mit dem X. Parteitag noch zunehmen. Arbeiter, die z. B. im Fernsehen überwiegend Entspannung suchen würden, seien damit überfordert und würden auf Westkanäle ausweichen.
Ebenfalls vereinzelt wurden negative und feindliche Argumente bekannt. So wurde von dem MfS bekannten Personen geäußert,
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der X. Parteitag werde lediglich eine »Propagandaschau«; Änderungen würden in keiner Weise erwartet,
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ökonomisch sei die DDR sowieso »abgewirtschaftet«; daran könne auch ein Parteitag nichts ändern,
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die wirklichen Schwierigkeiten und Probleme würden auch auf dem Parteitag nicht angesprochen, da sonst die Partei- und Staatsführung jegliches Vertrauen verliere,
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wie die Werktätigen wirklich über »das System« denken, werde in Polen deutlich;12 die sozialistischen Länder hätten deshalb »Furcht«, dort einzugreifen; der Parteitag könne daran auch nichts ändern,
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der Parteitag werde tagelang nur Erfolge aufzählen; in Wirklichkeit würde die Entwicklung aber anders verlaufen; viele Bereiche würden »auf der Stelle treten«,
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der Funktionärsapparat der SED sei ähnlich wie der der KPdSU »überaltert«; es werde Zeit, dass jüngere Kader »nachgezogen« würden.