Bevölkerungsreaktionen zur Vorbereitung des X. Parteitages (2)
30. März 1981
Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung der DDR im Zusammenhang mit der Vorbereitung des X. Parteitages der SED [Bericht O/94b]
Vorliegenden Hinweisen aus allen Bezirken der DDR und aus der Hauptstadt Berlin zufolge nehmen gegenwärtig Reaktionen der Bevölkerung zum bevorstehenden X. Parteitag der SED von Umfang und Intensität her zu. Wesentliche Akzente werden dabei durch die verstärkten Aktivitäten in Vorbereitung des Parteitages gesetzt.1
Die von Bezirksdelegiertenkonferenzen, Aktivtagungen, Verpflichtungen, Auszeichnungsveranstaltungen für Kollektive und Einzelpersönlichkeiten ausgehenden Forderungen, Orientierungen und Aufgabenstellungen bilden weiterhin in Vorbereitung des X. Parteitages eine wesentliche Grundlage für das Engagement vieler Werktätiger in allen volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen.
Viele Diskussionen geben Aufschluss über positive, offensive Grundhaltungen zur politischen, ökonomischen und sozialen Entwicklung der DDR unter Führung der SED sowie über Auseinandersetzungen mit entwicklungshemmenden Faktoren und die Prüfung der Realisierbarkeit vorwärtsweisender Vorschläge.
Viele Kollektive in Betrieben und der Landwirtschaft entwickeln zahlreiche Initiativen zur Erfüllung der Pläne und zusätzlicher Aufgaben, wobei die Diskussionen insbesondere darauf gerichtet sind, die dazu erforderlichen Reserven zu erschließen und dabei auftretende Probleme zu überwinden.
Ausgangspunkt vieler Meinungsäußerungen zum X. Parteitag der SED sind die Beschlüsse und Dokumente des XXVI. Parteitages der KPdSU.2 Vielfach kommt darin zum Ausdruck, dass die vom XXVI. Parteitag der KPdSU erneut ausgegangenen Friedensbestrebungen auf dem X. Parteitag der SED Unterstützung finden und Grundlage auch für die Außenpolitik der DDR sein werden. Dabei finden insbesondere Zustimmung die Initiativen und neuen Vorschläge der Sowjetunion zur Minderung der Kriegsgefahr und Erhaltung des Friedens, der Zügelung des Wettrüstens einschließlich der militärischen Entspannung und Abrüstung in Europa, der Bereitschaft zu einem Treffen zwischen den führenden Repräsentanten der Sowjetunion und der USA.3
Viele Meinungsäußerungen gehen davon aus, dass auch in den Dokumenten des X. Parteitages der SED der unbedingte Friedenswille der DDR zum Ausdruck gebracht und erneut bekräftigt wird.
Insgesamt beinhalten bzw. beeinflussen die Diskussionen
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Wertungen der Rolle der DDR im Hinblick auf notwendige Maßnahmen zur Friedenssicherung,
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Vergleiche und Erwägungen zu Einzelfragen – insbesondere auf ökonomischem Gebiet –, die vom XXVI. Parteitag der KPdSU gestellt wurden,
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Auseinandersetzungen mit Mängeln und anderen Erscheinungen in ökonomischen und gesellschaftlichen Bereichen der DDR, inspiriert vom XXVI. Parteitag der KPdSU,
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Erwartungshaltungen und Spekulationen hinsichtlich möglicher Festlegungen und Beschlüsse durch den X. Parteitag der SED auf den verschiedensten Gebieten.
In zahlreichen Diskussionen in allen Bevölkerungsschichten der DDR wird die Erwartung zum Ausdruck gebracht, dass auch der X. Parteitag der SED eine so einfache, offene, für jeden verständliche Sprache finden möge wie der XXVI. Parteitag der KPdSU und gleichzeitig bei direkter Benennung noch bestehender Mängel, Probleme und Schwerpunkte klare Wege und Ziele abstecken sollte, wie diese Hemmnisse zu überwinden seien.
Zahlreiche Meinungsäußerungen machen darauf aufmerksam, dass der X. Parteitag eine erfolgreiche Bilanz ziehen könnte und die DDR in wirtschaftlicher und sozialpolitischer Hinsicht Erfolge errungen habe. Gleichzeitig wird von Werktätigen auf bestehende Probleme aufmerksam gemacht, die der X. Parteitag der SED in der Gesamtbilanz nicht unberücksichtigt lassen könnte.
So wird verwiesen auf
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zum Teil unkontinuierliche Planerfüllungen in bestimmten Betrieben und verschiedentlich notwendige Plankorrekturen (Wirtschaftskader),
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ungenügende Arbeits- und Plankoordinierungen zwischen Betrieben, u. a. solchen, die einem Kombinat angehören,
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teilweise Stillstandszeiten und »Zwangspausen« infolge ungenügender Materialreserven und -zulieferungen (verschiedene Betriebszweige, Bauwesen),
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weiterhin bestehende Engpässe in der Versorgung mit bestimmten Artikeln.
In Einzelfällen (Wirtschaftskader) wurde darauf verwiesen, dass entgegen der bisherigen Praxis kurze Zeit vor dem Parteitag noch kein Entwurf für den 5-Jahr-Plan 1981 bis 1985 veröffentlicht sei; dadurch sei auch keine Diskussion darüber möglich, und die Wirtschaftszweige würden vor vollendete Tatsachen gestellt. In diesem Zusammenhang wurde in einigen Fällen bemerkt, der Jahresplan 1980 und der dazu auf dem 13. Plenum des ZK der SED gegebene Erfüllungsbericht4 würden eine Reihe Widersprüche – Nichterfüllung wichtiger Eckziffern – erkennen lassen.
Mehrfach wird erwartet, dass der Parteitag zur Versorgungssituation in der DDR Stellung nehmen werde. Überwiegend wird davon ausgegangen, in den letzten Monaten habe sich eine spürbare Verbesserung in der Versorgung mit Artikeln des täglichen Bedarfs abgezeichnet.
Trotzdem blieben jedoch viele Probleme und Lücken offen, besonders die Kreisstädte und Landgemeinden betreffend. Aufmerksam wird gemacht auf Angebotslücken bei Haushaltswäsche, Baumwollerzeugnissen, Untertrikotagen, Schuhen, technisch hochwertigen Konsumgütern, vielen Arten von Ersatzteilen u. a. Den Unwillen der Bevölkerung rufe ein teilweise nicht ausreichendes Angebot in den unteren Preisklassen für verschiedene Warenarten hervor, während das Angebot in der höchsten Preisklasse immer besser gewährleistet werde. Die allgemeine »Preisexplosion« im Warenangebot stehe in keinem Verhältnis zum Lohngefüge der unteren Lohnstufen und stehe mit dem Monatseinkommen »normaler Arbeiter« nicht in Übereinstimmung.5 In einigen Fällen werden vom X. Parteitag der SED Aussagen zur Entwicklung und zum Anteil der offiziell bezeichneten drei Preisgruppen erwartet.
Hinweisen aus allen Bezirken der DDR zufolge sind Erwartungshaltungen und Spekulationen von Bürgern breiter Schichten der Bevölkerung auf den X. Parteitag der SED weiterhin angestiegen.
Diese Erwartungshaltungen, die oftmals verbunden sind mit Unklarheiten bzw. Fragestellungen, beziehen sich insbesondere auf solche Probleme wie
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Erhöhung der Renten allgemein, speziell aber der Mindestrenten,6
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Herabsetzung des »Reisealters« für Reisen in das nichtsozialistische Ausland,
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Herabsetzung des Mindestumtauschsatzes7 für aus der BRD/Westberlin einreisende Rentner in die DDR,
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Verbesserung der Versorgungslage, insbesondere Überwindung noch bestehender Engpässe,
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Erhöhung bestimmter Gehaltsgruppen für einzelne Berufszweige (Diskussionen mehren sich derzeitig in den Bereichen mittleres medizinisches Personal),
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Verbesserungen der Wohnverhältnisse für dringende Fälle,
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Verbesserungen der Bedingungen im Berufsverkehr (vornehmlich Landkreise),
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Erhöhung der Stipendien an Universitäten und Hochschulen,
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Einführung der 40- bzw. 42-Stunden-Woche,8
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Wegfall des Unterrichts in POS und EOS an den Sonnabenden und Veränderung der Ferientermine,9
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Durchführung einer Amnestie.
In Einzelfällen wurden Spekulationen (Jugendliche, Angehörige der NVA) bekannt, wonach der Grundwehrdienst in der DDR aufgrund der sich verschärfenden internationalen Lage auf zwei Jahre erhöht und neu festgesetzt werden könnte.
Stärkeren Umfang nehmen Diskussionen und Spekulationen ein, wonach der X. Parteitag der SED klare Aussagen und Stellungnahmen zur Situation in Polen vornehmen könnte. Es wird davon ausgegangen, dass sie sich inhaltlich an den von TASS veröffentlichten Stellungnahmen orientieren könnten. In zunehmendem Maße wird, vor allem von älteren Bürgern, mit Besorgnis geäußert, in Polen könnte es unter den gegenwärtigen Umständen zur offenen Auseinandersetzung kommen, in die Angehörige der NVA, die sich zurzeit noch im Manövereinsatz befänden, mit hineingezogen werden könnten.10
Häufig wird in großer Sorge und mit Beunruhigung, jedoch voller Hoffnung, erwartet, dass die Führungen der sozialistischen Bruderländer und ihrer Arbeiterparteien noch Mittel und Wege fänden, eine offene Konfrontation in Polen abzufangen.11
Vereinzelt treten weiterhin abwertende, negative, verleumderische und feindliche Argumente in Erscheinung. Dabei ist der Einfluss westlicher Massenmedien nicht zu übersehen.
Sie beziehen sich überwiegend auf
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Verleumdungen der Wirtschafts- und Sozialpolitik der DDR,
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Herabwürdigungen der Leistungen auf Gebieten der Versorgung und Hervorhebung noch bestehender Mängel,
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Verächtlichmachung der Veröffentlichungen über Planerfüllungen und Verpflichtungsbewegungen,
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Unglauben an die Erreichung gegebener Zielstellungen, u. a. in der Wohnungspolitik,
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Herabwürdigungen von anlässlich des X. Parteitages der SED vorgenommenen Auszeichnungen mit dem »Ehrenbanner« des ZK der SED,
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Hervorhebung der angeblichen »Propagandaschau« der SED und der »Demonstrierung der Macht« durch das Politbüro.