Fahnenflucht eines Offiziers der Grenztruppen im Eichsfeld
24. November 1981
Information Nr. 608/81 über die bisherigen Ergebnisse der Untersuchungen zur Fahnenflucht eines Offiziers der Grenztruppen der DDR am 21. November 1981
Am 21.11.1981, zwischen 22.45 und 23.00 Uhr, wurde der Berufsoffizier der Grenztruppen der DDR, Hauptmann [Name 1, Vorname] (28), Leiter der III. Grenzwache Ecklingerode, Grenzregiment 4 Heiligenstadt, Grenzkommando Süd Erfurt, Mitglied der SED seit Juni 1973, in Höhe der Grenzsäule 1158 unter Mitnahme seines Wehrdienstausweises sowie von 31 GVS- bzw. VVS-Dokumenten nach Überwindung der Grenzsicherungsanlagen (ohne Sperranlage 501)1 nach der BRD fahnenflüchtig.
[Name 1] war seit 29. Mai 1972 Angehöriger der Grenztruppen der DDR, studierte bis 1975 an der Offiziershochschule der Grenztruppen der DDR »Rosa Luxemburg« und war seitdem in mehreren Funktionen (Zugführer, Stellvertreter des Kompaniechefs, Offizier für Grenzaufklärung) in grenzsichernden Einheiten eingesetzt. Im Zusammenhang mit der Erprobung eines weiterentwickelten Systems der Grenzsicherung – Grenzwachen – auf Regimentsebene erfolgte am 15.9.1981 sein Einsatz als Leiter der III. Grenzwache Ecklingerode. In dieser Funktion entwickelte er wenig Eigeninitiative und Entschlusskraft, resignierte bei Schwierigkeiten und wurde den gestellten Anforderungen nicht gerecht.
Am 18.11.1981 hatte [Name 1] beim Kommandeur des Grenzregiments 4 Heiligenstadt ein Gesuch eingereicht mit der Begründung, ihn von der Funktion eines Leiters der Grenzwache zu entbinden, da er den Aufgaben nicht gewachsen sei. Am 19. und 21.11.1981 wurden daraufhin durch den Stabschef, den Stellvertreter des Leiters der Politabteilung und den Oberoffizier Kader des Grenzregiments 4 Aussprachen mit [Name 1] geführt, in deren Ergebnis festgelegt wurde, [Name 1] bis 15.12.1981 von seiner Funktion zu entbinden und als Offizier Grenzsicherung in der IV. Grenzwache Günterrode einzusetzen. Mit dieser Entscheidung war [Name 1] einverstanden.
Am 21.11.1981, 7.45 Uhr, war [Name 1] mit freiwilligen Helfern der III. Grenzwache2 zur Teilnahme an einem Erfahrungsaustausch zum Stab des Grenzregiments 4 Heiligenstadt befohlen. Nach Beendigung dieser Beratung begab sich [Name 1] in die Gaststätte [Name der Gaststätte], Kreis Worbis, danach in die Gaststätte Ecklingerode und anschließend erneut – gegen 17.45 Uhr – in die Gaststätte [Name der Gaststätte]. Von hier aus verständigte [Name 1] den Diensthabenden Offizier der Grenzwache und teilte ihm mit, dass er gegen 19.30 Uhr in der Dienststelle eintreffen werde. Entgegen dieser Ankündigung verblieb [Name 1] zunächst noch bis 21.00 Uhr in der Gaststätte und nahm gemeinsam mit einem Freiwilligen Helfer der Grenztruppen sowie zwei Unterführern der Grenzwache größere Mengen Alkohol zu sich. (In der Gaststätte [Name der Gaststätte] beglich [Name 1] eine Rechnung über 20 Glas Bier, acht doppelte Schnäpse und drei Flaschen Sekt.)
Nach Eintreffen in der Dienststelle befahl [Name 1] dem Diensthabenden der Grenzwache, Unteroffizier [Name 2], den Kraftfahrer, Soldat [Name 3], und den Unteroffizier [Name 4] zu beauftragen, sich für den Grenzdienst zu einer Kontrolle fertig zu machen. Gleichzeitig forderte er Unteroffizier [Name 2] auf, ihm sofort den Koffer mit den VS-Dokumenten und Dienstvorschriften auf sein Zimmer zu bringen.
Gegen 22.15 Uhr begab sich [Name 1] in Felddienstuniform mit zugeknöpftem Regenumhang zum bereitgestellten Kraftfahrzeug – LO – und fuhr, ohne den Unteroffizier von der Abfahrt verständigt zu haben, allein mit dem Kraftfahrer in Richtung Staatsgrenze bis zur Straße Ecklingerode – Duderstadt. Ca. 100 m vor dem Tor 5 des Grenzsignalzaunes befahl [Name 1], das Kfz zu stoppen, beauftragte den Kraftfahrer, zur Dienststelle zurückzufahren und ihn am 22.11.1981, um 2.00 Uhr, am Tor 2 wieder abzuholen, wobei er äußerte, dass er den Grenzsignalzaun in Richtung Tor 2 ablaufen wolle (die Entfernung zwischen beiden Toren beträgt ca. 2 500 m). Der Kraftfahrer leistete der Weisung Folge.
Vom Tor 5 aus rief [Name 1] über das Grenzmeldenetz den Diensthabenden Offizier der Hauptführungsstelle an und teilte mit, dass er sich zu einer gedeckten Postenkontrolle in den Grenzabschnitt begibt. Unmittelbar danach drang [Name 1] in den Handlungsraum ein und überwand mittels zwei gefertigter Schlingen aus isoliertem Kupferdraht sowie unter Zuhilfenahme seines Regenumhanges und dem Besteigen eines Betonbegrenzungspfahles die Grenzsicherungsanlage.
Das Fahnenfluchtverbrechen wurde begünstigt durch mangelhafte Wachsamkeit in der Grenzwache und im Grenzbataillon sowie Unordnung in der Führung der Einheiten, den Missbrauch der Dienststellung als Kommandeur und die nicht erfolgte Durchsetzung der in Auswertung vorangegangener Fahnenfluchten getroffenen Festlegungen über das strikte Verbot des Betretens des 500-m-Schutzstreifens durch Einzelpersonen, unabhängig von ihrer Dienststellung. Entgegen bestehender Befehle war der Kraftfahrer bei der Fahrt mit [Name 1] in das Grenzgebiet nicht mit einer Waffe ausgerüstet.
Bei den vom Verräter entwendeten und mit nach der BRD verbrachten GVS- bzw. VVS-Dokumenten handelt es sich um Dienstvorschriften sowie Befehle, Weisungen und Arbeitsmittel zur Sicherstellung der Organisation und Durchführung des Dienstes in grenzsichernden Einheiten, Signal- und Meldetabellen, Details der Grenzsicherungsanlagen, einschließlich Minenschlüssel 501, sowie ein 72 Blatt umfassendes Grenzdienstbuch (VVS) mit Aufzeichnungen über die Erprobung des neuen Systems der Grenzsicherung.
Der Fahnenflüchtige hat, bedingt durch seinen langjährigen Einsatz in verschiedenen Dienststellungen in grenzsichernden Einheiten, Kenntnisse u. a. über die Struktur, Dislozierung der Führungsorgane, Einheiten und Einrichtungen des Grenzregiments 4, einschließlich der Besetzung der wichtigsten Dienststellungen des Truppenteils mit Führungskadern, die Organisation und Führung der Grenzaufklärung, die Organisation und Funktion des Zusammenwirkens mit den anderen Schutz- und Sicherheitsorganen, die Struktur, Stärke, Bewaffnung und Ausrüstung des Grenzbataillons sowie Grundsätze der Organisation, Führung und Sicherstellung der normalen, verstärkten und gefechtsmäßigen Grenzsicherung, einschließlich der Festlegungen für den Übergang zu einer höheren Stufe der Gefechtsbereitschaft. Er verfügt des Weiteren über Kenntnisse zu den Grundsätzen der Organisation, Führung und Sicherstellung der Grenzsicherung in der Erprobung des weiterentwickelten Systems der Grenzsicherung.
Zu [Name 1] lagen – außer den bereits erwähnten Schwierigkeiten bei der Bewältigung der Anforderungen an einen Leiter der Grenzwache – keine Hinweise auf Unzuverlässigkeitsfaktoren und Konfliktsituationen im Arbeits- und Freizeitbereich vor. [Name 1] ist verheiratet und hat drei Kinder (1, 2, 9 Jahre). Seine Ehefrau ist Mitglied der SED. Die Ehe verlief bisher harmonisch. (Ein Bruder des [Name 1] ist Angehöriger des Ministeriums des Innern; ein Schwager Offizier im VPKA Karl-Marx-Stadt.)
Es wurden Maßnahmen eingeleitet, um [Name 1] möglichst zur Rückkehr in die DDR zu veranlassen.