Meuterei von NVA-Soldaten in Erfurt
29. Juni 1981
Information Nr. 326/81 über die Nichtausführung von Befehlen und Widerstand gegen Vorgesetzte durch Soldaten des Artillerieregimentes 4 Erfurt, 4. MSD, MB III, am 21. Juni 1981
Am 21. Juni 1981, gegen 19.00 Uhr, kam es im Ergebnis der gezielten Anwendung der Schusswaffe (ohne Personenschaden) durch den erstmals zum Wachdienst im Objekt des Artillerieregimentes 4 Erfurt eingesetzten Posten, Soldat [Name 1, Vorname] (19), Kanonier der 5. Batterie Grundwehrdienst seit Mai 1981, gegen vier Angehörige dieses Regimentes, die unerlaubt in das Objekt eingedrungen waren, der Aufforderung zum Stehenbleiben nicht Folge leisteten und auch auf einen Warnschuss nicht reagierten, zu schweren Ausschreitungen von ca. 50 bis 70 NVA-Angehörigen gegen Offiziere und Wachposten.
Im Ergebnis der durch das MfS geführten Untersuchungen wurden am 26. Juni 1981 gegen die Soldaten im Grundwehrdienst
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Soldat [Name 2, Vorname] (25) Artillerieaufklärer, 7. Batterie Grundwehrdienst seit Mai 1980, 1971 vorbestraft wegen Diebstahls sozialistischen Eigentums (fünf Monate Freiheitsstrafe),
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Gefreiter [Name 3, Vorname] (23), Funker, Stab III. Abteilung, Grundwehrdienst seit Mai 1980,
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Soldat [Name 4, Vorname] (20), Kraftfahrer, 7. Batterie, Grundwehrdienst seit Mai 1980,
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Soldat [Name 5, Vorname] (23), Kanonier, 7. Batterie, Grundwehrdienst seit Mai 1980,
Ermittlungsverfahren gemäß §§ 257 StGB – Nichtausführung eines Befehls – und 267 StGB – Widerstand gegen Vorgesetzte – eingeleitet und Haftbefehle erlassen. Gegen drei weitere Angehörige dieser Einheit wurden Arreststrafen ausgesprochen.
Die bisher durch das MfS geführten Untersuchungen ergaben:
In den Nachmittagsstunden des 21. Juni 1981 entfernten sich mindestens 20 Angehörige des o. g. Truppenteils, darunter auch die vier festgenommenen NVA-Angehörigen, unter Ausnutzung schadhafter Stellen im Objektzaun aus dem Objekt, um Alkohol zu beschaffen und diesen illegal in das Objekt einzuschleusen.
Sie kehrten zu unterschiedlichen Zeiten in das Objekt zurück, wobei sie mehrere Postenbereiche passierten, was durch die Wachposten toleriert wurde.
Gegen 19.00 Uhr drang auf diese Weise eine Gruppe von vier NVA-Angehörigen, unter ihnen Gefreiter [Name 3], in den Postenbereich des Soldaten [Name 1] ein. Die Aufforderung zum Stehenbleiben befolgten sie nicht und flüchteten in das Innere des Objektes. Nach Abgabe eines Warnschusses feuerte [Name 1] drei kurze Feuerstöße auf die Flüchtenden ab, ohne sie zu treffen.
Auf die Schüsse aufmerksam geworden, begaben sich NVA-Angehörige verschiedener Einheiten aus den Unterkunftsgebäuden und vom Sportplatz in Richtung dieses Postenbereiches. In wenigen Minuten entstand eine Ansammlung von 50 bis 70 NVA-Angehörigen. Während sich die Mehrzahl passiv verhielt, beschimpften ca. zehn Soldaten den pflichtgemäß handelnden Soldaten [Name 1] mit Ausdrücken wie »Mörder«, »Du kannst Dir einen Strick nehmen« u. Ä.
Entgegen dem ausdrücklichen Befehl des hinzugekommenen Gehilfen des Offiziers vom Dienst (GOvD), Oberleutnant [Name 6], und nur durch Androhung der Anwendung der Schusswaffe konnten fünf NVA-Angehörige, unter ihnen [Name 2] und [Name 4], am neuerlichen Eindringen in den Postenbereich gehindert werden.
Als der Wachhabende, Unterleutnant [Name 7], den Soldaten [Name 1] zur Ablösung abholen wollte, wurde er umringt, und von [Name 5] wurde versucht, den Offizier durch einfache körperliche Gewalt zu Fall zu bringen. Einer sofortigen Festnahme konnte sich [Name 5] mithilfe von [Name 2] vorerst entziehen.
Oberleutnant [Name 6] und Unterleutnant [Name 7] konnten sich, da mehrere Soldaten sie weiterhin umringten und bedrängten, nur mit gezogener und durchgeladener Pistole den Weg zum Wachlokal bahnen. Dabei wurden sie erneut beschimpft sowie mit faustgroßen Steinen und Flaschen beworfen. Unter dem Einfluss der zwei Offiziere und von Unteroffizieren löste sich die Ansammlung nach ca. 45 Minuten auf.
Bei den vier festgenommenen Angehörigen der NVA handelt es sich, bisherigen Untersuchungen zufolge, um Personen, die in gestörten familiären Verhältnissen aufwuchsen und wegen Lern- und Erziehungsschwierigkeiten teilweise nur den Abschluss der 8. Klasse erreichten. [Name 2], einer der Hauptakteure, wird als renitent charakterisiert, mit einer verfestigten negativen Grundeinstellung.
Alle vier Angehörigen der NVA sind wegen verbotenen Alkoholgenusses in der Dienststelle, unerlaubter Entfernungen und Verweigerungen des militärischen Gehorsams mehrfach disziplinarisch zur Verantwortung gezogen worden, ohne dass eine positive erzieherische Wirkung erreicht wurde.
Nach dem bisherigen Stand der Untersuchung wurde das schwere Vorkommnis insbesondere begünstigt durch
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eine ungenügende politisch-ideologische Arbeit mit dem Personalbestand, vor allem unter den Bedingungen des Garnisonsdienstes und im Freizeitbereich,
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ernste Mängel in der militärischen Führungstätigkeit und der Aufrechterhaltung der militärischen Ordnung und Disziplin,
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die Unterschätzung und teilweise nicht objektive Beurteilung von in der Vergangenheit aufgetretenen groben Verstößen gegen die militärische Disziplin und Ordnung durch die Divisions- und Regimentsleitung,
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die teilweise Unterschätzung der Auswirkungen der sogenannten EK-Bewegung,
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eine unwirksame Disziplinarpraxis.
Unmittelbar mit Beginn der Untersuchungen wurde durch die Divisions- und Regimentsleitung sowie durch die Partei- und FDJ-Organisation mit der Auswertung des Vorkommnisses begonnen.