Öffentlicher Protest einer DDR-Bürgerin gegen ihre soziale Notlage
15. Juni 1981
Information Nr. 311/81 über das demonstrative Auftreten einer DDR-Bürgerin in Berlin-Mitte, Alexanderplatz, am 12. Juni 1981
Am 12.6.1981, gegen 15.00 Uhr, wurde durch Angehörige der Deutschen Volkspolizei in Berlin-Mitte, Alexanderplatz, die Bürgerin der DDR, [Name 1, Vorname 1] (21) geb. [Tag, Monat] 1960 wohnhaft: Berlin-Mitte, [Straße, Nr.], Laborantin im VEB NARVA Berlin, die ihre 11½-Monate alte Tochter in einer umgehängten Babytragetasche vor der Brust trug, bei der Durchführung einer Demonstrativhandlung festgestellt und vorläufig festgenommen.
Die [Name 1] hatte ihrer Tochter ein Pappschild (Größe 23 × 12 cm) um den Hals gehängt, das handschriftlich mittels Kugelschreiber (Schrifthöhe ca. 1 cm) mit folgendem Text beschriftet war:
»Wer hilft uns, wir, junge Mutti, 21 Jahre, und Tochter, 11½ Monate, wurden in ein Hinterhofloch gesetzt und erhalten keine Unterstützung, um dieses instandzusetzen. [Vorname 1] und [Vorname 2 Name 1], [Straße, Nr.]«. (s. Anlage)
Die Zeitdauer des demonstrativen Auftretens vor dem Eingang des Centrum-Warenhauses betrug ca. zwei bis drei Minuten. Das Plakat wurde durch einen Bürger vom Hals des Kindes entfernt und dem Sicherheitsorgan übergeben. Während dieser Zeit sammelten sich ca. 20 bis 25 Personen an diesem Ort an, die teilweise mit der [Name 1] über diese Handlung diskutierten, jedoch keine Zustimmung dazu äußerten.
Die im Zusammenhang mit der Klärung dieses Sachverhaltes, der Ursachen und Motive geführten Untersuchungen haben ergeben:
Die [Name 1] lebte von Oktober 1979 bis November 1980 in Lebensgemeinschaft mit dem Buchdrucker [Name 2, Vorname] (26), der auch der Vater ihres Kindes ist, in Berlin-Mitte, [Straße, Nr.] zusammen. Im November 1980 trennte sich die [Name 1] aufgrund von ernsthaften Zerwürfnissen von [Name 2] und bezog illegal eine seit Oktober 1980 leerstehende Wohnung in 1040 Berlin, [Straße, Nr.]. Nach dem Bezug dieser Wohnung setzte sich die [Name 1] – in Kenntnis der Rechtswidrigkeit ihrer Handlung – mit dem Rat des Stadtbezirkes Berlin-Mitte, Abteilung Wohnungspolitik, in Verbindung, informierte über den illegalen Bezug der Wohnung und erklärte, sich von dem [Name 2] getrennt zu haben, da sie u. a. von ihm – unter Alkoholeinfluss stehend – geschlagen worden sei.
Im Januar/Februar 1981 fanden beim Rat des Stadtbezirkes Berlin-Mitte bzw. der Kommunalen Wohnungsverwaltung Berlin-Mitte Aussprachen mit der [Name 1] statt, in denen sie aufgefordert wurde, die rechtswidrig bezogene Wohnung zu räumen und in die Wohnung des [Name 2] zurückzuziehen, was von ihr abgelehnt wurde.
Im März 1981 suchte die [Name 1] die Abteilung Wohnungspolitik beim Magistrat von Berlin und die öffentliche Sprechstunde des Staatsrates der DDR auf, wo sie in einer mündlichen Eingabe um Unterstützung bei der Klärung des Wohnungsproblems bat. Im Ergebnis dieser Eingabe wurde die [Name 1] während einer im März 1981 erfolgten Aussprache in der Abteilung Wohnungspolitik des Rates des Stadtbezirkes Berlin-Mitte bei Zusicherung, sie mit geeignetem Wohnraum zu versorgen, erneut zur Räumung der von ihr bezogenen Wohnung aufgefordert. Die [Name 1] erklärte sich schriftlich mit dieser Festlegung einverstanden. Eine ihr Anfang Mai 1981 zugewiesene 2-Zimmer-Wohnung in der [Straße, Nr.] lehnte die [Name 1] ab, da ihr die Lage der Wohnung und der Zustand der sanitären Anlagen nicht zusagten.
Bei einer erneuten Vorsprache bei der Abteilung Wohnungspolitik des Rates des Stadtbezirkes Berlin-Mitte am 12.5.1981 wurde ihr die Entscheidung mitgeteilt, dass sie im Falle der nicht freiwilligen Räumung der rechtswidrig bezogenen Wohnung mit der Zwangsräumung zu rechnen habe. Am 8.6.1981 kam die [Name 1] mit der Vormieterin der Wohnung in der [Straße, Nr.] überein, diese Wohnung zu beziehen und den Umzug am 12./13.6.1981 zu realisieren. Diesen Entschluss teilte die [Name 1] am 12.6.1981 der Abteilung Wohnungspolitik des Rates des Stadtbezirkes Berlin-Mitte mit und erhielt die schriftliche Bestätigung über die Zuweisung dieser Wohnung. Anschließend suchte die [Name 1] die Kommunale Wohnungsverwaltung Berlin-Mitte auf und bat um die Ausstellung eines Bezugscheines für einen Gasherd (der vorhanden gewesene Gasherd ist Eigentum der Vormieterin) sowie (da sie finanziell hierzu gegenwärtig nicht in der Lage sei) um die Zurverfügungstellung weißer Latex-Farbe zur Renovierung der Wohnung.
In diesem Zusammenhang entwickelte sich zwischen der [Name 1] und der zuständigen Mitarbeiterin der KWV ein heftiger Wortwechsel, wobei der [Name 1] gegenüber durch die Mitarbeiterin der KWV erklärt worden sein soll, dass sie keine Zeit habe und die [Name 1] sich am 16.6.1981 wieder melden solle, die KWV-Mitarbeiterin sich die Wohnung erst ansehen müsse, um die Berechtigung für den Anspruch auf Farbe zu prüfen und – in Entgegnung einer Bemerkung der [Name 1], dass sie ihrem Kind ohne Gasherd kein Essen kochen kann – geäußert habe, es sei das Problem der [Name 1], wie sie das Essen für ihr Kind bereite. Nachdem die [Name 1] im stark erregten Zustand die KWV verlassen hatte, entschloss sie sich spontan zum demonstrativen Auftreten mit dem anschließend in ihrer Wohnung angefertigten Plakat.
Die geführten Untersuchungen ergaben übereinstimmend, dass das bisherige Auftreten der [Name 1] gegenüber Mitarbeitern des Magistrats, des Rates des Stadtbezirkes und der KWV Berlin-Mitte anmaßend, frech und uneinsichtig war.
Zum Motiv ihres demonstrativen Handelns erklärte die [Name 1], keinen Ausweg gewusst und damit gerechnet zu haben, nach der von ihr erwarteten Zuführung zur Deutschen Volkspolizei ihre Probleme darlegen zu können, wobei sie erhoffte, in der Folge die Unterstützung der zuständigen staatlichen Organe bei der Klärung ihrer Wohnungsangelegenheit zu erhalten.
Hinweise auf eine politisch-negative Motivation der demonstrativen Handlung der [Name 1] wurden nicht erarbeitet.
Die [Name 1] wurde belehrt und hält sich bis zur Klärung der Wohnungsangelegenheit bei ihrer Mutter in Berlin-Mitte, [Straße, Nr.] auf.
Es wurden Sofortmaßnahmen eingeleitet, die Wohnungsangelegenheit der [Name 1] bis zum 16.6.1981 endgültig zu klären und die Wohnung mit einer entsprechenden Kochgelegenheit auszustatten.
Die Realisierung dieser Maßnahmen wird unter entsprechender Kontrolle gehalten.
Anlage zur Information Nr. 311/81
[Foto und Plakat zur Aktion]
[Plakat, nicht hier am Dokument ediert, siehe Faksimile]