Offener Brief zur Friedenserziehung im Katechetischen Seminar Naumburg
12. Januar 1981
Information Nr. 23/81 über die Vorbereitung eines sogenannten offenen Briefes zur kirchlichen Friedenserziehung durch Seminaristen des Katechetischen Oberseminars Naumburg
Dem MfS wurde streng vertraulich bekannt, dass durch einen internen Kreis von Seminaristen des Katechetischen Oberseminars Naumburg1 (innerkirchliche theologische Ausbildungsstätte) am 16. Dezember 1980 eine Vorlage für einen »offenen Brief« als Aufruf zur Aktivierung der sogenannten Friedenserziehung durch die Kirche entworfen wurde. Die Vorlage soll zur nächsten studentischen Vollversammlung beschlossen und an alle kirchenleitenden Institutionen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR sowie die bischöflichen Ämter der Römisch-katholischen Diözesen in der DDR verschickt werden.2 (Wortlaut der Vorlage siehe Anlage)
In der Vorlage wird u. a. der Willen der Seminaristen des Katechetischen Oberseminars Naumburg bekundet, »nicht mehr durch die Vernichtungsmaschinerie des Schreckensgleichgewichtes geschützt zu werden«, sich »nicht mehr direkt oder indirekt an der Aufrechterhaltung bzw. ideologischen Sanktionierung dieses Sicherheitsrisikos zu beteiligen« und »den Friedensdienst ohne Waffe als das deutlichere Zeugnis des gegenwärtigen Friedensangebotes unseres Herrn zu betrachten«.
In der Vorlage wird weiter die Institutionalisierung der innerkirchlichen Friedensarbeit gefordert, in dessen Gremium Theologen, Pfarrer und Laien mitarbeiten sollen. Dabei soll insbesondere die Arbeit mit den Ortsgemeinden koordiniert und aktiviert werden, wobei u. a. eine intensivere Vorbereitung von Wehrpflichtigen auf die von ihnen zu treffende Gewissensentscheidung erfolgen soll.
Von den Seminaristen werden in der Vorlage die sozialistische Friedenserziehung verunglimpft sowie kirchenleitende Vertreter aufgefordert, in ihren Gesprächen mit Verantwortlichen der Regierung der DDR sich u. a. um die Lösung folgender Probleme zu bemühen:
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Einstellung der Produktion von Kriegsspielzeug sowie Kinderbüchern militärischen Inhalts,
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Abschaffung von schulischen bzw. außerschulischen Veranstaltungen wehrsportlichen Charakters,
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Einstellung repressiver Methoden bei der Werbung zum drei- und mehrjährigen Wehrdienst,
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Einführung eines Schulfaches, das durch Problemorientierung in Fragen des Friedens und der Abrüstung und durch die Förderung friedlicher Verhaltensweisen geprägt ist.3
Nach weiter vorliegenden streng vertraulichen Hinweisen soll der Rektor des Katechetischen Oberseminars Naumburg, Klaer, Ingo, zu den vorgenannten Aktivitäten einer Reihe von Seminaristen eine ablehnende Haltung einnehmen.4
Wie intern bekannt wurde, bestehen zwischen den Bestrebungen der Seminaristen des Katechetischen Oberseminars Naumburg und den Aktivitäten der Arbeitskreise »Erziehung zum Frieden« der Evangelischen Studentengemeinden, insbesondere in Magdeburg, Berlin und Dresden, offenkundig Zusammenhänge. Zum Beispiel wurde bereits am 6. Dezember 1980 in den Gemeinderäumen der Methodistischen Kirche in Magdeburg durch die Evangelische Studentengemeinde Magdeburg eine Umtauschaktion von »Kriegsspielzeug gegen pädagogisch wertvolles Spielzeug« organisiert und durchgeführt.
In diesem Sinne ist auch eine anonyme Briefaktion an Kindergärten in verschiedenen Kreisen des Bezirkes Magdeburg zu werten, wo Eltern aufgefordert werden, ihren Kindern die Beschäftigung mit Kriegsspielzeug zu verbieten.
Seitens des MfS sind entsprechende Maßnahmen zur weiteren Aufklärung und Verhinderung der beabsichtigten Aktivitäten von Seminaristen des Katechetischen Oberseminars Naumburg eingeleitet worden.
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.
Anlage zur Information Nr. 23/81
Die Studentenschaft des KOS | Naumburg, den 16.12.1980 | 48 Naumburg | Domplatz 8
Vorlage an die Studentenvollversammlung
An alle
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Kirchenleitungen der Kirchen des Bundes der Ev. Kirchen in der DDR, Pröpste, Generalsuperintendenten etc. der Kirchen des Bundes der Ev. Kirchen in der DDR
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Bischöflichen Ämter der Röm.-Kath. Diözesen in der DDR
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Vortheologische und Theologische Ausbildungsstätten der Ev. Kirchen in der DDR
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Landesjugendpfarrämter
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Zentrale Ämter der Jungmänner Werke
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ESG-Geschäftsstelle
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Aktion Sühnezeichen (Geschäftsstelle)
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Christliche Friedenskonferenz
Die studentische Vollversammlung der KOS Naumburg hat beschlossen, an die oben genannten Gremien einen offenen Brief zu schreiben. Wir sind beunruhigt über die immer stärker sichtbar werdenden mittelbar und unmittelbar negativen Folgen des Wettrüstens und der Abschreckungspolitik. Unsere Betroffenheit artikuliert sich in der elementaren Frage, wie sie die Synode der Kirchenprovinz Sachsen im November 1980 in Halle ausgesprochen hat »Wie bleiben wir und die anderen am Leben?«
Jeden Einzelnen, jede Institution, jede Regierung wissen wir vor Gott für die Zunahme friedensgefährdender Spannungen verantwortlich.
I.
Mit der Eskalation des Wettrüstens kann die Wahrscheinlichkeit eines künftigen Krieges zur grausamen Realität werden. Die Hoffnung auf eine Sicherung durch das Gleichgewicht des Schreckens schwindet mehr und mehr. Als Bewohner des Zentrums Europas fürchten wir für uns, unsere Mitmenschen und unsere Kinder, die Toten eines künftigen Krieges zu sein.
Wir bekunden hiermit, unseren Willen:
- 1.
Wir halten an dem Ziel der totalen allseitigen Abrüstung und einer gerechten internationalen Ordnung fest.
- 2.
Wir wollen nicht mehr durch die Vernichtungsmaschinerie des Schreckensgleichgewichtes »geschützt« werden.
- 3.
Wir wollen uns nicht mehr direkt oder indirekt an der Aufrechterhaltung bzw. ideologischen Sanktionierung dieses Sicherheitsrisikos beteiligen.
- 4.
Wir wollen uns besonnen dafür einsetzen, dass die Gefahren des Wettrüstens überall, besonders in den Gemeinden, bekannt und bewusst werden.
- 5.
Wir befürworten einseitige Schritte des guten Willens in der Abrüstung, da uns deren Risiko kleiner erscheint, als das durch Rüstung und Abschreckung eskalierende Kriegsrisiko.
- 6.
Wir wollen eine Senkung unseres Lebensstandards in Kauf nehmen, wenn dadurch die Entwicklung zum Frieden gesichert werden kann, in dem Abschreckungssysteme und soziale Not abgebaut werden.
- 7.
Wir wollen bereit sein, in unserem Handeln für eine friedliche Zukunft unser eigenes Opfer einzuschließen.
- 8.
Wir betrachten den Friedensdienst ohne Waffe als das »deutlichere Zeugnis des gegenwärtigen Friedensangebotes unseres Herrn«, das bald zum einzig möglichen Friedenszeugnis im Bereich des Wehrdienstes werden wird.
Jeden Einzelnen, jede Institution, jede Regierung wissen wir vor Gott für die Zunahme friedensgefährdender Spannungen verantwortlich.
II.
Es kann nicht die Aufgabe der Kirche sein, ihre Existenz zu sichern, sondern im alleinigen Vertrauen auf den lebendigen Gott der Welt Zeugnis von ihm zu geben. In einer Zeit, in der die Menschheit unter der Bedrohung der globalen Selbstvernichtung steht, muss der Einsatz für den Frieden zur vorrangigen Aufgabe der Kirche in aller Welt werden, so auch der Kirchen in der DDR.
Die Kirchen, die Gemeinden, die Christen unseres Landes müssen reif dazu werden, ein deutlicheres Friedenszeugnis geben zu können. Dazu gehört auch eine entschiedenere Distanzierung von allen Tendenzen und Praktiken, die Hass, Aggressionsbereitschaft, Krieg und Zerstörung befördern. Dazu zu erziehen, bedarf es noch vieler Aktivitäten, die über bisher Geleistetes hinausgehen. Wir meinen, dass eine unumgängliche Voraussetzung dafür die innerkirchliche Institutionalisierung der Friedensarbeit ist. Darunter verstehen wir die Bildung eines eigenständigen Gremiums aus Theologen, Pfarrern und Laien, die folgende Aufgaben übernehmen:
- 1.
Theologische Begründung des christlichen Friedensengagements:
Hier ist u. a. besonders das Leiden als tragender Bestandteil christlicher Ethik neu zu bedenken. Die Übernahmen des Leidens in der Nachfolge Jesu Christi muss als ein Konstitutivum des christlichen Lebens einsichtig gemacht werden können. Nur so kann es zu angstfreiem, aufbauendem Bekennen und Handeln in Freimut kommen.
- 2.
Beteiligung an der säkularen Friedensforschung:
Hier sind u. a. Probleme der Friedensforschung aufzugreifen und in ihrer Komplexität zu analysieren. Darüber hinaus sind Konzeptionen eines positiven Friedens für das aktuelle Bekennen und Handeln der Gemeinden auszuwerten.
- 3.
Arbeit mit den Ortsgemeinden:
Dazu gehört:
3.1. umfassende Information:
- –
an Gemeindeabenden, in seminaristischen Veranstaltungen, durch vervielfältigte Materialien, die jedem Gemeindemitglied zugänglich gemacht werden müssen.
- –
mit dem Ziel, das Problembewusstsein der Gemeindemitglieder zu heben, Handlungsanweisungen zu erstellen und Hilfe zu persönlichen Schritten des Friedensengagements zu geben.
3.2. Koordinierung und Intensivierung schon bestehender Friedensinitiativen:
Dazu gehört u. a.:
- –
die gezielte Verbreitung und die bewusste Aneignung offizieller Erklärungen der Kirchenleitungen und Synoden zur Friedensproblematik durch die Ortsgemeinden. Es darf nicht so bleiben, dass niveauvolle und Orientierung gebende Verlautbarungen der Kirchenleitungen in den Schreibtischen der Pfarrer verschwinden oder bestenfalls in den Abkündigungen anklingen.
- –
eine in der Gemeinde erfolgende intensive Vorbereitung von Wehrpflichtigen auf die von ihnen zu treffende Gewissensentscheidung sowie deren Begleitung während ihres Wehrdienstes mit und ohne Waffe und derer, die wegen ihres Friedenszeugnisses eine Inhaftierung in Kauf genommen haben.
- –
Es sollte in der Gesellschaft und besonders in der Kirche ein guter Brauch werden, dass jeder sich ein bis zwei Jahre ausschließlich der Arbeit an sozialen Aufgaben als seinem Friedenszeugnis zuwendet. Ein guter Ansatz ist das diakonische Jahr; andere Möglichkeiten wären zu entwickeln, zu organisieren und zu publizieren.
Jeden Einzelnen, jede Institution, jede Regierung wissen wir vor Gott für die Zunahme friedensgefährdender Spannungen verantwortlich.
III.
Wir unterstützen es, wenn sich die kirchenleitenden Vertreter in ihren Gesprächen mit Vertretern der Regierung der DDR um die Lösung folgender Probleme mühen:
- 1.
Kinder und Jugendliche, die statt zu friedlichen Verhaltensweisen zu Hass und Gewaltbereitschaft erzogen werden, können später ihrer Verantwortung während ihres Wehrdienstes nicht gerecht werden. Nur ein Soldat, der das Wissen um die Möglichkeiten friedlicher Konfliktlösung und die Bereitschaft zu friedlichem Verhalten hat, kann glaubwürdig Soldat zum Schutz des Friedens sein. Es sind sichtbare Schritte des Friedensengagements unserer Gesellschaft notwendig, damit die DDR nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten ihre Einstellung zum Frieden international glaubwürdig zu dokumentieren vermag. So kann eine Vertrauensbasis für die Beziehungen zwischen Ost und West geschaffen werden.
Dazu bedarf es:
1.1. der Einstellung der Produktion von Kriegsspielzeug sowie Kinderbüchern militärischen Inhalts,
1.2. der Abschaffung von schulischen bzw. außerschulischen Veranstaltungen wehrsportlichen Charakters, dazu gehören:
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Pioniermanöver »Schneeflocke«5
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Hans-Beimler-Wettkämpfe6
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Wehrkundeunterricht einschließlich der mit ihm verbundenen wehrsportlichen Programme
- –
durch die GST organisierte, militärisch ausgerichtete Kinder- und Jugendarbeitsgemeinschaften, z. B. Pionierpanzerbrigaden
1.3. der Einstellung repressiver Methoden bei der Werbung zum drei- und mehrjährigen Wehrdienst, wie sie besonders in der Schule und während der Ausbildung angewandt werden,
1.4. der Einführung eines Schulfaches, das durch Problemorientierung in Fragen des Friedens und der Abrüstung und durch die Förderung friedlicher Verhaltensweisen geprägt ist.
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Wir nehmen damit den von der Delegation der VR Polen in Belgrad 1977 unterbreiteten Vorschlag bezüglich der Erziehung im Geiste des Friedens auf. Es ist unumgänglich und möglich, diesen Vorschlag schon jetzt in die Tat umzusetzen. Wir halten als vertrauensbildende Maßnahme eine internationale Kontrolle von Schulbüchern und schulischen Lehrinhalten für wünschenswert, deren Ziel die Korrektur verzerrter Darstellungen der Geschichte, der gesellschaftlichen Situation und der Wertbegriffe anderer Völker sowie die Beseitigung von Feindbildern sein soll.
- 2.
Die Bereitschaft zum Frieden kann nur dann glaubwürdig erwiesen werden, wenn die volle Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit hinsichtlich des Friedenszeugnisses gewährt wird. Dazu gehört u. a.:
2.1. dass in unserer Gesellschaft eine offene Diskussion über Fragen des Friedens stattfinden kann. Das ist nicht möglich, solange nur die eine von den Medien publizierte Auffassung vertreten werden darf.
2.2. dass ein ziviler Ersatzdienst eingerichtet wird. Viele Wehrpflichtige erachten auch den Wehrdienst ohne Waffe als ein undeutliches Friedenszeugnis. Auch ihr Wille zum Frieden muss gesellschaftliche Anerkennung finden. Angesichts der schlechten personellen Lage in Krankenhäusern, Altersheimen und ähnlichen Fürsorge-Einrichtungen der DDR würde dies zusätzlich der Behebung eines gesellschaftlichen Missstandes dienen.
In unserer Gesellschaft werden permanent Feindbilder erzeugt und Hass und Gewaltbereitschaft geweckt. Dies verhindert eine positive Einstellung zum Frieden. Bedenkenloses Mitläufertum aus Gründen der Angst oder um persönlicher Vorteile willen fördert diese Tendenz und macht uns mitschuldig. Deshalb unterstützen wir es, wenn immer wieder darauf hingewiesen wird, dass Christen und Nicht-Christen sich durch solches Handeln ihrer Verantwortung für die Gesellschaft entziehen.