Personalpolitische Probleme der Entwicklung der Charité Berlin
10. April 1981
Information Nr. 181/81 über einige weitere aktuelle Probleme der Entwicklung des Bereiches Medizin der Humboldt-Universität zu Berlin (Charité) zum führenden Zentrum der Medizin in der DDR
[Faksimile der Rohfassung der Information]
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen haben sich die seit dem Einsatz des Genossen Prof. Dr. Großer1 als Prorektor für Medizin, des Genossen Dr. Heublein2 als Direktor für medizinische Betreuung und des Genossen Dr. Hujer3 als weiterer Stellvertreter abzeichnende kontinuierliche Entwicklung der Charité4 und der damit verbundene Prozess der verstärkten politischen Stabilisierung und fachlichen Konsolidierung weiter fortgesetzt.
Zur positiven Entwicklung des Bereiches Medizin hat auch die Berufung weiterer fachlich und politisch befähigter Hochschullehrer, Wissenschaftler und Ärzte der DDR an die Charité beigetragen.
So konnten z. B. mit der Berufung von Prof. Zippel5 zum Direktor der Orthopädischen Klinik, von Prof. Bertolini6 zum Direktor des Anatomischen Instituts, von Prof. Hüller7 zum Leiter der Abteilung Klinische Pharmakologie und von Prof. Eckoldt8 zum Direktor des Instituts für Medizinische Biophysik weitere Leitungsprobleme gelöst werden.
Trotz der genannten weiteren Fortschritte bei der Entwicklung und Profilierung der Charité gibt es vorliegenden Hinweisen von Experten zufolge weiterhin eine Reihe noch ungelöster Probleme sowie Mängel und Schwächen, auf die z. T. bereits im Juni 1980 hingewiesen wurde.
Das betrifft insbesondere
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negative Auswirkungen der erfolgten Zusammenlegung der beiden Kliniken für Innere Medizin aufgrund ungelöster Kaderfragen, was wiederum die Lösung fachlicher Grundprobleme hemmen würde; in diesem Zusammenhang wird auch auf die insgesamt mangelhafte Leitungstätigkeit durch Prof. Renger9 verwiesen;
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die nach wie vor unbefriedigende Situation in einzelnen Kliniken und Einrichtungen der Charité (Fachbereiche Stomatologie, Geschwulstklinik, Kinderklinik, Universitäts-Frauenklinik), verursacht vor allem durch die mangelnde Leitungstätigkeit und das z. T. unzureichende wissenschaftliche Leistungsvermögen einzelner Direktoren, was wiederum zur Folge hat, dass in den entsprechenden Einrichtungen nicht immer solch hohe Ziele und Aufgaben für Lehre und Forschung sowie medizinische Betreuung angestrebt und realisiert werden, wie sie diesen Einrichtungen eigentlich zukommen;
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weiterhin ungelöste Kader- und Berufungsprobleme, wie z. B. die bisher nicht erfolgte Besetzung des Lehrstuhles für Mikrobiologie; letztgenannter Umstand erscheint von besonderer politischer Bedeutung, weil dieser Lehrstuhl in enger Beziehung zu dem Wirken von Robert Koch an der Charité steht, dessen Tätigkeit anlässlich des 100. Jahrestages der Entdeckung des Tuberkelbazillus im Jahre 1982 besonders gewürdigt werden soll.
Prof. Dr. Großer hat sich an die Prorektoren für Medizin der anderen Universitäten der DDR mit der Bitte um Vorschläge für die Neubesetzung des Lehrstuhles für Mikrobiologie gewandt. Die eingegangenen Vorschläge konzentrierten sich auf den Leiter des Lehrstuhles für Mikrobiologie an der militärmedizinischen Sektion der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Genossen Prof. Dr. Schmidt.
Mit der Berufung von Genossen Prof. Dr. Schmidt an den Lehrstuhl für Mikrobiologie an der Charité wäre eine klare wissenschaftliche und politische Entwicklung in diesem Bereich sichergestellt.
Aufgrund der noch ungelösten Probleme wird es für notwendig erachtet, in Ergänzung der Information Nr. 278/80 des MfS vom 13. Juni 1980, auf folgende Probleme hinzuweisen:
Als Schwerpunkt für die notwendige Verbesserung der Leitungstätigkeit und die Lösung weiterer dringend anstehender Entwicklungsprobleme gilt für Fachexperten die Klinik für Innere Medizin.
Es wird verbreitet die Auffassung vertreten, dass die dort anstehenden Probleme10 nur durch die Berufung des Genossen Prof. Klinkmann11 (Rostock) zum Direktor der Klinik für Innere Medizin – eine entsprechende zentrale Festlegung besteht – zu lösen seien.
Beachtenswert erscheint jedoch, dass an der Charité viele Diskussionen geführt werden, wonach Prof. Klinkmann doch nicht berufen werde.12 Zahlreiche Mitarbeiter seien dadurch beunruhigt, weil sich immer deutlicher abzeichne, dass der gegenwärtige Direktor der Klinik für Innere Medizin, Genosse Prof. Renger, seinen Aufgaben nicht gewachsen sei. Zum Beispiel ist eine von Prof. Renger entwickelte Kaderkonzeption für die Innere Medizin von der APO-Leitung abgelehnt und durch die Bereichsleitung nicht bestätigt worden, da sie den Prinzipien der Entwicklung und dem Charakter der Charité als wissenschaftliches Zentrum nicht entsprach (z. B. war nur eine ungenügende Anzahl von Ärzten für die wissenschaftliche Arbeit der Charité vorgesehen).
Durch Prof. Renger ist die wirksame Durchsetzung der 1980 fertiggestellten Konzeption für den Bereich Innere Medizin nicht gewährleistet. Nach der Zusammenlegung der beiden Kliniken für Innere Medizin hat sich die Lage dort bedeutend verschärft, vor allem durch ungelöste Probleme im Schwerpunktbereich Kardiologie (Herz-Kreislauf-Forschung).
Es handelt sich dabei um ungelöste Kaderprobleme und Nichtauslastung tatsächlich vorhandener Potenzen.
Durchaus vorhandene medizinische Fachkräfte werden nicht genügend wirksam, da die leitenden Mitarbeiter Prof. Anders13 (Leiter des Fachbereichs), a. o. Prof. Günther14 und a. o. Prof. Parsi15 kaum zusammenarbeiten und dadurch ihre fachlichen Erkenntnisse und Forschungsergebnisse nicht zusammengeführt werden. Hinzu kommt, dass Prof. Anders, dem in einer Forschungsabteilung des Bereiches über 20 Mitarbeiter unterstehen, zugleich hauptamtlicher Chefarzt der 1. Medizinischen Klinik im Krankenhaus Friedrichshain ist und im Bereich Medizin der Humboldt-Universität schon seit Langem keine Vorlesungen mehr hält.
Für die a. o. Professoren Günther und Parsi würden sich im Bereich Medizin der Charité keine weiteren Perspektiven ergeben, weil für beide an der Charité kein Lehrstuhl vorhanden und damit eine Berufung zu ordentlichen Professoren nicht möglich sei. Andererseits bemühten sich die genannten Professoren jedoch intensiv um eine solche Berufung und damit um eine entsprechende Perspektive an der Charité.
Nach vorliegenden Hinweisen gab es in der Inneren Medizin der Charité wiederholt Schwierigkeiten mit der Berufung von Professoren, da auf diesem Gebiet kaum Lehrstühle frei sind, andererseits jedoch Lehrstühle durch Professoren blockiert werden, die bereits ausgeschieden oder für andere Funktionen freigestellt sind, wie z. B. der genannte Prof. Anders und Prof. Brüschke,16 der als Rektor der Akademie für ärztliche Fortbildung freigestellt wurde und die Zeitschrift »Medizin Aktuell«17 herausgibt. (Prof. Günther und Prof. Parsi sind für leitende Funktionen in Einrichtungen außerhalb der Charité vorgesehen.)
Ungeklärt ist gegenwärtig auch die weitere Perspektive der 13 Dozenten im Fachbereich Innere Medizin der Charité.
Nach Expertenmeinungen gebe es auch weiterhin ernsthafte Probleme im Fachbereich Stomatologie der Charité. Angefangen vom Fachbereichsleiter Prof. Zuhrt18 sei das Verhalten der staatlichen Leiter der Stomatologie untereinander durch Misstrauen und Konkurrenz gekennzeichnet.
Dieses Verhalten verhindere die Durchsetzung der an den Fachbereich gestellten Anforderungen.
Der Fachbereichsleiter Prof. Zuhrt habe gegenüber den einzelnen Direktoren der Stomatologie kein Weisungsrecht. Er sei praktisch nur Koordinator zwischen dem Prorektor Medizin und den Direktoren der Stomatologie. Es gebe Vorstellungen in der Richtung, aus dem Fachbereich Stomatologie eine eigene Sektion zu entwickeln, um die Leitung und die Potenzen der Stomatologie zu zentralisieren und damit wirksamer zu machen. Diese Vorstellungen stoßen jedoch – offensichtlich aus vorgenannten Gründen der Konkurrenz und des Ehrgeizes – auf den Widerstand einzelner Direktoren.
Aufgrund dieser Situation im Fachbereich Stomatologie seien dort richtige Grundsatzentscheidungen nicht möglich. Kaderfragen würden nur schleppend bzw. gar nicht entschieden, und die Forschungstätigkeit sei zersplittert.
Seitens der einzelnen Direktoren gebe es eine schlechte Bilanzierung der eigenen Arbeit, und es komme zu Selbstüberschätzungen, die wiederum unberechtigt hohe Kaderanforderungen zur Folge hätten. Dazu im Widerspruch stünde, dass vorhandene Kader nur mangelhaft entwickelt würden, sodass in einigen Fällen perspektivvolle Kader enttäuscht die Charité verlassen hätten. Erschwerend für die genannte Situation wirke der seit Langem anhaltende Mangel an stomatologischen Schwestern.
Hinweisen von Fachleuten zufolge sei in der Geschwulstklinik der Charité nach wie vor eine mangelhafte Leitungstätigkeit, daraus resultierend eine unzureichende Forschungsarbeit und eine mangelhafte Patientenbetreuung sowie eine insgesamt schlechte Gesamtatmosphäre zu verzeichnen.
Es wird erneut eingeschätzt, dass Prof. Dr. Rießbeck19 nicht in der Lage sei, die Geschwulstklinik zu leiten. (Ein geeigneter Nachfolger biete sich jedoch nicht an.)
Der jetzige APO-Sekretär, Genosse Dr. Donath, befinde sich, wie sein Vorgänger, Genosse Dr. Rose, völlig im Schlepptau von Prof. Dr. Rießbeck und werde den an ihn zu stellenden politisch-ideologischen Anforderungen nicht gerecht.
Prof. Dr. Rießbeck und sein Stellvertreter, Prof. zur Horst-Meyer,20 seien miteinander verfeindet.
Aufgrund dieser Situation wolle Frau Dr. Banaschak,21 Leiterin der Frauenabteilung der Geschwulstklinik, die Klinik verlassen.
Weiterhin werde die Lage in der Geschwulstklinik dadurch gekennzeichnet, dass sich die gesamte Abteilung Chemotherapie mit dem Klinikdirektor überworfen habe und in der Abteilung Strahlentherapie ein akuter Ärzte- und Schwesternmangel herrsche. In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass aus der Abteilung Strahlentherapie Ende 1980 die Physiker [Name 1] und [Name 2] ungesetzlich die DDR verließen.
Entsprechenden Hinweisen zufolge hätte sich auch die Situation in der Kinderklinik der Charité trotz zentraler Bemühungen kaum gebessert. Ernsthafte Auswirkungen würden sich bereits auf dem Gebiet Kinderkardiologie im zukünftigen chirurgisch-orientierten Zentrum abzeichnen.
Hinzu komme eine bestehende persönliche Feindschaft zwischen Prof. Dr. Großmann22 als Direktor der Kinderklinik und Prof. Bartel,23 der für die Kinderkardiologie verantwortlich ist.
Darüber hinaus habe das autoritäre Verhalten des Prof. Bartel dazu geführt, dass in letzter Zeit drei qualifizierte Ärzte aus seinem Verantwortungsbereich die Klinik verlassen haben und sich ein weiterer Arzt mit derartigen Gedanken trägt.
Die Lage an der Frauenklinik habe sich unter Leitung von Prof. Bayer24 zwar gebessert, sei jedoch noch immer durch eine hohe Fluktuation unter dem mittleren medizinischen Personal gekennzeichnet. Die wissenschaftliche Arbeit werde dadurch beeinträchtigt, dass lediglich ca. 20 % Spezialbehandlungen durchgeführt werden, während es sich bei den anderen 80 % nur um allgemeine Behandlungen – vorwiegend Schwangerschaftsunterbrechungen – handelt.25
Außer den bereits genannten Kaderproblemen bei der Besetzung leitender Funktionen gibt es nach wie vor insgesamt Schwierigkeiten bei der Besetzung der Planstellen an Krankenschwestern. Gegenwärtig fehlen z. B. allein 120 Krankenschwestern für das chirurgisch-orientierte Zentrum. Als Gründe für die Fluktuation unter den Krankenschwestern werden u. a. angesehen, die geschilderte Situation in einzelnen Kliniken, erhöhte Anforderungen an vorhandene Schwestern infolge der vielen Fehlstellen und die als zu niedrig eingeschätzte Bezahlung des mittleren medizinischen Personals.
Aus gegebenem Anlass wird nochmals auf die Notwendigkeit verwiesen, die äußere Sicherung der Charité durch entsprechende zentrale Maßnahmen (z. B. Kräfteeinsatz) besser zu gewährleisten. Die seit längerer Zeit durch den Bereich Medizin unternommenen entsprechenden Bemühungen brachten bisher keinen Erfolg.
Seitens des MfS wird empfohlen, die in dieser Information nur problemhaft genannten Hinweise zur Situation im Bereich Medizin der Humboldt-Universität seitens zuständiger Organe in geeigneter Form zu überprüfen und entsprechende Maßnahmen zur Beseitigung noch vorhandener Mängel einzuleiten.26