Untersuchungen über bauliche Mängel in den Chemiebetrieben
26. Juni 1981
Information Nr. 314/81 über vorliegende Ergebnisse der Untersuchung bestehender Mängel im baulichen Zustand von Produktionsgebäuden und -anlagen in einigen ausgewählten Kombinaten bzw. Kombinatsbetrieben der Chemischen Industrie der DDR
Auf Veranlassung des MfS wurden von Experten der Staatlichen Bauaufsicht Untersuchungen über bestehende Mängel im baulichen Zustand von Produktionsgebäuden und -anlagen in einigen ausgewählten Kombinaten bzw. Kombinatsbetrieben der Chemischen Industrie geführt.1
Diese Untersuchungen in ausgewählten Produktionsbereichen der Volkseigenen Kombinate Leuna-Werke »Walter Ulbricht« Merseburg, Chemische Werke Buna, Chemiekombinat Bitterfeld und Petrolchemisches Kombinat Schwedt konzentrierten sich vorrangig auf den baulichen Zustand der Industrieschornsteine, von Produktionsgebäuden einschließlich Dächern, von Decken und Kellern sowie der Rohr- und Förderbrücken.
Im Ergebnis dieser Untersuchungen wurde festgestellt, dass bei einer Reihe von Gebäuden und Anlagen die Produktionssicherheit nicht mehr gewährleistet ist und für die in diesen Anlagen arbeitenden Werktätigen eine ständige erhebliche Gefährdung ihres Lebens und ihrer Gesundheit besteht.2
Der bauliche Zustand wird insbesondere gekennzeichnet durch
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das Wirken von Langzeitschäden (Folge des Überschreitens der normativen Nutzungsdauer),
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die Beeinträchtigung der Standsicherheit der Baukörper infolge des Einwirkens aggressiver chemischer Medien,
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Rissbildungen, Abplatzungen von Betondeckungen und damit verbundene Korrosion der Stahlbewehrung,
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die Überlastung von Dächern infolge starker Staubablagerungen und
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bestehende akute Einsturzgefahren für Stahlrohrbrücken.
Wie die Überprüfungen weiter ergaben, hat offensichtlich in hohem Maße die von staatlicher Seite nicht oder nur unzureichend erfolgte Einordnung der zur wirksamen Veränderung notwendigen materiellen Bilanzanteile wesentlich zu den beträchtlichen Rückständen der Rekonstruktion, den Mängeln in der Sanierung und zur daraus resultierenden erheblichen Gefährdungssituation beigetragen.
Wie dazu weiter festgestellt wurde, sind die erforderlichen Sanierungs- und Beräumungsarbeiten sowie Ersatzinvestitionen aus unterschiedlichen Gründen (Fehlen von Arbeitskräften, Reparatur- und Baukapazität, unzureichende Projektierung u. a.) bisher gar nicht, schleppend oder nur teilweise durchgeführt und bereits seit mehreren Jahren erteilte Auflagen der Staatlichen Bauaufsicht nicht erfüllt worden.
Darüber hinaus wird eingeschätzt, dass, offensichtlich vor allem im Interesse der vorrangigen Sicherung der laufenden Produktion, es verantwortliche Leiter verabsäumten, rechtzeitig Maßnahmen zur Durchführung von Reparaturen und Rekonstruktionen an Produktionsgebäuden und -anlagen einzuleiten und in der Regel erst bei Eintritt von Störungen oder Schadensfällen Maßnahmen zu deren Beseitigung veranlassten.
Von den in die Untersuchungen einbezogenen Produktionsbereichen der vorgenannten ausgewählten Kombinate sind insbesondere hinsichtlich möglicher Auswirkungen auf die weiteren Verarbeitungsstufen innerhalb der chemischen Industrie der DDR, der Realisierung bedeutender Exportaufgaben und der Auswirkungen auf andere volkswirtschaftliche Prozesse – nachfolgend aufgeführte Objekte besonders gefährdet3:
Dem VEB Kombinat Chemische Werke Buna kündigte die Staatliche Bauaufsicht die Sperrung des Weiterbetriebes des 120 m hohen Schornsteines H 21a der Karbidfabrik zum 31. Dezember 1981 an, da die 40-jährige normative Nutzungsdauer des 1937 ohne Innenfutter errichteten Stahlbetonschornsteines überschritten ist.
An dem für zwei Drittel der Karbidproduktion des Kombinates genutzten Schornstein (insgesamt für acht Karbidöfen) sind bereits seit 1963 größere Schäden (Anzeichen von Rissbildung, Abplatzen der Betondeckung, Korrosion der Bewehrung) festgestellt worden (siehe Anlage Dokumentation – Blatt 1–6).
Der Anschluss des als Ersatz gebauten neuen Schornsteins ist bisher aus Kapazitätsgründen und infolge bisher technologisch ungelöster Probleme des Abrisses bis Jahresende 1981 nicht gesichert, sodass mit der Einstellung der Karbidproduktion zu diesem Zeitpunkt gerechnet werden muss.
Im Kombinat hat der Einfluss der Chloratmosphäre im Verlauf der 40-jährigen Standzeit der Chlorfabrik das Tragvermögen der Dachdecke durch Korrosion derart vermindert, dass mit dem möglichen Einsturz von Deckenfeldern (6,30 × 25 m) Menschenleben und in erheblichem Umfang die Chlorproduktion gefährdet sind (siehe gleiche Dokumentation – Blatt 7 und 8).
Im VEB Chemiekombinat Bitterfeld entstand an den Produktionshallen für Ätznatron durch ständigen Niederschlag von Natronlauge eine Reihe ernster Schäden. Es wurden Querschnittsschwächungen hölzerner Dachelemente von 30 bis 40 % gemessen.
An Stahlbetondachbindern platzte großflächig Beton ab, wodurch es zu Korrosionserscheinungen an freiliegenden Bewehrungseisen kam.
Ähnliche Schäden weisen tragende Bauteile im Kellerbereich (Betonstützen, Mauerwerkspfeiler, Wände, Decken) dieser Produktionsstätten auf (Anlage Dokumentation – Blatt 9–12).
Entsprechende Auflagen der Staatlichen Bauaufsicht von Oktober 1976 zur Beseitigung dieser Schäden sind bisher nicht realisiert worden.
Die nunmehr notwendige Generalreparatur dieser Produktionshallen macht entweder einen längeren Produktionsstillstand oder aber den Abbruch der Gebäude erforderlich, wodurch eine Produktionsverlagerung unumgänglich würde.
In der Kalkammonsalpeter-Anlage (Baujahr 1928) des Betriebsteiles Wolfen des VEB Chemiekombinat Bitterfeld wurden Spannungsrisskorrosionen an Stahlträgern festgestellt (Anlage Dokumentation – Blatt 13).
Im VEB Chemiekombinat Bitterfeld traten des Weiteren am Gebäude der Elektrolyse-Nord (Baujahr 1918) infolge unkontrollierten Versickerns aggressiver Medien starke Zersetzungserscheinungen im Baugrund auf, die zur Sperrung eines Teilbereiches der Produktionsstätte führten.
Untersuchungen des Baugrundzustandes und festgestellte funktionsuntüchtige Abwassersysteme im Gesamtbereich des Stammbetriebes des Chemiekombinates Bitterfeld lassen auf das Eintreten weiterer Setzungsschäden durch Einwirkungen von Laugen u. a. chemischer Medien schließen.
Im VEB Kombinat Chemische Werke Buna traten im Bereich Karbid- und Kalkproduktion auf den Dächern dieser Produktionsstätten in starkem Maße Staubablagerungen auf (erreichte Höhen von mehr als 1 m), die die Tragfähigkeit der Dächer bei Weitem übersteigen. Als Folge dieser Tatsache kam es seit 1978 mehrfach zu z. T. großflächigen Dacheinstürzen (u. a. 19. März 1979 ca. 650 m² – siehe Anlage Dokumentation – Blatt 14 und 15).
Seit 1967 hat die Staatliche Bauaufsicht deshalb verantwortliche Leiter des Kombinates wiederholt auf die Überlastung von Dächern durch Staubablagerung aufmerksam gemacht und die notwendige Beräumung der gefährdeten Dächer gefordert.
Trotz der für die in diesem Produktionsbereich Beschäftigten bestehenden ständigen Gefährdung sind in der Vergangenheit mit der »Begründung« fehlender Arbeitskräfte bzw. fehlenden qualifizierten Aufsichtspersonals keine Beräumungen der gefährdeten Dächer durchgeführt worden.
Die Stahlkonstruktionen der für die Hauptsynthesen des VEB Kombinat Leuna-Werke »Walter Ulbricht« Merseburg bedeutungsvollen Anlage zur Erzeugung von »Winklergas« (Anlagenkomplex 1926 bis 1929 errichtet) weisen starke Abrostungen auf und bilden einen Schwerpunkt für Reparaturen zur Beseitigung unmittelbarer Gefährdungen der Produktion (Anlage Dokumentation – Blatt 16–20).
Der Maßnahmeplan zur Rekonstruktion der Winkleranlage für den Weiterbetrieb bis in die 90er Jahre sieht Bauleistungen in Höhe von 145 Mio. Mark als Ersatzinvestitionen (bei einem hohen Stahlbauanteil) vor. Die Stahlskelettkonstruktion des Kesselhauses (Bau 204) im VEB Kombinat Leuna-Werke (Baujahr 1936 bis 1938) erhielt offenbar nachträglich eine Klinkerverblendung in einem völlig unzureichenden Verbund zum Baukörper (Anlage Dokumentation – Blatt 21–31).
Herunterbrechende Teile gefährden Maschinenhaus, Straßen und Schienenverkehr sowie Rohrbrücken mit Versorgungs- und Produktionsleitungen. Von der Staatlichen Bauaufsicht geforderte Sanierungen wurden bisher nicht ausgeführt.
Im VEB Hydrierwerk Zeitz (VEB Petrolchemisches Kombinat Schwedt) sind zwei in Stahlbetonbauweise errichtete Grudebunker (Baujahr 1938) durch Risse des Betons und der Bewehrung stark einsturzgefährdet (Anlage Dokumentation – Blatt 32–39).
Aufgrund zu geringer betriebseigener Baukapazitäten blieben die seit drei Jahren durchgeführten Sanierungsmaßnahmen praktisch wirkungslos.
In der Anlage zur Blasenverkokung4 (vor mehr als 50 Jahren errichtet) im Betriebsteil Rositz des Kombinatsbetriebes »Otto Grotewohl« Böhlen (VEB PCK Schwedt) weisen die tragenden Konstruktionen erhebliche Schäden und Deformierungen auf (Anlage Dokumentation – Blatt 40–44).
Beim möglichen Zusammentreffen entsprechend vielfältiger statischer Beanspruchungen kann ein Versagen der Konstruktion und damit verbunden eine akute Gefährdung der an der Anlage beschäftigten Werktätigen eintreten. Der bis in die 90er Jahre vorgesehene Weiterbetrieb der technologisch völlig veralteten Anlage macht dringend Sanierungsarbeiten erforderlich.
Durch Vernachlässigung der vorbeugenden Instandhaltung und des Korrosionsschutzes der Stahlbauteile an Rohr- und Förderbrücken bestehen in einer Reihe wesentlicher Produktionsbereiche der chemischen Industrie Gefahrenzustände für die dort beschäftigten Werktätigen und für die Produktion.
Im VEB Kombinat Leuna-Werke ist eine 1967 in Betrieb genommene 120 m lange Rohrbrücke (westliche des Baues 14) bereits derartig verschlissen, dass die Notwendigkeit einer kurzfristigen Erneuerung besteht (Anlage Dokumentation – Blatt 45–47).
Im Kombinatsbetrieb Böhlen sind mehrere über 50 Jahre alte Stahlrohrbrücken akut einsturzgefährdet. Die im Kombinatsbetrieb seit Jahren für Ersatzzwecke lagernden Konstruktionsteile wurden bisher wegen fehlender Rohrleitungsbaukapazitäten nicht montiert (Anlage Dokumentation – Blatt 84).
Im VEB Kombinat Leuna-Werke weist die Kohlenförderbrücke für das Kesselhaus 204 an Stützen und Verbänden der Umlenkstation zwei Abrostungen von mehr als 50 % auf (Anlage Dokumentation – Blatt 49 und 50). Die auflagenmäßig bis 30. Juni 1981 auszuführenden Reparaturarbeiten sind bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht realisiert worden.
Im VEB Wasserglasfabrik Dehnitz (Alleinhersteller von Wasserglas in der DDR) ist die Bausicherheit wichtiger Produktionsgebäude (Löserei, Schmelzerei, Abfüllung) stark gefährdet, Instandsetzungsarbeiten zur Aufrechterhaltung der Produktion sind von der Gewährung entsprechender Baubilanzanteile 1981/82 abhängig. Werden keine Bilanzanteile bereitgestellt und die erforderlichen Baumaßnahmen nicht begonnen, deutete die Staatliche Bauaufsicht die Möglichkeit einer bauaufsichtlichen Sperrung der Produktionsgebäude an.
In Anbetracht der geschilderten Situation wird vorgeschlagen, den Minister für Chemische Industrie der DDR zu beauftragen, solche Vorschläge auszuarbeiten und dem Ministerrat der DDR vorzulegen, in denen – ausgehend von gegenwärtig real erscheinenden Möglichkeiten – die notwendigen, kurzfristig zu realisierenden bzw. längerfristig in Angriff zu nehmenden Maßnahmen enthalten sind, die im Interesse der Verminderung erheblicher Gefahrenzustände für die Werktätigen der Betriebe und die Bevölkerung in diesen territorialen Bereichen sowie für die Aufrechterhaltung der Produktion einzuleiten sind.5
Des Weiteren sollte der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission veranlasst werden, Möglichkeiten zu prüfen, um die vom Minister für Chemische Industrie der DDR vorgeschlagenen, unbedingt notwendigen Sanierungsmaßnahmen auch in den erforderlichen materiellen Bilanzen zu sichern.