Zur Situation am Literaturinstitut »Johannes R. Becher« in Leipzig
4. Juli 1981
Information Nr. 337/81 über einige Gesichtspunkte zur Charakterisierung der Situation am Institut für Literatur »Johannes R. Becher«, Leipzig
Nach dem MfS vorliegenden Informationen schätzen Kenner der Situation am Institut für Literatur »Johannes R. Becher« (IfL) ein, dass das IfL seiner Verantwortung für die Herausbildung des literarischen Nachwuchses der DDR und insbesondere für die Ausbildung und Erziehung klassenbewusster, parteiverbundener Schriftsteller nicht im erforderlichen Maße gerecht wird.1
Sie vertreten die Auffassung, dass die Wahrnehmung dieses gesellschaftlichen Auftrages des IfL – unter Berücksichtigung der gestellten Anforderungen, aber auch der gegnerischen Bestrebungen zur Beeinflussung des schriftstellerischen Nachwuchses im feindlichen Sinne sowie des politisch und teilweise auch fachlich nicht befriedigenden Niveaus jüngerer Schriftsteller – durch Mängel und Schwächen in der politisch-ideologischen Arbeit und der staatlichen Leitungstätigkeit beeinträchtigt wird.
Den vorliegenden Erkenntnissen zufolge wird in der täglichen Bildungs- und Erziehungsarbeit die Aufgabenstellung, den Marxismus-Leninismus, die Politik der SED und die sozialistische Kulturpolitik und ihre gesamtgesellschaftliche Funktion zu lehren und überzeugend zu erläutern, nur ungenügend beachtet; es wird auf Kosten der klassenmäßigen Erziehung zu einseitig auf die schriftstellerische Ausbildung der Studenten orientiert.
Das System der individuellen Betreuung der Studenten wird nicht kontinuierlich organisiert; oftmals finden jährlich nur ein bis zwei Gespräche zwischen Betreuern und Studenten statt, deren Inhalt sich zum Teil ausschließlich auf künstlerisch/schriftstellerische Probleme konzentrierte.
In diesem Zusammenhang wird darauf verwiesen, dass schlechte Studiendisziplin bzw. unregelmäßige Unterrichtsteilnahme von Studenten toleriert werden. Der Unterrichtsablauf wird vielfach nach der Anwesenheit der Fachdozenten organisiert und nicht länger als drei bis vier Wochen im Voraus geplant.
Ungünstig wirkt sich aus, dass ein Teil der Lehrkräfte selbstständig schriftstellerisch tätig ist und dafür einen erheblichen Zeitfonds benötigt.
Weiter wird angeführt, dass die Absicht des Leiters des IfL, Prof. Max Walter Schulz,2 seine Funktion niederzulegen und sein damit verbundenes Desinteresse an Leitungsfragen sich nachteilig auf die gesamte Leitungstätigkeit im IfL auswirken.
Hinzu kommt, dass vor allem die Lehrkräfte für marxistisch-leninistische Grundlagenausbildung nur über mangelnde pädagogische Fähigkeiten verfügen.
Besonders hervorgehoben wird die teilweise feindlich-negative Haltung zweier Lehrkräfte:
Der Fachlehrer »Prosa«, Peter Gosse,3 Mitglied der SED, bezieht im Prozess von fachlichen und ideologischen Auseinandersetzungen sowie während seiner Lehrveranstaltungen eine verdeckte feindlich-negative Grundposition. 1976 trat er »gegen die Ausbürgerung Biermanns«4 auf. Im Unterricht propagierte er Bahros5 »Alternative«.6 Darüber hinaus informiert er Studenten über interne Auseinandersetzungen des Schriftstellerverbandes mit bestimmten Schriftstellern,7 wie z. B. Kunert,8 Schlesinger9 und Loest.10 Gosse unterhält persönliche Verbindungen zu Loest und Heiduczek.11
Die negative Grundhaltung des Fachlehrers »Weltliteratur«, Gerhard Rothbauer,12 zeigt sich vor allem in seiner »kritischen« Haltung zur Kulturpolitik der SED. Er verfügt über eine Vielzahl persönlicher Kontakte zu Personen in nichtsozialistischen Staaten.
Zur Arbeit der Parteiorganisation am IfL wird u. a. darauf hingewiesen, dass in Parteigruppenversammlungen, die in Abständen von vier bis sechs Wochen stattfinden, es zu keinen echten politisch-ideologischen Auseinandersetzungen kommt. Das Parteilehrjahr wird nicht kontinuierlich durchgeführt, die Beteiligung ist mangelhaft.
Von Genossen unter den Studenten werden Parteiveranstaltungen, in denen nur selten studentische Probleme behandelt werden, als »Pflichtveranstaltungen« angesehen.
Als unbefriedigend wird auch die Arbeit der Massenorganisationen am IfL eingeschätzt, u. a. mit dem Hinweis darauf, dass die Grundeinheit der Gesellschaft für Deutsch-sowjetische Freundschaft nur formell besteht.
Wie weiter hervorgehoben wird, sind zunehmend Tendenzen festzustellen, Personen am IfL zu immatrikulieren, die keine positive Grundeinstellung zur sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR besitzen.
Obwohl Festlegungen bestehen, für eine Immatrikulation von Personen nicht nur deren Begabung auf schriftstellerischem Gebiet durch Vorlage und Wertung von literarischen Arbeiten festzustellen, sondern auch deren positive gesellschaftliche Entwicklung und Haltung zu berücksichtigen, wird der individuellen künstlerisch-literarischen Entwicklung bei der Vorauswahl der Bewerber durch das IfL primäre Bedeutung beigemessen. Hinzu kommt, dass oftmals nur ungenügende Anhaltspunkte für die Persönlichkeitsentwicklung des Bewerbers über seine politisch-ideologische Grundhaltung und seine gesellschaftlichen Aktivitäten bekannt sind.
Letzteres trifft vor allem bei Eigenbewerbungen zu, die – neben Delegierungen durch Betriebe, staatliche Einrichtungen und gesellschaftliche Organisationen – ebenfalls Berücksichtigung finden.
Als eine Auswirkung der schon längere Zeit bestehenden unbefriedigenden Situation konnte sich beispielsweise im Direktstudium 1976 bis 1979 eine Gruppe von fünf der 17 Direktstudenten profilieren, die eine einheitliche Resolution des IfL hinsichtlich der Distanzierung zum Verhalten und Auftreten von Biermann verhinderten und deren ideologisch verworrene Haltung die hinlänglich bekannte Diskussion in der Zeitschrift »Weimarer Beiträge«, Heft 7/79, bestimmte.13 (Der Schriftsteller Joachim Nowotny,14 unter dessen Leitung die damals in der genannten Zeitschrift geführte Diskussion zu Problemen der Nachwuchsautoren stand, gehört ebenfalls dem Lehrkörper des IfL an.)15
Eine Reihe von Direktstudenten des Studienzeitraumes 1979 bis 1982 vertritt eine feindlich-negative Auffassung und bringt u. a. zum Ausdruck, das Studium des Marxismus-Leninismus sei für ihre künstlerisch-literarische Entwicklung nicht bedeutsam.
Die Mehrheit der Studenten des Direktstudiums 1979 bis 1982 bekundet ihr Desinteresse an aktuellen und grundsätzlichen politischen Fragen und nimmt nur mangelhaft am marxistisch-leninistischen Grundlagenstudium teil.
Unter den für das Fernstudium am IfL für 1981 bis 1984 angenommenen 65 Fernstudenten befinden sich – nach bisherigen Feststellungen – mindestens acht Personen, deren Studienaufnahme überprüft und verhindert werden sollte. (Das betrifft einen ehemaligen Bausoldaten16, einen Verfasser sog. Schubladenliteratur, zwei kriminell vorbestrafte Personen und vier weitere politisch negativ in Erscheinung tretende Personen.)
Im Zusammenhang mit einer Korrektur der bisherigen Immatrikulationspraxis kam es zu Auseinandersetzungen mit dem Institutsdirektor Prof. Max Walter Schulz, in deren Verlauf er keine parteimäßige Position vertrat.
Er brachte u. a. sinngemäß zum Ausdruck, dass Friedhofswärter, Gelegenheitsarbeiter und ähnliche Existenzen nicht von einem Studium am IfL ausgeschlossen werden könnten, da sonst ein »Versäumnis in der Nationalbildung« eintreten könne.
Als für die Erziehung von Studenten am IfL ungünstige Bedingungen wirken sich weiterhin vorhandene Schwächen in der Absolventenvermittlung aus. Ein planmäßiger Einsatz nach Studienabschluss ist derzeit nicht gewährleistet. Neben ungenügenden Aktivitäten und Kontrollen der Institutsleitung bezüglich der Absolventenvermittlung ist ein Fehlen geeigneter Einsatzmöglichkeiten bei den Abteilungen Kultur der Räte der Bezirke bzw. ihnen nachgeordneten Einrichtungen festzustellen.
Dadurch wird das Streben vieler Studenten nach »freischaffender« Tätigkeit, z. T. verbunden mit einem außerhalb des gesellschaftlichen Einflusses praktizierten individualistischen Lebensstils, begünstigt.
Es wird vorgeschlagen, dass durch das Ministerium für Kultur in Zusammenarbeit mit dem Schriftstellerverband der DDR sowie weiteren zuständigen Organen verstärkt Einfluss auf die Überwindung vorgenannter Mängel und Schwächen genommen wird und insbesondere Maßnahmen zur Verbesserung der kadermäßigen Voraussetzungen am IfL eingeleitet werden.
Der Schriftstellerverband der DDR sollte im Zusammenwirken mit der Leitung des IfL stärker als bisher Einfluss auf die Auswahl geeigneter Studenten für ein Studium an dieser Bildungseinrichtung nehmen.
Die Immatrikulation sollte in Abhängigkeit vom bisherigen aktiven, positiven gesellschaftlichen Engagement des Kandidaten und nicht in erster Linie abhängig vom Talent erfolgen.