Bevölkerungsreaktionen zur Lage in VR Polen (4)
5. Januar 1975
4. Bericht zur Reaktion der Bevölkerung der DDR auf die Vorgänge in der VR Polen [Bericht O/105d]
Vorliegenden Hinweisen zufolge werden die Vorgänge in der VR Polen von breiten Kreisen der Bevölkerung der DDR weiterhin aufmerksam und mit großer Anteilnahme verfolgt, wobei insgesamt eine gering nachlassende Intensität zu erkennen ist.1
Vom Inhalt her entsprechen die getroffenen Aussagen im Wesentlichen den in den vorhergehenden Berichten eingeschätzten Meinungsäußerungen und weichen nur geringfügig ab.
Folgende Tendenzen spielen gegenwärtig in den Meinungsäußerungen der Bevölkerung der DDR eine vorrangige Rolle:
Die in den veröffentlichten Meldungen, Kommentaren und Berichten enthaltenen Mitteilungen über das Vorgehen des Militärrates gegen konterrevolutionäre Kräfte werden mit großer Einmütigkeit begrüßt.
Mit Genugtuung werden Nachrichten aufgenommen, wonach sich das Leben in der VR Polen wieder zu normalisieren beginnt.
Gleichzeitig wird die von der USA-Regierung betriebene Droh- und Erpressungspolitik fast ausnahmslos verurteilt und als offene Einmischung in die inneren Angelegenheiten der VR Polen gewertet.
Einen großen Umfang nehmen Diskussionen über die Solidaritätsaktion für die VR Polen ein. Dabei dominieren Zustimmung, Bereitschaft und aktive Beteiligung, vorwiegend aus der Erkenntnis, damit einen unmittelbaren Beitrag zur Erhaltung des Friedens, zur Niederschlagung der Konterrevolution und zur Stärkung des sozialistischen polnischen Staates zu leisten.
Aus zahlreichen Betrieben und Arbeitskollektiven ist bekannt, dass im Vergleich zu früheren Solidaritätssammlungen überdurchschnittlich hohe Spendenaufkommen erbracht wurden.
Häufig wurde auch von Bürgern, die zu den Solidaritätsleistungen für Polen anfangs skeptische Meinungen äußerten, die Spendenbereitschaft erklärt, nachdem sie sich durch entsprechende Veröffentlichungen in DDR-Medien überzeugt hatten, dass in den Betrieben Polens gearbeitet wird.
Gleichzeitig ist in allen Bevölkerungsgruppen in den letzten Tagen eine zunehmende Tendenz zu erkennen, wonach neben den grundsätzlichen Zustimmungen zur Solidaritätsaktion eine stärkere Differenzierung in den Meinungsäußerungen besteht, die sich im Wesentlichen von Zurückhalt bis zur direkten Ablehnung charakterisieren lässt. Dabei liegen aus allen Bezirken Beispiele vor, dass eine Reihe von Arbeitskollektiven und Einzelpersonen übereinstimmend zu der Auffassung gelangte, sich mit Spenden zurückzuhalten oder sie direkt abzulehnen.
Als hauptsächlichste Begründung dafür werden Befürchtungen über negative Auswirkungen der Hilfsgütersendungen in die VR Polen auf die Versorgung der Bevölkerung der DDR angeführt. Unter Bezugnahme auf in der DDR teilweise noch auftretende Mängel und Schwierigkeiten in der Versorgung der Bevölkerung werden zum Teil Artikel aufgezählt, die sich in den Solidaritätssendungen nach Polen befänden. In einigen Fällen werden diese Argumente von Mitarbeitern des Handelsbereiches unterstützt, die das Fehlen bestimmter Waren in den Verkaufsstellen damit begründeten, bestellte Mengen würden vom Großhandel nicht bereitgestellt, da sie in die Solidaritätslieferungen nach Polen einbezogen worden seien (das betraf u. a. Baby- und Kinderbekleidung, Schuhwaren, Waren des täglichen Bedarfs, Fleischwarenerzeugnisse).
Auch in Apotheken wurde in einigen Städten wie Berlin, Potsdam und Frankfurt/Oder dahingehend diskutiert, dass mit Medikamenten stärker gespart werden müsse, da wegen der Transporte nach Polen Abstriche bei Nachlieferungen einkalkuliert werden müssten.
Hervorgehoben wird weiter, die Pläne in den Betrieben stellten jetzt höchste Anforderungen, für Solidaritätsleistungen in die VR Polen blieben dabei keine Reserven. In diesem Zusammenhang tauchen erneut Argumente auf, die von einer gewissen antipolnischen Grundhaltung geprägt sind. (Die polnischen Bürger hätten »keine Lust« zum Arbeiten; in der DDR hätten sie sich bei offener Grenze in Verkaufsstellen DDR-Bürgern gegenüber anmaßend benommen und »Hamstereinkäufe« getätigt; die Anti-DDR- und Anti-UdSSR-Haltung der polnischen Bürger sei bekannt, daran würden auch die Solidaritätsleistungen nichts ändern.)
Weiterhin spielt in den Argumenten nach wie vor eine Rolle, dass die Solidaritätsgüter mittels NKW transportiert werden, obwohl in der DDR strenge Maßnahmen zur Einsparung von Dieselkraftstoff angewiesen seien. Angeführt wird, es wäre kostengünstiger, verstärkt den Schienenweg zu nutzen.
Erwartungshaltungen zur Perspektive der VR Polen sind weiterhin in größerem Umfang vorhanden (vor allem Arbeiter und ganze Arbeitskollektive). Dabei dominieren
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Fragen, inwieweit und in welchem Zeitraum ein wirkliches sozialistisches Polen entwickelt wird,
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Unverständnis, weshalb die weitere Tätigkeit von »Solidarność«2 nicht generell untersagt werde, zumal die konterrevolutionären Umtriebe nachgewiesen werden könnten,
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Unklarheiten, ob die führende Rolle der PVAP gewährleistet sei, oder ob sie zwischen der Partei und »Solidarność« erst noch entschieden werden müsse,
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Unverständnis, dass weiterhin ein »unveräußerliches Recht zum Streik« bestehen bleibe,
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Fragen, warum keine stärkere Abgrenzung zwischen Staat und Kirche erfolge,
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Forderungen, noch unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes eine Änderung der Eigentumsverhältnisse auf dem Land anzustreben und erste Schritte dazu einzuleiten,
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Erwartungen hinsichtlich der Reinigung der Reihen der Partei von reformistischen und revisionistischen Kräften und des konsequenten Weges auf marxistisch-leninistischem Kurs (fortschrittliche Bürger, Mitglieder der SED).
(In diesem Zusammenhang sind wiederholt auftretende Erwartungen von Mitgliedern der Partei zu erwähnen, wonach eine ausführlichere interne Partei-Information des ZK der SED zur Einschätzung der gegenwärtigen realen Lage in der VR Polen für notwendig gehalten wird.)
Angestiegen sind die Tendenzen abwertender, verleumderischer und feindlich-negativer Meinungsäußerungen in Anlehnung an »Argumentationen« und Meldungen westlicher Massenmedien.
Häufig beziehen sich die Personen in ihren Äußerungen offen und direkt auf Meldungen von Westmedien und kommentieren sie.
Der Kreis der sich in diesem Sinne äußernden Bürger reicht von in Operativen Vorgängen bearbeiteten und unter OPK stehenden Personen bis hin zu Angehörigen verschiedenster Personengruppen, wobei ihre Äußerungen zum Teil in Arbeitskollektiven Gehör finden bzw. ihnen nicht entschieden genug entgegengetreten wird.
Herausragende Tendenzen sind dabei:
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Unglaube in Meldungen der DDR-Medien, die sich in Behauptungen widerspiegeln, sie seien zu optimistisch und würden die Schwierigkeiten und tatsächlichen gegenwärtigen Bedingungen in der VR Polen »verschleiern«,
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Meinungen, in den DDR-Medien würden bewusst »Falschmeldungen« verbreitet, wobei als »Beispiele« angeführt werden:
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es herrsche nicht Ruhe und Ordnung, es werde weiter gestreikt,
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das polnische Volk finde sich nicht mit dem »Ausnahmezustand« ab, es würde sich durch Widerstandshandlungen und »Arbeite-langsam-Methoden« auflehnen,
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die angegebene Zahl von sieben Toten in Polen entspreche nicht der Wahrheit, es seien viel mehr,
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die Meldungen über die konterrevolutionären Umtriebe von »Solidarność«-Leuten in den Gruben »Piast«3 und »Ziemowit« entsprechen nicht den Tatsachen, in Wirklichkeit habe es sich um Streiks gehandelt; es sei nicht möglich, eine solche große Anzahl von Bergleuten unter Tage zu terrorisieren,4
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es stimme nicht, dass die Armee fest zum Militärrat stehe, es habe Meutereien und Befehlsverweigerungen gegeben,
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Ansichten, die Solidaritätsaktion sei nur ein »politischer Schaueffekt«; die sozialistischen Länder befänden sich im Nachzug gegenüber kapitalistischen Ländern.