Bevölkerungsreaktionen zur Lage in VR Polen (5)
11. Januar 1982
5. Bericht zur Reaktion der Bevölkerung der DDR auf die Vorgänge in der Volksrepublik Polen [Bericht O/105e]
Vorliegenden Hinweisen zufolge weisen die Reaktionen der Bevölkerung der DDR zu den Ereignissen in der VR Polen vom Umfang her eine weitere rückläufige Tendenz auf, wobei sich der Charakter weiterer Meinungsäußerungen im Verhältnis zu den vorhergehenden Einschätzungen wenig verändert hat.1
Festzustellen ist jedoch, dass sich in den letzten Tagen einige negative Tendenzen in den Meinungsäußerungen der Bevölkerung, auf die im vorhergehenden Berichtszeitraum bereits aufmerksam gemacht wurde, verstärkt haben.
Dabei handelt es sich im Wesentlichen um folgende Richtungen:
Obwohl die grundsätzliche Tendenz der Zustimmung zur Solidaritätsaktion für die VR Polen in der Mehrzahl der Diskussionen erhalten bleibt, sind die Zurückhaltungen bei und zum Teil offen ausgesprochenen Ablehnungen der Solidaritätsaktion vom Umfang her angestiegen.
Für Zurückhaltungen bei Solidaritätsspenden ist übereinstimmenden Hinweisen aus allen Bezirken zufolge typisch, dass nur geringfügige Summen gespendet werden, um im Arbeitskollektiv nicht »aufzufallen« und möglichen Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen.
Ablehnungen weiterer Solidaritätsleistungen erfolgen verstärkt mit solchen Argumenten:
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Die Versendung der großen Mengen von Lebensmitteln, Textilien und Waren des täglichen Bedarfs werde zu Versorgungsschwierigkeiten in der DDR führen.
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Die weiterhin umfangreichen NKW-Transporte in die VR Polen seien in Anbetracht der in der DDR verfügten Sparmaßnahmen nicht mehr vertretbar. (Häufig erfolgt in diesem Zusammenhang die Aufzählung von Beispielen der DK-Einsparung zulasten von Versorgungsfahrten in Kreisen und Gemeinden u. a.)2
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Die laufende Solidaritätsaktion sei ein »Fass ohne Boden«, da sie sich zu einem »Dauerzustand« entwickle und damit erheblich die ökonomischen Möglichkeiten der DDR überschreite.
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Eine einmalige Aktion habe Zustimmung gefunden, die anhaltende Intensität der Hilfeleistungen sei jedoch abzulehnen.
Vermehrt wurden Hinweise aus dem Bereich Gesundheitswesen (Polikliniken, Apotheke) der Bezirke Berlin, Gera, Karl-Marx-Stadt und Dresden bekannt, wonach entstandene Lücken in der Versorgung mit Arzneimitteln (genannt wurden Penicillin, Pentalon3 u. a. Herz- und Kreislaufmittel) auf Medikamentensendungen in die VR Polen zurückzuführen seien.
Erhöht hat sich der Anteil der Argumente, wonach erwartet wird, dass sich die VR Polen auf der Grundlage vorhandener ökonomischer Potenzen mit eigener Kraft aus der wirtschaftlichen Krise befreien müsse; die DDR-Bürger seien nicht bereit, ungenügende Arbeitsdisziplin und Mängel in der Organisation der Wirtschaft der VR Polen auf längere Sicht mit materieller Unterstützung zu honorieren.
In Einzelfällen wurden Spenden mit der Begründung abgelehnt, sie seien nur für Militärangehörige in der VR Polen bestimmt und würden Arbeiter nicht erreichen.
In Meinungsäußerungen verstärken sich weiter Tendenzen dahingehend, wonach die Perspektive der VR Polen als zuverlässiger Bündnispartner der sozialistischen Gemeinschaft angezweifelt wird. In den Vordergrund treten dabei
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Zweifel, ob Jaruzelski4 auch in der Folgezeit den konsequenten Kurs des Militärrates fortsetzen werde,
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Vorwürfe hinsichtlich »liberaler« Entscheidungen seitens des Militärrates; als Beispiele werden angeführt die Freilassung Hunderter internierter Personen, die Zusicherung der weiteren Existenz von »Solidarność«5 als Gewerkschaft, die Gewährung des Streikrechts, angebliche Verhandlungen des Militärrates mit Walesa,6
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das angebliche Bestehen von Zerwürfnissen und Spaltungen innerhalb der Führungsorgane der PVAP.
Weiter angestiegen ist in den letzten Tagen die Verbreitung von »Argumenten«, die offensichtlich Ausdruck der massiven Verleumdungskampagne des Gegners sind.
So werden u. a. Zweifel an der Objektivität und Vollständigkeit der Informationen der DDR-Medien geäußert.
Neu ist das Auftreten von Gerüchten in geringem Umfang, vorwiegend dahingehend,
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es würden weiterhin größere Streiks durchgeführt,
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die Zahl der Todesopfer habe sich stark erhöht,
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in der Armee seien unter Leitung eines Generals Meutereien größeren Ausmaßes entstanden, die sich gegen den Militärrat richten,
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die PVAP werde aufgelöst und eine neue Partei gegründet,
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es seien sowjetische Soldaten in polnischen Uniformen eingesetzt.
Zur Haltung kirchlicher Gremien und Würdenträger der DDR wurde bekannt, dass die katholische Kirche die Position der Zurückhaltung und Nichteinmischung fortsetzt. So wurde z. B. vom leitenden Klerus in der DDR ein bereits formuliertes gemeinsames »Hirtenwort« der katholischen Bischöfe der DDR (das aus Anlass des katholischen »Weltfriedenstages« – 1.1. bis zum 10. Januar 1982 – in allen katholischen Kirchen der DDR verlesen werden sollte) abgesetzt, um im Zusammenhang mit den Vorkommnissen in der VR Polen keine »politischen Missdeutungen« zuzulassen.7
In den evangelischen Kirchen der DDR wurde in geringem Umfang von Geistlichen auf die »ernste Situation im Nachbarland« offen oder verbrämt aufmerksam gemacht, meist verbunden mit der Aufforderung, für Ordnung und Frieden in Polen, für die Rechte der Arbeiter und Nichtanwendung von Gewalt zu beten.
Zahlreiche Pfarrer forderten zur Beteiligung an Spendenaktionen auf. Offene feindlich-negative Äußerungen von Pfarrern wurden nur in Einzelfällen bekannt.
Intern wurde bekannt, dass von der Aktion »Brot für die Welt« beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR eine Medikamentenspende dem Deutschen Roten Kreuz zur Verfügung gestellt wurde, welche für die VR Polen bestimmt ist. Von der polnischen evangelischen Kirche sei die Bitte ausgesprochen worden, ihnen eine langfristige Hilfe zu gewährleisten.
Beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR ist geplant, für alle in der DDR vorhandenen Kirchen (Bund der Evangelischen Kirchen – Evangelische Kirche der Union und Vereinigte Evangelische Kirche/DDR) eine gemeinsame Konto-Nummer Postscheckkonto 7199–58-12204 cod. 249–1761019 einzurichten.
Von den Mitarbeitern des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR OKR Dr. Demke8 und OKR Frau Lewek9 wurde an den Polnischen ökumenischen Rat der Kirchen ein Brief verfasst, in dem der polnischen Seite die Verbundenheit und Unterstützung der evangelischen Christen in der DDR versichert wird. Es wird die Hoffnung einer baldigen Wiederherstellung der direkten Kontakte ausgesprochen und die Versicherung übermittelt, dass die vom Bund berufene Kontaktgruppe zum Polnischen ökumenischen Rat zu Gesprächen und Begegnungen zu jedem beliebigen Termin bereit sei.