Bevölkerungsreaktionen zur Lage in VR Polen (6)
26. Januar 1982
6. Bericht zur Reaktion der Bevölkerung der DDR auf die Vorgänge in der Volksrepublik Polen [Bericht O/105 f]
Vorliegenden Hinweisen zufolge ist in der Reaktion der Bevölkerung der DDR, bezogen auf die inneren Vorgänge in der VR Polen, ein weiterer Rückgang des Umfangs der Diskussionen zu verzeichnen.1
In größerem Umfang wird – insbesondere in Zentren der Arbeiterklasse – die Politik der USA-Regierung im Zusammenhang mit den Boykottmaßnahmen gegen die VR Polen und die UdSSR verurteilt.2
Diese Maßnahmen werden als ernst zu nehmende Versuche gewertet, den realen Sozialismus zu schwächen und den Frieden zu bedrohen. In Anbetracht des von der USA-Regierung forcierten Konfrontationskurses verstärken sich Befürchtungen hinsichtlich der weiteren Zuspitzung der internationalen Lage. Größeren Umfang nehmen außerdem Befürchtungen über mögliche Auswirkungen einer eventuellen Wirtschaftsblockade der NATO gegen die VR Polen und die UdSSR auf die DDR ein (wissenschaftlichtechnische Intelligenz und Wirtschaftskader mittlerer Ebene).
Eine Wirtschaftsblockade der NATO würde – so wird von o. g. Personenkreisen argumentiert – nicht absehbare Auswirkungen nach sich ziehen; z. B. hinsichtlich der Einhaltung der Wirtschaftsverträge UdSSR – DDR und der Lieferverpflichtungen der VR Polen gegenüber der DDR.
In zahlreichen Meinungsäußerungen wird jedoch auch darauf verwiesen, dass die angekündigten Boykottmaßnahmen ihre Wirkung verfehlen und sich gegen ihre Initiatoren richten werden.
Verstärkt haben sich Illusionen über die Haltung führender politischer Kreise der BRD zu den sozialistischen Ländern, insbesondere zur VR Polen (besonders zutreffend auf Jugendliche und Jungerwachsene, aber auch religiös gebundene Personen und Angehörige der Intelligenz).
Häufig wird in diesen Personenkreisen unter Bezugnahme auf den positiven Verlauf der Begegnungen Breschnew3 – Schmidt4 und Honecker5 – Schmidt auf die angebliche Neutralität und Vermittlerrolle führender Politiker der BRD in der sogenannten Polenfrage verwiesen.6 Betont wird, Bundeskanzler Schmidt trete in jüngster Zeit im Vergleich zu anderen westlichen Repräsentanten mit realistischeren Positionen in Erscheinung.
Seine »gemäßigtere Politik« in der »Polenfrage« sei insbesondere im Zusammenhang mit seinem Auftreten in politischen Gesprächen während seines Aufenthaltes in den USA deutlich geworden.
Die Mehrheit der sich äußernden Bürger begrüßt den sich abzeichnenden Normalisierungsprozess in der VR Polen, äußert jedoch zunehmend Zweifel und Bedenken hinsichtlich des weiteren sozialistischen Entwicklungsweges der VR Polen (besonders Parteimitglieder und andere gesellschaftlich aktive Kräfte, aber auch viele Angehörige der Arbeiterklasse).
Diese Bedenken werden vornehmlich begründet mit der
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erfolgten Lockerung des Ausnahmezustandes,
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den zu milden Strafen gegen antisozialistische Kräfte,
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Freilassungen von an konterrevolutionären Aktionen beteiligten Intellektuellen,
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den der katholischen Kirche weiterhin eingeräumten Wirkungsmöglichkeiten,
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dem Zugeständnis der künftigen Beibehaltung des Streikrechts,
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der noch ausstehenden Entscheidung über »Solidarność«7,
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fehlenden Initiativen, in der Landwirtschaftspolitik effektive Veränderungen entsprechend den Erfahrungswerten der sozialistischen Bruderländer.
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In steigendem Maße werden Zweifel an der marxistisch-leninistischen Position Jaruzelskis8 u. a. führender politischer Kräfte in der VR Polen geäußert, u. a. mit dem Hinweis auf
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seine bekundete Entschlossenheit, den Kurs der Erneuerung und der Reformen sowie der Zusammenarbeit mit kirchenleitenden Kräften fortzusetzen,
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die bisher nicht offiziell verlautbarte Distanzierung von Walesa9 und
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sich abzeichnendes liberales Verhalten im Vorgehen gegen die Konterrevolution.
Gegenwärtig ist noch stärker die Tendenz zu erkennen, dass die Diskussionen über die Vorgänge in der VR Polen enger mit Problemen der Volkswirtschaft in der DDR bzw. sich dabei abzeichnenden Schwierigkeiten verknüpft werden.
Eine erstrangige Rolle spielen in diesen Diskussionen die andauernden Solidaritätsmaßnahmen der DDR für die VR Polen.
Bei überwiegend anhaltender Bereitschaft zur Teilnahme an Spendenaktionen steigt der Anteil von ablehnenden Haltungen aber weiter an, häufig unter Hinweis auf die Annahme, dass sich daraus wirtschaftliche und handelspolitische Schwierigkeiten für die DDR ergeben würden.
Unter Bezugnahme auf ein weitverbreitetes Gerücht über eine angebliche Herabsetzung des Rentenalters für polnische Werktätige und auf die vom Militärrat getroffene Festlegung der Arbeitspflicht lediglich für die Altersgruppe von 18 bis 45 Jahren10 wird die Meinung vertreten, diese Maßnahmen müssten mit zusätzlichen Lieferungen und Leistungen seitens der anderen sozialistischen Staaten abgesichert werden.
In Einzelfällen angewandte Praktiken in Betrieben – wie Abzug eines Spendenbetrages aus Brigadekassen, aus Prämienfonds und von Jahresendprämien – werden abgelehnt.
Weitere ablehnende Haltungen zur Fortsetzung der Solidaritätslieferungen an die VR Polen werden begründet mit vereinzelt territorial aufgetretenen Engpässen in der Versorgung der Bevölkerung (bezogen auf angeblich erfolgte »Auslieferungen« von Waren aus Großhandelsbetrieben, Warenhauslagern, Schlachthäusern, Molkereien u. a.).
Erheblich zugenommen haben kritische und ablehnende Äußerungen über die weiteren Lieferungen von Solidaritätsgütern mittels Pkw, wobei in diesem Zusammenhang hauptsächlich auf die drastischen Kürzungen des Kraftstoff-Limits und daraus resultierende ernst zu nehmende Probleme in territorialen Bereichen verwiesen wird.11
Wiederholt werden Fragen dahingehend gestellt, inwieweit die Belastungen hinsichtlich der Solidaritätssendungen für die VR Polen vornehmlich der UdSSR und der DDR überlassen würden und wie hoch der Anteil daran seitens anderer sozialistischer Länder – angeführt werden die UVR, die VRB und die SRR – zu messen sei.
In diesem Zusammenhang werden verstärkt Fragen nach der Stellung insbesondere der UVR und SRR im Rahmen der sozialistischen Staatengemeinschaft gestellt. Bestimmte Entwicklungen in diesen Ländern (angeführt werden u. a. der »kleine Grenzverkehr« UVR – Österreich, die Stellung Rumäniens zur Entwicklung in China u. a.) würden darauf hindeuten, dass bisherige politische Erfahrungen von diesen Ländern ignoriert und bestimmte Grundprinzipien der sozialistischen Staaten unterlaufen würden.
In Meinungsäußerungen der Personen, die in Operativen Vorgängen oder OPK bearbeitet werden,12 ist gegenwärtig wieder eine stärkere Zurückhaltung festzustellen, wobei in einigen Fällen von solchen Personen vordergründig festgestellt würde, dass die Entwicklung in Polen offenbar doch nicht so progressiv verlaufe, wie es in den DDR-Massenmedien dargestellt werde. Ihren Äußerungen ist zu entnehmen, dass intensiv Meldungen westlicher Medien verfolgt und teilweise in Übereinstimmung mit der eigenen feindlich-negativen Grundhaltung verbreitet werden. Dabei ist jedoch in der Regel keine Öffentlichkeitswirksamkeit erreicht worden.