Direkt zum Seiteninhalt springen

»Erscheinungen« an der Universität Leipzig

9. März 1982
Information Nr. 116/82 über einige Erscheinungen an der Sektion Physik der Karl-Marx-Universität Leipzig

Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen verfassten die Studenten an der Sektion Physik der Karl-Marx-Universität Leipzig, Baer, Nils-Karsten1 (22), Mitglied der FDJ und Brauer, Ulrich2 (21), Mitglied der SED, FDJ (beide 2. Studienjahr), im Zeitraum vom 18.1. bis 22.1.1982 einen »Aufruf« zu einem »Friedensmarsch« am 14.4.1982 in Leipzig (vom Völkerschlachtdenkmal zum Zentralstadion) und einen Appell »An alle Amerikaner« (vgl. Anlage 1).

Dieser »Aufruf« enthielt die Aufforderung zur Teilnahme an dem »Friedensmarsch« und zu einer Unterschriftensammlung für den erwähnten »Appell«, der anlässlich eines nicht näher bezeichneten »Friedensmarsches« in der Hauptstadt der DDR, Berlin, den Botschaften westlicher Staaten überreicht werden sollte. Gleichzeitig wurde in diesem »Aufruf« die Absicht geäußert, den »Appell« an die zentralen Presseorgane der DKP, der IKP und der FKP sowie der SEW und an das Zentralorgan der FDJ, »Junge Welt«, zu übersenden.

Die Verfasser formulierten in dem »Aufruf« als Ziel dieser Aktion, dass möglichst viele Menschen in den Kampf um Abrüstung einbezogen und vom Friedenskampf der DDR überzeugt werden.

Der Entwurf des »Aufrufes« wurde von den Autoren in der Parteigruppe bzw. im Rahmen des FDJ-Studienjahres der Seminargruppe zur Diskussion gestellt, um weitere Anregungen zum Inhalt sowie Unterstützung seitens der an den Veranstaltungen teilnehmenden Studenten zu erlangen. In beiden Fällen wurde auf diesen Entwurf zustimmend reagiert.

Die genannten Studenten beabsichtigten weiter, diesen »Aufruf« der FDJ-Kreisleitung der Karl-Marx-Universität Leipzig vorzulegen, um nach erfolgter Zustimmung mit deren Hilfe die staatliche Genehmigung für die geplanten Aktionen zu erlangen.

Nach Bekanntwerden der Aktivitäten dieser beiden Studenten bei der Leitung der GO und der Sektionsleitung und nach erfolgter Informierung der zentralen Parteiorgane und des Rektors der Karl-Marx-Universität fanden auf Veranlassung der SED- und FDJ-Kreisleitung der Karl-Marx-Universität vier Partei- bzw. FDJ-Veranstaltungen in der Sektion Physik statt, in deren Mittelpunkt sowohl die Erläuterung der Friedenspolitik der DDR als auch die vom USA-Imperialismus betriebene Konfrontationspolitik gegenüber den Staaten der sozialistischen Gemeinschaft standen.3 Es erfolgte jedoch auf diesen Veranstaltungen keine prinzipielle Auseinandersetzung mit den im »Aufruf« der genannten Studenten enthaltenen klassenindifferenten und pazifistischen Grundpositionen und keine entschiedene Zurückweisung der von ihnen geplanten Aktivitäten.

Nach vorliegenden Hinweisen ist seitens der Leitung der GO und der Sektionsleitung nur mit dem Studenten Brauer gesprochen worden. Er begründete seine und die Handlungsweise des Mitautors mit dem Hinweis auf die angespannte internationale Lage und der daraus von ihnen abgeleiteten Schlussfolgerung, dass jeder einzelne Bürger etwas für den Frieden tun müsste.

In diesem Gespräch wurde dem Studenten mitgeteilt, dass derartige Aktivitäten nicht statthaft sind und unterlassen werden sollten.

Offensichtlich infolge der unzureichenden offensiven ideologischen Auseinandersetzung, des Mangels an überzeugenden, wirksamen Argumentationen in den genannten Veranstaltungen an der Sektion Physik und des unterlassenen Gesprächs mit dem Studenten Baer verfasste dieser, unterstützt durch den Physikstudenten [Name, Vorname], 22 Jahre, Mitglied der FDJ, ebenfalls 2. Studienjahr, einen neuen »Aufruf« mit dem Titel »An alle Menschen« (vgl. Anlage 2), den Baer am 15.2.1982 handgeschrieben dem stellvertretenden GO-Sekretär der Sektion Physik mit der Bitte um Stellungnahme übergab.

Der Student Brauer hatte Kenntnis von den erneuten Aktivitäten des Baer, lehnte jedoch eine Mitarbeit ab, beeinflusste ihn aber auch nicht, dieses Vorhaben zu unterlassen.

(Beide Studenten bewohnen gemeinsam ein Zimmer im Internat der Karl-Marx-Universität.)

Dieser »Aufruf« enthält analog der bereits zuvor verfassten Materialien erneut pazifistische Grundaussagen. In ihm wird einleitend auf die angehäuften Waffenvorräte und den »tagtäglich perfekter werdenden Vernichtungsapparat« sowie auf die daraus resultierende Kriegsgefahr hingewiesen. Obwohl im Aufruf hervorgehoben wird, dass die »Physikstudenten aus Leipzig hinter unserem Staat und den sowjetischen Abrüstungsvorschlägen stehen«, werden diese aufgefordert, »auf die Straße zu gehen und für Abrüstung zu demonstrieren, sich der Friedensbewegung anzuschließen«.

Im Ergebnis dieser erneuten Aktivitäten fanden mit beiden Studenten Aussprachen seitens des stellvertretenden GO-Sekretärs, Genossen Dr. Lippold,4 und des amtierenden Sektionsdirektors, Genossen Prof. Dr. Uhlmann,5 statt, in dessen Verlauf ihnen unter Hinweis auf künftig erfolgende disziplinarische Maßnahmen (Exmatrikulation) untersagt wurde, weitere diesbezügliche Aktivitäten zu entwickeln. Beide Studenten gaben das Versprechen ab, diese Festlegung einzuhalten. Sie erklärten außerdem, den Entwurf des Aufrufes noch keiner weiteren Person zur Kenntnis gegeben und ihn auch nicht vervielfältigt zu haben.

Darüber hinaus wurden seitens der Kreisleitungen der SED und der FDJ an der Karl-Marx-Universität Leipzig im Zusammenwirken mit dem Rektorat folgende Festlegungen getroffen:

  • Bildung einer im Auftrage des Sekretariats der Kreisleitung der SED tätigen Arbeitsgruppe mit dem Ziel, den politisch-ideologischen Klärungsprozess an der Sektion Physik zu unterstützen und zu fördern,

  • verstärkte Einflussnahme seitens der Leitung der GO der SED an der Sektion Physik auf die inhaltliche Gestaltung der ideologischen Arbeit der Parteigruppe und der FDJ-Grundeinheit,

  • Durchführung einer Unterschriftensammlung für eine Protestresolution gegen die aggressive Politik der Reagan-Administration,6 organisiert durch die Leitung der FDJ-Grundeinheit (Diese Unterschriftensammlung hat begonnen. Alle drei Studenten gehören zu den Unterzeichnern.),

  • Durchführung einer Diskussionsveranstaltung an der Sektion Physik unter Beteiligung des Lehrkörpers zur Abrüstungsproblematik und zum Klasseninhalt des Friedenskampfes.

Die Überprüfungen des MfS zur Persönlichkeit der Verfasser der »Aufrufe« ergaben bisher keine Hinweise auf Verbindungen zu feindlich-negativen Kräften bzw. zu solchen kirchlichen Einrichtungen und Organisationen sowie Personen, die pazifistisches Gedankengut verbreiten und eine sogenannte unabhängige Friedensbewegung in der DDR propagieren.

Die Studenten Baer und [Name] leisteten vor Beginn des Studiums ihren Grundwehrdienst in der NVA.

Der Student Brauer begann nach Abschluss des Abiturs ein Studium an der Offiziershochschule »Franz Mehring« der Luftstreitkräfte mit vorgesehener Spezialisierung als Flugzeugführer, das er aus gesundheitlichen Gründen nicht abschließen konnte. Daraufhin wurde er im April 1980 aus der NVA in Ehren entlassen. Seine Studienergebnisse sind mittelmäßig. In politischen Diskussionen ist er zurückhaltend, vertritt er nicht immer einen klassenmäßigen Standpunkt. Seine Verpflichtung als Reserveoffiziersanwärter unterschrieb er erst nach mehrmaligen Aussprachen. Brauer und Baer werden als Einzelgänger charakterisiert.

Feststellungen des MfS zufolge hatten die Vorgänge an der Sektion Physik keine Auswirkungen auf andere Sektionen der Karl-Marx-Universität Leipzig. Es wurden bisher keine diesbezüglichen Aktivitäten unter Studenten anderer Studienrichtungen festgestellt.

Anlage 1 zur Information Nr. 116/82

An alle Amerikaner!

Ihr sagt, dass wir euch bedrohen und dass ihr euch gegen uns verteidigen müsst. Um euch vor uns zu schützen, sagt man auch, muss man rüsten und immer mehr Werte, die eigentlich euch gehören, werden für die Rüstung vergeudet. Und wir sagen, so lange ihr rüstet, müssen wir nachziehen.

Amerikaner, | wisset, dass wir genau so wenig den Krieg wollen wie ihr.

Was uns fehlt, ist das Vertrauen zueinander.

Zeigen wir doch unsere Friedensliebe gegenseitig. Demonstrieren wir doch jeder an seinem Ort für Frieden. Was nützt uns Menschen denn der Krieg, wo wir doch nur einmal leben und eigentlich nur glücklich sein wollen?

Wir alle leben in verschiedenen Ländern, haben die unterschiedlichsten Anschauungen und Überzeugungen. Diese müssen akzeptiert werden, aber wir denken, dass es bessere Formen des Wettstreits und der Auseinandersetzung als gerade die Aufrüstung und den Krieg gibt. Deshalb wollen wir für die Abrüstung demonstrieren. Dabei hoffen wir, dass viele Menschen in Ost und West und vor allem diejenigen, welche denken, dass ihr Staat schon alles Mögliche zur Friedenssicherung tut, sich daran beteiligen.

Amerikaner, | gehen wir doch gemeinsam auf die Straße, demonstrieren wir für Frieden und Abrüstung, für konkrete Verhandlungsergebnisse bei den Abrüstungsgesprächen.

Verbinden wir uns in dieser großen Sache, es ist in unser aller Interesse.

Für den Frieden auf der Welt. | Für allgemeine Abrüstung. | Liebe Freunde!

Dies ist ein Aufruf der Vernunft, ein Aufruf, der das Ziel hat, möglichst viele Menschen in den großen Kampf der Abrüstung einzubeziehen. Deshalb müssten wir uns gerade in die Lage der meisten Menschen im westlichen Ausland hineinversetzen, vieles offenlassen, was uns im Prinzip klar ist, wie z. B. wer das Wettrüsten anheizt usw. Wir sind davon überzeugt, dass es allgemeine Wahrheiten gibt, die im Prinzip jeder Mensch gutheißt, ob er nun in Ost oder West lebt. Zu diesen allgemeinen Wahrheiten zählen wir die Friedensliebe, deshalb appellieren wir an sie, weil sie etwas Ursprüngliches im Menschen ist. Wir wissen, dass die Menschen im Westen glauben, dass sie von uns bedroht werden. Das wird ihnen auf die verschiedenste Weise glaubhaft gemacht, auf jeden Fall haben sie Angst vor uns. Und darum geht es. Wir haben als Ziel, dass die Menschen drüben auf vielfältigste Weise unsere Friedensliebe erkennen. Deshalb haben wir vor, am 14.4.1982 in Leipzig einen Friedensmarsch durchzuführen und Unterschriften unter unser Manifest zu sammeln. Dieses Manifest wollen wir dann bei einer Friedensdemonstration in Berlin den Botschaften der westlichen Länder überreichen. Gleichzeitig haben wir vor, dieses Manifest an die verschiedensten Zeitungen in Ost und West zu verschicken. So z. B. an die »Junge Welt«, die »UNITA«,7 »Wahrheit«,8 »UZ«,9 »L'Humanité«10 usw. Genauso fordern wir alle Menschen auf, die mit uns demonstrieren wollen, von unseren Aktionen Fotos zu machen und sie an ihre Bekannten in Ost und West zu schicken, damit sie sehen, was wir hier tun und vielleicht mitmachen. Man kann uns vorwerfen, dass unsere Tat realitätsfremd sei, keine Auswirkungen habe usw. Nun, wir machen uns da keine Illusionen, aber es ist niemals sinnlos, etwas Gutes zu tun. Und außerdem hoffen wir, dass sich noch mehr Menschen mit Ideen und Vorschlägen finden werden, die etwas Konkretes zur Friedenssicherung tun möchten. Wir wollen nicht, dass unsere Bemühungen in falsche Bahnen abschwenken, in Bahnen, die unser aller Interesse nur schaden können. Deshalb rufen wir allen, die dies befürchten, zu: Beteiligt euch an dieser Friedensaktion – sorgt mit dafür, dass sie eine solche wird und bleibt, denn eine jede solche Aktion ist notwendig. Man kann nicht genug für Abrüstung und Frieden tun und man muss jede Form, sie zu erreichen, nutzen, denn heute kann auch der Schwächere in einem eventuellen Krieg die Welt vernichten.

Und denkt an eines: Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Überlebenden von den Kindern gefragt: Wie konnte es nur dazu kommen? Ihr wolltet doch keinen Krieg? Wieso habt ihr ihn zugelassen? Wir wollen uns das nicht noch einmal fragen lassen.

Deshalb macht mit, unterschreibt unser Manifest, trefft euch mit uns am 14.4.1982 vor dem Völkerschlachtdenkmal zu einer Friedensdemonstration zum Zentralstadion.

Anlage 2 zur Information Nr. 116/82

An alle Menschen!

In einer Zeit, die bewegt und kurzlebig, aber auch sehr brisant ist, wenden wir, Physikstudenten der Karl-Marx-Universität Leipzig in der DDR, uns an jene Menschen – an Dich, der DU jetzt diese Zeilen liest.

Es gibt bestimmt vieles was uns unterscheidet, sei es Deine Sprache, Deine täglichen Sorgen, auch Deine Überzeugung, und doch versuchen wir, Dich zu erreichen, denn wir alle, unser Leben, unsere Erde ist in höchster Gefahr, vernichtet zu werden. Zu gewaltig sind die Waffenvorräte, zu groß die Kriegsgefahr. Für jeden von uns Menschen stehen 40 t Sprengstoff bereit. Bereit, um uns im Ernstfall zu töten, dabei würden schon 100 g genügen.

Tagtäglich kommen neue Waffen hinzu, tagtäglich wird der Vernichtungsapparat perfekter und tagtäglich wächst auch die Gefahr, dass er ausgelöst wird.

Warum dies alles?!

Kein Mensch braucht den Krieg. Wir leben doch alle nur einmal und wollen eigentlich nur glücklich sein. Kein Mensch will den Krieg, Du nicht und ich nicht, Du nicht und wir nicht. Aber keiner glaubt, vertraut den anderen. Doch ist dies nicht, angesichts der Gefahr, die uns droht, widersinnig.

Wir, Physikstudenten aus Leipzig, stehen hinter unserem Staat, hinter den sowjetischen Abrüstungsvorschlägen. Wir gehen trotzdem auf die Straße und zeigen unseren Friedenswillen, demonstrieren für Abrüstung, damit wir alle Menschen überzeugen, dass wir keinen Krieg wollen.

Und was wirst Du tun. Tu es uns gleich, gehe auf die Straße und sage, was Du denkst, schließe Dich der Friedensbewegung an. Fordere die allgemeine Abrüstung.

Wir sind der Meinung, wenn das alle Menschen tun, wenn alle Menschen sich gegenseitig zeigen, dass sie für Frieden und Abrüstung sind, dass sie gemeinsam dann die Macht haben, wirklich konkrete Ergebnisse zu erreichen.

Menschen, wir wollen keinen Krieg. Wir wollen Frieden und Abrüstung. Zeigen wir das, sprechen wir miteinander. Es liegt in unserer aller Interesse.

Die Studenten der Sektion Physik der KMU Leipzig, DDR

N.-K. Baer | [Vorname Name]

  1. Zum nächsten Dokument Statistik Einnahmen Mindestumtausch (1.3.1982–7.3.1982)

    10. März 1982
    Information Nr. 117/82 über die Entwicklung der Einnahmen aus der Durchführung des verbindlichen Mindestumtausches für die Zeit vom 1. März 1982 bis 7. März 1982

  2. Zum vorherigen Dokument Statistik Einnahmen Mindestumtausch (22.2.1982–28.2.1982)

    2. März 1982
    Information Nr. 105/82 über die Entwicklung der Einnahmen aus der Durchführung des verbindlichen Mindestumtausches für die Zeit vom 22. Februar 1982 bis 28. Februar 1982