Investvorhaben »Karbonatdrucklaugung« in der Wismut
9. Juni 1982
Information Nr. 299/82 über das Investitionsvorhaben »Karbonatdrucklaugung« der SDAG Wismut
Im Rahmen der Aufgabenstellung aller Diensteinheiten des MfS, einen maximalen Beitrag zur Erfüllung der Beschlüsse der Partei zu leisten und die zuständigen Partei- und Staatsorgane bei der Aufdeckung und Beseitigung von Mängeln und Hemmnissen und bei der Erschließung von Reserven zu unterstützen, wurde am 5.5.1982 durch die BV Karl-Marx-Stadt dem 1. Sekretär der Gebietsleitung Wismut1 der SED, Genossen Rohde,2 und am 14.5.1982 dem Generaldirektor der SDAG, Genossen Woloschtschuk,3 eine Information über das Investitionsvorhaben »Karbonatdrucklaugung« in den Aufbereitungsbetrieben 101 Crossen und 102 Seelingstädt der SDAG Wismut4 übergeben.5
Diese Information beruht auf den dem MfS bekannt gewordenen Untersuchungsergebnissen und Einschätzungen einer Reihe zuverlässiger Fachexperten und Expertenkollektive aus wissenschaftlich-technischen Einrichtungen der SDAG Wismut.
In ihr wurde auf grundsätzliche Probleme hinsichtlich des Investitionsvorhabens »Karbonatdrucklaugung« und auf zwei Vorschläge mit unterschiedlichen Lösungsvarianten zur Veränderung dieses Investitionsvorhabens, einschließlich weiterführender Überlegungen von Experten zu diesbezüglichen Rationalisierungsmöglichkeiten, hingewiesen.
In der Information der BV Karl-Marx-Stadt wurde vorgeschlagen, diese Probleme bzw. Vorschläge unter strikter Beachtung des für den Industriezweig Wismut gültigen Status, des Regierungsabkommens und der entsprechenden Beschlüsse unserer Partei sowie der Rechtsvorschriften der DDR durch Experten auf ihre Realisierbarkeit prüfen zu lassen.
Durch das Investitionsvorhaben »Karbonatdrucklaugung« sollen die Voraussetzungen geschaffen werden, das gegenwärtig angewandte Verfahren, die atmosphärische Laugung zur Aufbereitung der Erze, durch die »Karbonatdrucklaugung« abzulösen. Dadurch soll[en] eine bessere Aufschließung der anfallenden Erze, eine größere Effektivität der Erzgewinnung und damit letztlich eine höhere Metallausbeute erreicht werden.
Zu diesem Zweck ist mit einem Aufwand von insgesamt ca. 130 Mio. Mark vorgesehen, im Aufbereitungsbetrieb 101 Crossen zwei Drucklaugungslinien mit zehn Autoklaven und im Aufbereitungsbetrieb 102 Seelingstädt eine Linie mit fünf Autoklaven zu errichten. Nach vorausgegangenen Untersuchungen wurde 1978 der Projektierungsbetrieb Karl-Marx-Stadt der SDAG Wismut durch die Fachabteilung für Aufbereitung der Generaldirektion der SDAG Wismut beauftragt, eine Investitionsvorentscheidung auszuarbeiten.
1979 wurde die Investitionsvorentscheidung durch einen Beschluss der Technologischen Sektion der Generaldirektion der SDAG Wismut – als Organ der Generaldirektion mit Entscheidungsbefugnis – zur Grundsatzentscheidung erhoben. Nach dieser Grundsatzentscheidung wurden der Auftrag zur Projektierung für beide Drucklaugungsanlagen dem Projektierungsbetrieb Karl-Marx-Stadt der SDAG Wismut erteilt und die erforderlichen Bestellungen für Anlagenteile vorgenommen.
Gegenwärtig befindet sich das Investitionsvorhaben am Beginn seiner Realisierung.
Im Aufbereitungsbetrieb 101 in Crossen wurden bisher Fundamente im Wertumfang von ca. 4 Mio. Mark errichtet, für die Schaffung erforderlicher Baufreiheit ca. 7 Mio. Mark verausgabt und Ausrüstungen in Höhe von ca. 6 Mio. Mark angeliefert. Im Aufbereitungsbetrieb 102 in Seelingstädt wurden für Fundamente bisher 3,5 Mio. Mark investiert.
Die Fertigstellung bzw. Auslieferung der ersten drei beim VEB Chemieanlagenbau Germania Karl-Marx-Stadt in Auftrag gegebenen insgesamt 15 Autoklaven ist im September 1982 und weiterer sieben bis zum I. Quartal 1983 vorgesehen.
Für die Herstellung dieser Autoklaven sind Böden (je zwei für einen Autoklaven) erforderlich, die aus der BRD importiert werden. Der Preis je Boden soll.ca. 50 000 Valuta-Mark betragen (Gesamtkosten ca. 1,5 Mio. Valuta-Mark). Nach vorliegenden Informationen wurden bisher 16 solcher Böden für Juni 1982 mit der Firma Thyssen/BRD vertraglich gebunden.
Die Fertigstellung und Inbetriebnahme des Investitionsvorhabens sind für 1984 geplant.
Ausgehend von den dem MfS zu dem Investitionsvorhaben »Karbonatdrucklaugung« vorliegenden Angaben ist auf folgende grundsätzliche Probleme hinzuweisen, die auch in ihrem Kern in der einleitend genannten Information der BV Karl-Marx-Stadt angeführt wurden:
Eine Reihe von Aufbereitungsexperten, darunter auch solche aus den Aufbereitungsbetrieben 101 Crossen und 102 Seelingstädt, vertritt die Auffassung, dass die wesentlichste Ausgangsgröße für die Entscheidung über die »Karbonatdrucklaugung« die Lagerstättenbewertung hinsichtlich des Anteils schwer aufschließbarer Erze war.
Zur Zeit der Untersuchung, Investitionsvor- und Grundsatzentscheidung, soll von der Annahme ausgegangen worden sein, wonach der Anteil der schwer aufschließbaren Erze, insbesondere aus den Lagerstätten im Thüringer Raum, sich stark erhöhen würde. Diese Annahme habe sich bisher weder in der Lagerstättenerkundung noch im Abbau bestätigt. Im Ergebnisprotokoll »W 102–1107/81 – Teilthema Lagerstättenbewertung aus der Sicht aufbereitungstechnologischer und ökonomischer Aspekte und Einfluss der Erzeigenschaften auf die Aufbereitungstechnologie« (erarbeitet vom WTZ der SDAG Wismut, unterzeichnet von vier Experten, u. a. dem Direktor des WTZ und einem sowjetischen Spezialisten) wird diesbezüglich ausgesagt, dass die Erze der künftigen abzubauenden Lagerstätten des Thüringer Raumes Eigenschaften ausweisen, die sich – bis auf einen geringen Anteil von maximal 20 % schwer aufschließbarer Erze – mit der bisherigen Aufschließungstechnologie (atmosphärische Laugung) aufbereiten lassen würden.
Bei der Erzaufbereitung nach der »Karbonatdrucklaugung« soll nach Experteneinschätzung eine höhere Metallausbeute gegenüber der bisherigen »atmosphärischen Laugung« auch unabhängig von der Erzqualität erreicht werden können.
Voraussetzung dafür sei jedoch, dass das Verfahren wissenschaftlich-technisch und technologisch so entwickelt und beherrscht wird wie die vorgegebenen Parameter das vorsehen und eine optimale Fahrweise gewährleistet werden kann.
Nach durch Untersuchungsergebnisse gestützten Aussagen von Experten sollen durch zwischenzeitlich erfolgte Rationalisierungs- und Intensivierungsmaßnahmen in den Aufbereitungsbetrieben 101 Crossen und 102 Seelingstädt nach dem Verfahren der atmosphärischen Laugung bereits gegenwärtig weitestgehend die Werte erreicht werden, die den geplanten Parametern der Karbonatdrucklaugung in Realisierung des Investvorhabens entsprechen.
Nach Einschätzung mehrerer Experten, darunter eines verantwortlichen Projektanten für das Investitionsvorhaben »Karbonatdrucklaugung« des Projektierungsbetriebes der SDAG Wismut, bestehen derzeit auch noch Bedenken zur Betriebssicherheit der projektierten Autoklaven.
Diese Bedenken werden gestützt durch zwei Gutachten (Bericht Nr. 25/80 und Nr. 3/81) von drei Experten der Zentralstelle für Korrosionsschutz Dresden.
In diesen Gutachten wird auf eine mögliche gewaltsame Zerstörung der Autoklaven (Druckbehälter von 125 m3 Nenninhalt, Betriebsdruck 15 atü, Betriebstemperatur 160° C) infolge zu erwartender, nicht bis zuletzt geklärter Korrosionsformen bei Verwendung des im Projekt vorgesehenen V-4-A-Stahles hingewiesen.
Nach einer durch den sowjetischen Projekthauptingenieur beim sowjetischen Institut, Nichimmasch,6 veranlassten Prüfung des ersten Gutachtens (Bericht Nr. 25/80) wurde vorgenannte Einschätzung auch im zweiten durch die Zentralstelle für Korrosionsschutz überarbeiteten Gutachten, dem Bericht Nr. 3/81, getroffen.
In der Sowjetunion sollen seit zwölf Jahren Anlagen zur »Karbonatdrucklaugung« mit Autoklaven, hergestellt aus V-4-A-Stahl, in Betrieb sein. Zu den konkreten Betriebs- und Standortbedingungen liegen dem MfS keine näheren Informationen vor.
Unter teilweiser Berücksichtigung vorgenannter Probleme wurden durch Experten für die Erzaufbereitung aus dem Wissenschaftlich-Technischen Zentrum der SDAG Wismut, Abteilung 44 (Aufbereitungsautomatisierung), zwei Rationalisierungsvorschläge zum Investitionsvorhaben »Karbonatdrucklaugung« erarbeitet.
Dabei handelt es sich um
1. den Vorschlag im Rahmen der Diskussion zur Fünfjahrplandirektive des X. Parteitages »Erhöhung der Effektivität der Investition durch Beschleunigung und Konzentration der Investitionen zur Drucklaugung für Thüringer Erze im Aufbereitungsbetrieb 101 Crossen«.
Dieser Vorschlag beinhaltet den Aufbau nur einer Karbonatdrucklaugungsanlage im Aufbereitungsbetrieb 101 in Crossen. Er wurde 1981 erarbeitet und dem Direktor des Wissenschaftlich-Technischen Zentrums der SDAG Wismut übergeben, der diesen an die Fachabteilung für Aufbereitung der Generaldirektion gesandt haben soll. Bei den Autoren dieses Vorschlages handelt es sich um den Leiter und stellvertretenden Leiter der Abteilung sowie einen Gruppenleiter, darunter ein sowjetischer Genosse.
Der ökonomische Nutzen dieser Variante wird ausgewiesen mit
- –
Verringerung der Investitionskosten von ca. 17 Mio. Mark,
- –
Wegfall der Kosten zur Aufrechterhaltung der Zeche 12 im Aufbereitungsbetrieb 101 Crossen in Höhe von 15 bis 20 Mio. Mark,
- –
Einsparung von ca. 40 000 Tonnen Braunkohlenbriketts jährlich und Senkung des Elektroenergieverbrauches um 2,6 Megawatt pro Jahr.
2. den Vorschlag »Änderung der Investitionsvorhaben zur Umstellung auf die Verarbeitung eines höheren Anteils von Karbonaterzen nach 1984 in den Aufbereitungsbetrieben«.
Dieser Vorschlag beinhaltet, die ursprünglich vorgesehenen Karbonatdrucklaugungsanlagen nicht zu bauen und sie durch die effektiveren und erprobten Anlagen, wie sie im Aufbereitungsbetrieb 102 Seelingstädt vorhanden sind, zu ersetzen.
Der Vorschlag wurde am 5.4.1982 abgeschlossen und anschließend dem Direktor des Wissenschaftlich-Technischen Zentrums der SDAG Wismut übergeben.
Einen wesentlichen Anteil bei der Erarbeitung dieses Vorschlages leistete der stellvertretende Leiter der Abteilung, der diesen Vorschlag auch unterzeichnete.
Es wird ausgewiesen, dass bei Verwirklichung dieses Vorschlages
- –
sich die Investitionskosten um ca. 90 Mio. Mark verringern und
- –
die Betriebskosten pro Tonne des zu verarbeitenden Erzes durch die Einsparung größerer Sodamengen und Verminderung des Elektroenergieverbrauches bedeutsam gesenkt werden können.
Diese Vorschläge sowie der Hinweis auf weiterführende Überlegungen von Experten des Wissenschaftlich-Technischen Zentrums der SDAG Wismut, deren Ausgangspunkt vor allem die angestrebte Verringerung der Vermischung von erzhaltigem und tauben Gestein ist und deren praktische Umsetzung einen noch weit größeren ökonomischen Nutzeffekt erbringen sollen, waren ebenfalls Inhalt der Information vom 5.5.1982 bzw. vom 14.5.1982.
Sowohl zum Investitionsvorhaben »Karbonatdrucklaugung« als auch zu den dargestellten Vorschlägen liegen dem MfS keine Angaben zu gegebenenfalls damit verbundenen Nachfolgeinvestitionen und den zu erwartenden Umweltbelastungen vor.
Der erstgenannte Rationalisierungsvorschlag wurde nach vorliegenden Informationen im Mai 1981 durch den Leiter der Fachabteilung für Aufbereitung der Generaldirektion der SDAG Wismut abgelehnt. Diese Ablehnung soll durch den Stellvertreter des Generaldirektors für Wissenschaft und Technik der SDAG Wismut bestätigt worden sein.
Zum zweitgenannten Rationalisierungsvorschlag fand am 14.5.1982 eine durch den Generaldirektor der SDAG Wismut, Genossen Woloschtschuk, einberufene und unter seiner Leitung stehende technische Beratung statt, an der weitere 34 Personen, darunter der Sekretär für Wirtschaftspolitik der SED-Gebietsleitung, Genosse Schiefer,7 sowie der stellvertretende Leiter der Abteilung 44 des Wissenschaftlich-Technischen Zentrums der SDAG Wismut, Genosse Dr. Eife,8 teilnahmen.
Aus vorliegenden Informationen geht hervor, dass der Gegenstand der Beratung ausschließlich der Rationalisierungsvorschlag vom 5.4.1982 (2. Vorschlag) war, der durch Genossen Dr. Eife erläutert und vertreten wurde. Die von Fachexperten zum Investitionsvorhaben »Karbonatdrucklaugung« vorgebrachten und in der Information der BV Karl-Marx-Stadt vom 5.5.1982 bzw. vom 14.5.1982 aufgezeigten Probleme wurden hier nicht beraten.
Im Ergebnis der Beratung wurde
- –
genannter Vorschlag abgelehnt, da er technisch nicht zweckmäßig und ökonomisch nicht begründet sei und nicht eine Verbesserung der Effektivität, sondern eine Nichterfüllung der Kennziffern des gegenwärtigen und nächsten Fünfjahrplans bewirken würde und
- –
festgelegt, dass das Investitionsvorhaben »Karbonatdrucklaugung« als Schwerpunktinvestitionsvorhaben Nr. 1 für die Aufbereitungsbetriebe zu betrachten, planmäßig weiterzuführen und termingemäß fertigzustellen ist.
Bisher ist dem MfS nicht bekannt, ob überhaupt, durch wen und mit welchen konkreten Ergebnissen eine erforderliche tiefgründige, wissenschaftlich fundierte Prüfung der Rationalisierungsvorschläge, auf die in der oben genannten Information hingewiesen wurde, wie u. a. in der Verordnung über die Durchführung von Investitionen vom 27.4.1980 (GBl. Teil I Nr. 13) festgelegt ist, erfolgte.
Auch nach der Beratung des Generaldirektors der SDAG Wismut vom 14.5.1982 hält – nach vorliegenden Informationen – eine größere Anzahl der mit genannter Problematik vertrauten Mitarbeiter der SDAG Wismut aus dem Wissenschaftlich-Technischen Zentrum, dem Projektierungsbetrieb und den Aufbereitungsbetrieben, darunter leitende Kader, Parteifunktionäre und sowjetische Experten, eine allseitige objektive Überprüfung des Investitionsvorhabens »Karbonatdrucklaugung« sowie eine tiefgründige Prüfung der unterbreiteten Vorschläge und damit die Klärung der vorhandenen widersprüchlichen volkswirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Standpunkte für erforderlich.
Gleichzeitig bringt ein großer Teil dieser Mitarbeiter Befremden über die Art und Weise der Behandlung und der Ablehnung der Rationalisierungsvorschläge zum Ausdruck, wobei u. a. erklärt wird, dass dies im Widerspruch zu den Beschlüssen der Partei stehe, nach denen neue Gedanken und Initiativen der Werktätigen sorgfältig zu prüfen sind.