Jahrestreffen der »Aktion Sühnezeichen« in Berlin-Weißensee
18. Januar 1982
Information Nr. 12/82 über das Jahrestreffen der »Aktion Sühnezeichen« (AS) vom 28. bis 30. Dezember 1981 in Berlin-Weißensee, Stephanusstiftung
Dem MfS wurden streng intern Einzelheiten zum Verlauf des Jahrestreffens der »Aktion Sühnezeichen«1 bekannt, die, soweit sie beachtenswert erscheinen, im Folgenden angeführt werden.
Aus der DDR nahmen daran ca. 230 Personen teil, wobei es sich überwiegend um Jugendliche im Alter bis zu 20 Jahren handelte, die fast alle im Verlaufe des Jahres 1981 an Aufbaulagern der »Aktion Sühnezeichen« in diakonischen Einrichtungen sowie Mahn- und Gedenkstätten in der DDR teilgenommen hatten.
Außerdem waren zeitweise anwesend: die DDR-Bürger Oberkirchenrat Christa Lewek2 (Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR/Berlin) und der Jurist Koltzenburg3 (Abteilungsleiter Innere Mission und Hilfswerk/Berlin).
Als ausländische Teilnehmer wurden u. a. festgestellt: Pastor Marx4 (Evangelischer Stadtsynodalverband Köln/BRD), Pfarrer Johannes Müller5 (»AS«/Friedensdienste Berlin-West), Nicky Crane6 (Großbritannien) und Frau Lauscherová7 aus der ČSSR.
(Die ausländischen Teilnehmer waren als Privatpersonen in die DDR eingereist und wurden entgegen den geltenden Festlegungen vom Leiter der »AS« in der DDR, Pfarrer Magirius,8 nicht als Teilnehmer des Jahrestreffens offiziell angemeldet.)
Die Unterbringung der Teilnehmer erfolgte überwiegend in Privatquartieren, darüber hinaus in der Stephanusstiftung, im Haus der Kirche in Berlin-Weißensee und in den Hospizen Auguststraße und Albrechtstraße.
Zum Thema des Jahrestreffens »Uns stört nicht, dass andere anders sind« (was bedeutet Toleranz; wie tolerant sind wir; wo sollen wir tolerant sein; welche Erfahrungen können uns weiterhelfen) wurden von den Theologen Dr. Münchow9 (Dresden), Dr. Ullmann10 (Dozent am evangelischen Sprachenkonvikt Berlin) und Pfarrer Eickhardt11 (Berlin) Vorträge gehalten mit Ausführungen zum Toleranzbegriff aus philosophisch-theologischer Sicht. Sie enthielten keine aktuellen Bezugspunkte zu politischen Fragen.
Weitere Rahmenveranstaltungen des Jahrestreffens waren ein Gottesdienst in der Elisabeth-Kirchgemeinde (Invalidenstraße), eine Lesung des Schauspielers Rudolph Christoph12 (Deutsches Theater) zu dem Buch »Herr Moses in Berlin«13 des Autors Heinz Knobloch14 und ein Vortrag von Günter Särchen15 (Mitarbeiter des katholischen Seelsorgeamtes Magdeburg) »Aus der Geschichte von AS«. Sie verliefen ohne besondere Vorkommnisse.
Pfarrer Magirius verlas den Jahresbericht des Leitungskreises der »AS« (29 dem MfS namentlich bekannte Personen).
Er befasste sich darin mit Einzelheiten zu den 1981 von »AS« in der DDR durchgeführten sogenannten Lagerdiensten und verwies unter anderem darauf, dass die Beteiligung daran gegenüber 1980 von 485 auf 660 Personen angestiegen sei.
Magirius informierte, es sei jedoch nicht gelungen, geeignete Kandidaten für eine Neuwahl des Leitungskreises zu gewinnen, sodass dieses Gremium auch 1982 in seiner derzeitigen Zusammensetzung bestehen bleiben würde.
In seinem Bericht stellte Magirius unter anderem fest, dass »… viele Probleme besser gelöst, werden könnten, wenn alle Menschen und auch die staatlichen Organe bei der Lösung ihrer Probleme mehr Toleranz an den Tag legen würden. Je weniger der Staat zum Beispiel versuchen würde, in den privaten Bereich der Menschen hineinzuregieren, umso bereitwilliger würden die Menschen sein, freiwillig mitzuarbeiten und Probleme zu lösen …«
Im Bericht erwähnte Magirius weiter, es müsse vermerkt werden, dass an diesem Jahrestreffen keine polnischen Teilnehmer beteiligt seien, obwohl gerade sie bei zurückliegenden Jahrestreffen »zur weiteren Versöhnung zwischen Deutschen und Polen« beigetragen hätten. Mit Bedauern sei festzustellen, dass durch staatliche Organe der DDR in der letzten Zeit verstärkte Aktivitäten unternommen worden seien, um bestehende Verbindungen von »AS« in die VR Polen »zu erschweren und zu unterbinden«.
So hätten z. B. in der Zeit unmittelbar vor dem 13.12.1981 Mitglieder von »AS« keine Ausreise in die VR Polen erhalten, und Einreiseanträge von polnischen Bürgern in die DDR seien abgelehnt bzw. »bürokratisch verschleppend« bearbeitet worden.16 Dies dürfe jedoch (laut Magirius) nicht dazu führen, bestehende Verbindungen abzubrechen.
Magirius forderte auf, bestehende Verbindungen in die VR Polen aufrechtzuerhalten und für die polnischen Menschen zu beten. In diese Gebete sollten »… besonders notleidende Polen eingeschlossen werden«.
Zu den Ausführungen von Magirius gab es keine Diskussionen.
Landesbischof Hempel17 (Dresden) sprach am 29.12.1981 zur kirchlichen Lage und machte dabei Ausführungen zur geplanten Bildung der Vereinigten Evangelischen Kirche in der DDR (VEK),18 zur Tagung des Zentralausschusses des ökumenischen Rates der Kirchen 1981 in Dresden sowie zu kirchlichen Friedensinitiativen. In seinen Ausführungen sowie der Beantwortung von Anfragen sprach Bischof Hempel unter anderem darüber, dass
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seitens der Kirche mit Jugendgruppen zur Problematik »Sozialer Friedensdienst«19 gesprochen wurde und auch weiter gesprochen wird, die Kirche jedoch keine Konfrontation mit dem Staat wünsche,
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Wehrersatzdienst im sozialen Bereich aufgrund der Verfassung der DDR nicht möglich sei, und jeder, der dafür eintritt, müsse mit persönlichen Konsequenzen rechnen.
Bischof Hempel erläuterte den dazu von Staatssekretär Gysi20 vorgetragenen Standpunkt21 der Regierung der DDR und bezeichnete die sich daraus ergebenden Differenzen in den Standpunkten als einen »Konflikt neuen Typs, der sich nicht innerhalb von Dimensionen sogenannter klassischer Religionskritik bewegen« würde. Weiter erklärte er: »… Ich selbst halte einen Machtkampf in dieser Angelegenheit nicht als Sache der Kirche. Hier bin ich an die Grenzen meines Mandates gebunden. Man müsse sich überlegen, in diesem Zusammenhang Zeichen zu setzen. Zeichen zu setzen wäre eine Sache der Kirche, um zu probieren, wie weit man kommen könnte …«
Auf wiederholte Anfragen nach einer »Handreichung für aktive Wehrdienstleistende christlichen Glaubens«22 teilte Hempel unter anderem mit, dass der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR gegenwärtig an einem derartigen Material arbeitet; über eine Herausgabe soll im Januar 1982 entschieden werden. Diese Mitteilung wurde durch Oberkirchenrat Lewek bestätigt.
Auf dem Jahrestreffen der »AS« 1981 wurden 28 Diskussionsgruppen gebildet, die in Wohnungen von Berliner Angehörigen der »AS« zusammenkamen.
Vertraulichen Hinweisen zufolge beinhalteten die Diskussionen vorwiegend Probleme der Arbeit in Aufbaulagern der »AS« in diakonischen und anderen Einrichtungen der DDR. Von einzelnen Teilnehmern wurde versucht, Diskussionen mit negativen Aussagen über die Vorgänge in der VR Polen in Gang zu setzen, wobei sie jedoch keine Wirksamkeit erzielten.
Auf dem Jahrestreffen wurde eine Kollekte für polnische Christen gesammelt, die dem Bund der Evangelischen Kirche der DDR zur Weiterleitung übergeben wurde.
Internen Hinweisen zufolge führte der Leiter der »AS«, Pfarrer Magirius, unmittelbar vor dem Jahrestreffen eine vertrauliche Zusammenkunft mit zwölf dem MfS namentlich bekannten Mitgliedern des Leiterkreises der »AS« durch, in der er über das mit ihm durch Mitarbeiter des Staatssekretariats für Kirchenfragen geführte Gespräch zur Einhaltung gesetzlicher Bestimmungen bzw. staatlicher Regelungen für die Teilnahme von Ausländern am Jahrestreffen 1981 informierte.
Intern wurde dazu eingeschätzt, dass Magirius und andere Personen des Leitungskreises in diesem Zusammenhang verunsichert waren und sich veranlasst sahen, den innerkirchlichen Charakter des Jahrestreffens weitestgehend zu wahren.
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