Leiter der StÄV zur Lage in der DDR und den Beziehungen zur BRD
22. Dezember 1982
Information Nr. 636/82 über Äußerungen des Leiters der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, Bräutigam, zur Lage in der DDR und zu wichtigen Teilfragen der Beziehungen BRD – DDR
Mitte Dezember 1982 hat der Leiter der BRD-Vertretung in der DDR, Bräutigam,1 vor Mitgliedern des Ausschusses für Bundesangelegenheiten und Gesamtberliner Fragen des Westberliner Abgeordnetenhauses sowie vor in der DDR akkreditierten Journalisten der BRD zur Lage in der DDR sowie zu wichtigen Teilfragen der Beziehungen BRD – DDR Stellung genommen. Das Auftreten Bräutigams in Westberlin fand im Zusammenhang mit der Absage eines informellen Gespräches mit einigen Mitgliedern des genannten Ausschusses durch Genossen Häber2 statt. Übereinstimmend wurde von allen Beteiligten das Nichtzustandekommen des Gespräches bedauert. Als Ursache wurde die »journalistisch unkorrekte« Darstellung des vorgesehenen Treffens durch den »Tagesspiegel« genannt.3
Es sei nicht zu übersehen, dass bestimmte politische Kräfte in Westberlin, darunter der amerikanische Verbindungsoffizier zum Senat4 sowie Führungskreise der CDU-Fraktion des Abgeordnetenhauses, das Gespräch mit Genossen Häber offensichtlich nicht wollten. Bräutigam führte im Einzelnen aus:
Die gegenwärtige innere Situation in der DDR werde durch komplizierte außenwirtschaftliche Probleme bestimmt. Vor allem das Durchschlagen der internationalen Rohstoffverteuerungen auf das Preisgefüge im RGW, die Rückzahlung fälliger, von den westlichen Banken nicht mehr wie bisher prolongierter Kredite in konvertierbarer Währung sowie die angesichts der verschärften Wirtschaftskrise des Westens schwieriger werdenden Exportbedingungen träfen die DDR spürbarer denn je. Um die dringend benötigten Rohstoffeinfuhren dennoch bezahlen und fällige Rückzahlungen pünktlich einlösen zu können, sei die DDR 1982 und in den nächsten Jahren zu einer verstärkten Exportoffensive gezwungen, die nicht ohne negative Auswirkungen auf ihre produktiven Investitionen und die Versorgung ihrer Bevölkerung bleiben dürfte. Bereits in den letzten Monaten hätten die dadurch bedingten Versorgungsengpässe zu bestimmten Unmutsäußerungen bei DDR-Bürgern bzw. in einzelnen Betrieben geführt, die jedoch keineswegs denjenigen in Polen vergleichbar seien.
Die DDR sei nach wie vor ein stabiler Staat, dessen politische Führung sich erkennbar bemühe, bestimmten Forderungen der Bevölkerung Rechnung zu tragen.
Zur politischen Lage in der DDR erklärte Bräutigam, dass es in der DDR inzwischen eine eigenständige, stark auf die evangelische Kirche abgestützte Friedensbewegung gäbe. Sie sei zwar durch Vorgänge im Westen inspiriert worden, trage jedoch einen spürbar DDR-spezifischen Charakter. Es sei Tatsache, dass in der DDR die Sorge über die westliche »Nachrüstung« eindeutig größer sei, als diejenige über bestimmte Verhaltensweisen der Sowjetunion. Sowohl die DDR-Friedensbewegung als auch die DDR-Bevölkerung schrieben gegenwärtig dem westlichen Vorgehen auf rüstungs- und militärpolitischem Gebiet die eigentliche friedensgefährdende Wirkung zu. Des Weiteren führte Bräutigam aus, dass angesichts der aktuellen amerikanischen Politik das einst in der DDR existierende Vertrauen gegenüber dem Westen allmählich zu bröckeln beginne. Der Schwerpunkt der Friedensbewegung in der DDR richte sich bei partieller Kritik an der UdSSR eindeutig gegen die Stationierung von neuen amerikanischen Mittelstreckenraketen in Westeuropa.5
Auf wichtige Fragen der Beziehungen BRD – DDR eingehend, nahm Bräutigam u. a. zur Forderung der DDR nach einer Erhöhung der mit der BRD vereinbarten Postpauschale Stellung. Angesichts der steigenden Leistungen der DDR-Post sowie ihres durch die allgemeinen Preissteigerungen bedingten Mehraufwandes sei eine Anhebung der Pauschale selbstverständlich. Obwohl eine Erhöhung von jetzt 85 Mio. auf 430 Mio. DM jährlich recht drastisch erscheine, sei diese Forderung der DDR bei Zugrundelegung der bestehenden internationalen Regelungen jedoch durchaus legitim und in der Höhe angemessen.6 Sollte die DDR im Unterschied zur bisherigen Vereinbarung nunmehr auf eine Berechnung der neuen Postpauschale entsprechend den internationalen Regelungen bestehen, werde die BRD letztlich nicht umhin können, erheblich mehr Mittel als bisher dafür aufzuwenden.
Bräutigam äußerte sich ferner zur Frage der Offenhaltung der Grenzübergangsstelle Staaken über den 31. Dezember 1984 hinaus, die aus seiner Sicht komplizierte politische und finanzielle Probleme aufwerfe.7 Erstens seien sowjetische Interessen tangiert und zweitens würde die BRD voraussichtlich alle mit einem solchen Schritt verbundenen baulichen Maßnahmen (z. B. Zubringer zur Autobahn Berlin – Hamburg), weil ausschließlich in ihrem Interesse liegend, allein finanzieren müssen. Die dafür notwendigen Mittel würden möglicherweise mehrere Hundert Millionen Mark erfordern. Angesichts des gleichzeitigen Interesses der BRD an solchen finanzaufwendigen Projekten wie der Übernahme der S-Bahn in Westberlin,8 der Elektrifizierung der Eisenbahnstrecke Berlin – Helmstedt sowie des Baus einer Elbetrogbrücke bei Magdeburg,9 stelle sich jedoch eindeutig die Frage nach den Prioritäten. Obwohl weiterhin Verhandlungsgegenstand mit der DDR, erscheine vor diesem Hintergrund – so Bräutigam – ein Nachlassen des Interesses der BRD an der Lösung des Problems GÜST Staaken als nicht völlig ausgeschlossen.
Bezug nehmend auf die S-Bahn-Problematik vertrat Bräutigam die Ansicht, dass noch keine Pläne auf westlicher Seite vorlägen, die Aussicht auf Realisierung böten. Bisher seien weder mit der DDR noch mit den Alliierten Vorfeldsondierungen aufgenommen worden. Völlig ungeklärt sei die statusrechtlich relevante Frage, wer auf westlicher Seite die Verhandlung führen solle. Zugleich bestehe der Eindruck, als seien die Alliierten nicht bereit, die 1945 getroffenen Regelungen bezüglich der Betriebsrechte, die bei der Deutschen Reichsbahn liegen, zu ändern. Weitgehend eindeutig sei bisher nur die Position der DDR, jegliche zusätzliche Kosten aus dem Betrieb der S-Bahn in Westberlin abzulehnen. Probleme könnte allerdings das vermutlich auf Drängen der Sowjetunion basierende Bestreben der DDR aufwerfen, bei der Neuregelung des S-Bahnverkehrs in Westberlin »ihren Fuß in der Tür« zu behalten.
Auf den Mindestumtausch eingehend führte Bräutigam aus, es sei der Standpunkt der BRD-Regierung, so lange mit der DDR zu verhandeln, bis diese zu einer Rücknahme der Erhöhung bereit sei.10 Er persönlich halte jedoch diesbezügliche Chancen der BRD für gleich Null. Nach Ansicht der oben genannten Mitglieder des Westberliner Abgeordnetenhauses sowie der in der DDR akkreditierten Journalisten sei die BRD gar nicht in der Lage, die DDR zur Rücknahme dieser für sie vorteilhaften Maßnahme – Reduzierung des westlichen Besucherstromes bei gleichzeitiger Erhöhung der Einnahmen – zu bewegen. Zwar könnte die BRD die der DDR entstehenden Fehleinnahmen finanziell ausgleichen, jedoch gäbe es für das Sicherheitsinteresse der DDR kein Äquivalent. Hinzu komme, dass international schon Umtauschsätze in Höhe von 60 Mark üblich seien und somit die 25 Mark der DDR bereits eine unterste Grenze darstellten. Vor diesem Hintergrund müsste bereits die Sicherung des gegenwärtigen Niveaus als ein Erfolg angesehen werden. Jede andere Haltung bedeute letztlich, den Menschen Sand in die Augen zu streuen.
Zur Frage eines Gesprächsteilnehmers, ob die BRD bereit sein könnte, der DDR ähnlich wie Österreich einen Kredit in Milliardenhöhe zum Kauf von Futtermitteln einzuräumen, erklärte Bräutigam, dies sei so ohne Weiteres nicht realisierbar. Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit mit der DDR in dieser Richtung böten sich jedoch dann, wenn es gelinge, eine Bankenkooperation BRD – DDR zu vereinbaren. Zu ihren persönlichen Eindrücken von der DDR befragt, äußerten die anwesenden Journalisten, sie hätten sich in »Ostberlin« zurechtgefunden und kämen sich keineswegs als in die Verbannung geschickt vor.
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