Reaktion der Bevölkerung zu Handel und Versorgung
12. Mai 1982
Hinweise über Reaktionen der Bevölkerung der DDR zu Fragen des Handels und der Versorgung [O/107]
Aus allen Bezirken der DDR – in letzter Zeit auch aus der Hauptstadt der DDR – liegen Hinweise über sich verstärkende Meinungsäußerungen und Diskussionen unter der Bevölkerung der DDR zu Problemen des Handels und der Versorgung, vornehmlich mit Fleisch- und Wurstwaren, vor.
Diese Grundtendenz ist in allen Schichten der Bevölkerung festzustellen, wobei die geführten Diskussionen über Versorgungsfragen im Vergleich zu aktuellen internationalen und nationalen Ereignissen einen dominierenden Platz einnehmen.
Anlass der Meinungsäußerungen sind vorhandene Lücken im Angebot bzw. Fehlbestände in den Verkaufseinrichtungen, insbesondere bezogen auf Fleisch- und Wurstwaren, einschließlich Fleisch- und Wurstkonserven, Frischgemüse und -obst, Obst- und Gemüsekonserven, Molkereiprodukte, Dauerbackwaren und einige Nährmittel, Haushaltswäsche (besonders der unteren Preisklassen sowie generell Bettlaken und Geschirrtücher), bestimmte Sortimente Bekleidung (darunter Arbeitsschuhe und Arbeitsschutzbekleidung, Trainingsanzüge, Kinderbekleidung in großen Größen, Oberbekleidung aus Baumwolle sowie modische Saisonartikel).
In einigen Bezirken wurde in jüngster Zeit nicht durchgängig mit Butter versorgt, was in den betreffenden Verkaufseinrichtungen zu weiteren unzufriedenen Meinungsäußerungen führte.
Meinungsäußerungen dazu erfolgen z. T. in den Verkaufsstellen, besonders innerhalb von Käuferschlangen, aber auch zunehmend in Arbeitskollektiven.
Die umfangreichsten Diskussionen werden gegenwärtig – entsprechend vorliegenden Hinweisen aus allen Bezirken der DDR – über das unzureichende Angebot an Fleisch- und Wurstwaren geführt, wobei verbreitet Unverständnis geäußert wird und in diesem Zusammenhang auch in gewissem Maße Zweifel an der weiteren Realisierbarkeit der von Partei und Regierung beschlossenen ökonomischen Zielstellung zum Ausdruck gebracht werden.
Die Argumentationen beinhalten vorwiegend solche Aussagen – die teilweise auch in Sendungen westlicher Funkmedien breit popularisiert werden – wie
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Die Versorgung in der DDR werde immer schlechter statt besser.
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Es werde zu viel Ware in das nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet exportiert, da die DDR zu hohe Schulden habe.
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Die DDR habe in den letzten Jahren »zu gut« gelebt, jetzt müsse die Bevölkerung dafür den Preis zahlen.
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Die DDR übernehme sich in Solidaritätsleistungen; die DDR nähere sich im Niveau der Fleischversorgung »polnischen Verhältnissen«.
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Die Bevölkerung bekomme jetzt die »fehlerhafte Agrarpolitik« der DDR in unangenehmster Weise zu spüren.
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Funktionäre auf mittlerer und zentraler Ebene kennen die reale Lage nicht.
In allen Bezirken der DDR (in Anfängen auch in der Hauptstadt) sind Veränderungen im Kaufverhalten der Bevölkerung festzustellen. Abweichend von der bisherigen Praxis wird jetzt z. T. die doppelte Menge Fleisch (besonders alle Sorten Schweinefleisch) zur Bevorratung aufgekauft, wodurch territorial die Versorgungssituation noch komplizierter wird.
Vielfach wird dieses Vorgehen damit begründet – und auch offen ausgesprochen –, sich in den im Haushalt befindlichen Tiefkühltruhen Vorräte anlegen zu wollen. Von Verkaufskräften wird diese Tendenz hauptsächlich in Landgemeinden und kleineren Städten bestätigt.
Aus mehreren Bezirken, darunter in Neubrandenburg, Erfurt und Dresden, liegen in geringem Umfang Hinweise vor, dass mangels Kühltruhen Bevorratungen von Fleisch mittels Einkochen erfolgen. In einigen kleineren Gemeinden/Kreisstädten wurden deshalb auf Initiative des Verkaufspersonals lediglich Waren in sonst üblichen Mengen verkauft.
In einer Reihe von Fällen wurden Verkaufspersonale wegen des unzureichenden Angebotes von Kunden beschimpft. Die Verkaufspersonale äußerten in diesem Zusammenhang Unzufriedenheit darüber, nicht über die Ursachen des Nachlassens des Angebots informiert zu sein. Sie hätten deshalb keine überzeugenden Argumente, um gegen die z. T. unsachlichen Behauptungen von Kunden auftreten zu können.
Andererseits häufen sich seitens der Käufer Behauptungen und Unterstellungen, wonach unter den Verkaufspersonalen der Fleischwarenbranche Bestechlichkeit und Schmiergeldannahme zunehme.
Weitere sich verstärkende kritische Meinungsäußerungen betreffen die Qualität der Arbeiterversorgung und des Betriebsessens. Es wird damit argumentiert, dass sich bei gleichbleibenden Preisen die Fleisch- und Wurstbeilagen verkleinern, was insbesondere für körperlich schwer arbeitende Werktätige auf die Dauer unzumutbar sei.
Aus allen Bezirken, besonders aus den Südbezirken der DDR, liegen Hinweise vor, wonach Gerüchte und Spekulationen zugenommen haben.
Sie beinhalten im Wesentlichen:
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Rationierungen bei Fleischwaren seien geplant und stünden in Kürze bevor (teilweise wird die Rationierung als akzeptabler Ausweg für eine »gerechte Verteilung« angesehen).
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Kundenbindungen (an bestimmte Verkaufseinrichtungen) und Kundenkarteien zur besseren Übersichtlichkeit des erforderlichen Familienbedarfs seien bereits in Vorbereitung.
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Auch für weitere Lebensmittel (genannt werden Molkereiprodukte und Nährmittel) würden gelenkte Verkaufsmaßnahmen in Erwägung gezogen.
Ausnahmslos alle Bezirke (ausgenommen Hauptstadt Berlin) berichten über zunehmende Käuferschlangen vor Fleischwarenläden, teilweise bestehend aus 50 bis 150 Personen, vornehmlich an Wochenenden. Dabei betragen die Wartezeiten oft mehr als zwei Stunden, z. T. dadurch begünstigt, dass Fleisch- und Wurstwaren nur ein- bis zweimal wöchentlich in die Gemeinden angeliefert werden.
Alle Bezirke machen in diesem Zusammenhang auf die zunehmende Tendenz aufmerksam, dass werktätige Frauen ihre Arbeitsplätze (darunter in Betrieben mit Fließbandarbeit) verlassen, um den Wochenendeinkauf an Fleisch- und Wurstwaren zu tätigen.
Kritisiert wird weiter der Rückgang des Angebotes in Delikatläden1. In Kreisstädten wird geäußert, dass diese Verkaufsstellen praktisch ihre ursprüngliche Bedeutung verlören, da die Angebotspalette schmaler werde und nur noch Produkte aus der DDR verkauft würden.
Darüber hinaus mehren sich kritische Äußerungen und Anzeichen von Unzufriedenheit in allen Bevölkerungskreisen, darunter verstärkt unter Mitarbeitern des Gesundheitswesens, über fehlende Pharmazeutika, insbesondere bei solchen dringend benötigten Medikamenten, wie verschiedene Infusionslösungen, Anti-Rheumatikum (Voltaren), Herz- und Kreislaufpräparate (Pentalong, Pentalonglongo, Obsidan, Obsilazin) sowie Anti-Schmerzpräparate (u. a. Migrätan).
Beachtenswert sind die verstärkt auftretenden kritischen Äußerungen – auch von Mitgliedern der SED – über den Informationsgehalt der Massenmedien der DDR zur Versorgungslage.
Sie beinhalten u. a. solche Auffassungen, dass über vorhandene ökonomische Probleme und Schwierigkeiten nicht objektiv berichtet werde. Die ständigen »Erfolgsmeldungen« stünden im »Widerspruch« zu immer sichtbarer werdenden Mängeln.
Es wird darauf verwiesen, dass andere Bruderparteien, wie z. B. die USAP, bei auftretenden Versorgungsschwierigkeiten und Preisregulierungen offen zu den Ursachen Stellung nehmen würden.
In wiederholten Fällen wurden in Diskussionen Bezugspunkte zum FDGB-Kongress2 hergestellt. So wurde behauptet, dass auch dort nicht die reale Lage in der Volkswirtschaft dargestellt und keine Informationen gegeben worden seien, wie diese Schwierigkeiten – besonders bezogen auf Probleme der Versorgung – überwunden werden sollen.
Erwartungen dahingehend, Aussagen zu Ursachen der »rückläufigen Entwicklung« zu erhalten, seien vom FDGB-Kongress nicht erfüllt worden.