Reaktion der Bevölkerung zur 4. Tagung des ZK der SED
12. Juli 1982
Hinweise über einige aktuelle Gesichtspunkte der Reaktion der Bevölkerung der DDR im Zusammenhang mit der 4. Tagung des ZK der SED [O/108]
Hinweisen aus den Bezirken der DDR zufolge wurden die Veröffentlichungen zur 4. Tagung1 von breiten Bevölkerungskreisen mit Interesse verfolgt.
Insbesondere progressiv eingestellte Bürger nahmen Stellung zu den außenpolitischen Fragen. Schwerpunktmäßig beziehen sich Meinungen aus allen Schichten der Bevölkerung der DDR auf die von der 4. Tagung getroffenen Einschätzungen zur wirtschaftlichen Entwicklung der DDR bzw. zur Versorgung der Bevölkerung.
In Meinungsäußerungen zu den internationalen Fragen werden folgende Probleme besonders hervorgehoben:
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Das Schlusswort des Genossen Honecker2 enthalte wichtige Argumente und Fakten zur Einordnung und zum Erkennen politischer Zusammenhänge und gebe einen Überblick über die außenpolitische Linie und die Friedensbemühungen der DDR.
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Die Ausführungen vor dem 4. Plenum vermittelten hinsichtlich der Aktivierung des gesellschaftlichen Lebens in der DDR Anregungen und widerspiegelten Optimismus.
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Für jeden verständlich sei der Kurs der Konfrontation und Hochrüstung der aggressivsten Kreise des Imperialismus entlarvt; entschieden sei auf die Gefährlichkeit und das Abenteurertum des USA-Imperialismus hingewiesen worden.
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Der Aufschwung der Friedensbewegung in den kapitalistischen Ländern wird begrüßt, wobei betont wird, dass der Druck der Volksmassen insbesondere auf die herrschenden Kreise der USA noch weiter verstärkt werden müsste.
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die Initiativen der Sowjetunion zur Stärkung des Sozialismus und zur Sicherung des Friedens werden unterstützt; vor allem wird die wiederholte Bereitschaft der Sowjetunion zur Rüstungsbegrenzung und Abrüstung betont, wobei gefordert wird, dass die USA endlich Gegenleistungen erbringen müssten.
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Empörung und Abscheu gegenüber der Aggression und dem faschistischen Terror Israels gegen das libanesische und palästinensische Volk;3 zunehmend werden Fragen dahingehend gestellt, welche Möglichkeiten auf internationaler Ebene bestehen, derartigen völkerrechtswidrigen Handlungen Einhalt zu gebieten, und welche Rolle die UNO dabei spielt.
Zur Behandlung der ökonomischen Fragen auf dem 4. Plenum wird wiederholt betont, in den Ausführungen der Genossen Honecker und Verner4 seien die in der DDR erreichten Erfolge klar umrissen und anschaulich dargestellt worden. Aufgezeigte Beispiele und angeführte Zahlen im Verhältnis zur Entwicklung in bestimmten Zeitabschnitten, wie zum Wohnungsbauprogramm und zur Erhöhung der Produktion von Konsumgütern,5 würden das Voranschreiten beweisen. Die 4. Tagung habe eine eindrucksvolle Bilanz der volkswirtschaftlichen Entwicklung der ersten Monate des Jahres 1982 ziehen können.
Aus allen Bezirken der DDR liegen Hinweise vor, wonach jedoch kritische und skeptische Meinungsäußerungen zu Problemen des Handels und der Versorgung, der Entwicklung der Preise und weiteren Fragen der Volkswirtschaft weiterhin einen großen Umfang einnehmen, wobei in den Diskussionen häufig auf Aussagen des 4. Plenums Bezug genommen wird.
Die Mehrzahl der Bürger anerkennt die großen Anstrengungen zur Sicherung einer stabilen Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und Waren des täglichen Bedarfs sowie der stabilen Preise für Erzeugnisse des Grundbedarfs, für Mieten und Dienstleistungen.
Gleichzeitig wird vielfach betont, die Schwierigkeiten im ökonomischen Bereich würden immer sichtbarer. In den Meinungsäußerungen werden besonders folgende Tendenzen deutlich:
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Hervorhebung des »Stagnierens« bzw. »Zurückgehens« des Versorgungsniveaus und des Lebensstandards in der DDR.
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Zunehmend Fragen nach den Ursachen bzw. Spekulationen über mögliche Gründe für diese Erscheinungen.
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Unverständnis in allen Bevölkerungsschichten sehr massiv darüber, warum über Mängel und Schwierigkeiten nicht offen mit der Bevölkerung gesprochen werde; in diesem Zusammenhang werden verstärkte Forderungen nach einer Verbesserung der Informationspolitik erhoben.
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Das Vertrauen der Bevölkerung gegenüber der Partei gehe zurück; progressive Bürger und Mitglieder der Partei befänden sich infolge fehlender Argumente in der Defensive.
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Hinweise auf solche »Widersprüche«, wie zwischen ständigen »Erfolgsmeldungen« in DDR-Medien und der realen Situation in den Betrieben/Territorien,
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zunehmende Zweifel und Skepsis bezüglich der Richtigkeit der ökonomischen Politik der DDR,
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Hinweise und »Vergleiche« dahingehend, die wirtschaftliche Lage in der DDR sei fast gleichzusetzen mit den Schwierigkeiten in der VR Polen vor Ausbruch der konterrevolutionären Erscheinungen.6
Mit Hinweis auf die veröffentlichten Materialien der 4. Tagung7 wird mehrfach hervorgehoben, die wirtschaftliche Entwicklung der DDR werde dort ausschließlich positiv dargestellt, ohne auf bestehende ernste Probleme – Rückgang des Versorgungsniveaus, insbesondere der kontinuierlichen Bereitstellung von Wurst- und Fleischwaren, Material- und Transportprobleme, Schwierigkeiten der Planerfüllung, Disproportionen in der Planwirtschaft, Rückentwicklung der Arbeitsmoral – einzugehen.
Teilweise werden offen Zweifel an der aufgezeigten positiven Entwicklung der Volkswirtschaft geäußert – darunter auch von mittleren leitenden Kadern –; die Angaben z. B. zur Planerfüllung, zum Wachstum der Nettogeldeinnahmen und des Umfangs des Warenumsatzes seien »einseitige Rechnungen« und spiegelten nicht die Realität wider.
Es werden Fragen dahingehend gestellt, inwieweit die Partei- und Staatsführung über die tatsächliche Lage in den Betrieben und volkswirtschaftlichen Bereichen informiert sei.
Weiter vorliegenden Hinweisen zufolge gebe es Anzeichen, dass Mitglieder der Partei und mittlere leitende Funktionäre gegenüber Fragen zur ökonomischen Entwicklung in der DDR, zu konkreten Problemen des Handels und der Versorgung, ausweichen, z. T. unter dem Gesichtspunkt, dass eine zentrale Argumentation dazu fehle.
Sie würden z. T. vor notwendigen Auseinandersetzungen zurückschrecken und resignieren, nur schleppend anstehende betriebliche und handelspolitische Aufgaben erfüllen und Entscheidungen verzögern. In Einzelfällen seien Zweifel an der Realisierbarkeit der Planaufgaben des Handels und in anderen volkswirtschaftlichen Bereichen geäußert und betont worden, gegenwärtig würden sie in erhöhtem Maße mit Widersprüchen (Vorgaben und Realität) konfrontiert.
In einigen Bezirken (vorwiegend Nordbezirke) wird von Leitungskadern hervorgehoben, Bauernkongress8 und 4. Plenum hätte nicht die erwartete Antwort auf anstehende Fragen gegeben. Mit der »Angst vor der Wahrheit« (wonach das erstrebte Ziel nicht im vorgegebenen Zeitabschnitt erreicht werde) könne das Vertrauen der Bevölkerung nicht gehalten oder erreicht werden.
Als Ursachen für die »rückläufige Tendenz« in der volkswirtschaftlichen Entwicklung der DDR werden vordergründig angeführt:
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Auswirkungen des sich zuspitzenden internationalen Klassenkampfes auf Prozesse unserer Volkswirtschaft,
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umfangreiche solidarische Aktivitäten der DDR,
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jahrelange »fehlerhafte Entscheidungen« in zentralen Fragen der Landwirtschaft; Mängel in der Außenwirtschaft und zentralen Planung,
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Disproportionen in der Entwicklung verschiedener volkswirtschaftlicher Prozesse,
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steigende Stillstandszeiten, Mängel in der Materialzuführung, insbesondere im Zusammenhang mit den Fondskürzungen und – dadurch mitbedingt – sinkende Arbeitsintensität, darunter in bisher exportintensiven Betrieben und Kombinaten,
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Unzulänglichkeiten in der Handelsorganisation; ungenügendes fachliches Vermögen im Zusammenhang mit der Führung und Regulierung der komplizierten Prozesse des Handels und der Versorgung.
Nach wie vor kursieren in größerem Umfang Gerüchte.
Wesentlichste Aussagen sind:
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Weitere Preiserhöhungen und »schleichende Preise« seien zu erwarten.
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Rationierungen (genannt werden Fleischwaren z. T. auch Molkereierzeugnisse) sowie Kundenbindungen und andere gelenkte Verkaufsmaßnahmen würden vorbereitet.
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Das Versorgungsniveau würde weiterhin zurückgehen. (Genannt werden Erzeugnisse, wie Zucker, Filterzigaretten, Haushaltswäsche, Kosmetikerzeugnisse.)
Im Zusammenhang mit unzufriedenen Meinungsäußerungen und Gerüchten sind eine Reihe bedeutsamer Wirkungen und Verhaltensweisen unter der Bevölkerung der DDR erkennbar. Sie zeigen sich darin, dass
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der erhöhte Abkauf, insbesondere von Fleisch (aber auch Butter und verschiedenen Nährmitteln), zum Zwecke der Lagerung, der Einfrostung und des Einkochens anhält,
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in zahlreichen Fällen während der Arbeitszeit Einkäufe erledigt werden (in Einzelfällen wurde von werktätigen Frauen gefordert, ihnen offiziell bezahlte Arbeitszeit für Einkäufe zur Verfügung zu stellen; bei der Zurückdrängung dieser Erscheinungen gibt es kein einheitliches Vorgehen),
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abgelehnt wird, Überstunden/Sondereinsätze zu leisten, sich an Wettbewerben zu beteiligen und höhere Leistungen zu bringen (u. a. mit Argumenten, der Arbeiter bekäme für sein Geld nicht ausreichend zu kaufen),
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Diskussionen darüber geführt werden, die Löhne der Arbeiter müssten erhöht werden, um sie den steigenden Preisen anzupassen,
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Kunden dem Verkaufspersonal gegenüber ungehalten und aggressiv auftreten und den Verkaufskräften u. a. unredliche Verkaufspraktiken unterstellen.
Teilweise wird offiziell Beschwerde geführt über die nachlassende Qualität der Arbeiterversorgung Pausen- (Kantinen)versorgung, des Betriebsessens und der Schulspeisung. (Ungenügendes Verständnis über veränderte Speisepläne und Rezepturen, Einschränkungen im Angebot/im bisherigen Wahlessen in den Betriebsküchen, über wiederholten Einsatz von Geflügel- und Eierspeisen ohne Ausgleich von anderen Fleischgerichten.)
Äußerungen mit feindlich-negativem Charakter – auch von unter operativer Kontrolle stehenden Personen –, die in allen Bezirken der DDR in geringem Umfang auftreten, spiegeln häufig »Argumente« westlicher Medien wider. Hauptsächlichste Tendenzen sind:
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Das 4. Plenum habe nichts Neues gebracht; ohne wesentliche Orientierung würden eine Vielzahl von ökonomischen und gesellschaftlichen Bereichen Erwähnung finden.
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Der Bericht des Genossen Verner9 sei »Schönfärberei« und lasse jeden Bezug zur Realität vermissen; angegebene Zahlen seien manipuliert und stellten ein Täuschungsmanöver der unter erschwerten Bedingungen arbeitenden Werktätigen dar.
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Im Schlusswort des Genossen Honecker würden einige tatsächlich bestehende Missstände durchblicken, aber die wirklichen Kernprobleme seien darin auch nicht erfasst.
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Die Entwicklung im Handel sowie der Preise sei gegen die Arbeiter und einkommensschwächeren Kreise der Bevölkerung gerichtet; das sei keine Arbeiterpolitik mehr.
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Die weiterhin ungenügende Fleisch- und Wurstversorgung verletze das bisher geltende Prinzip der gleichbleibenden Versorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln.
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Die Wirtschaft der DDR stecke in einer »tiefen Krise«, und die Funktionäre hätten »Angst« das einzugestehen.
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Ungenügende Planwirtschaft, Materialmängel und Fondskürzungen hätten in vielen Betrieben ein »Chaos« ausgelöst, das die Ursache für Planrückstände und Arbeitsunlust bilde.
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In vielen Arbeitskollektiven bestehe Resignation und Gleichgültigkeit.