Reaktionen der Bevölkerung auf Probleme der Volkswirtschaft und Versorgung
15. November 1982
Hinweise über aktuelle Gesichtspunkte der Reaktion der Bevölkerung der DDR im Zusammenhang mit Problemen der Volkswirtschaft und der Versorgung [O/112]
Nach vorliegenden Hinweisen stehen Probleme des Handels und der Versorgung und damit im Zusammenhang stehende Fragen der Volkswirtschaft weiterhin im Mittelpunkt der Diskussion der Bevölkerung der DDR.
Mit Bekanntwerden des Beschlusses des Politbüros des ZK der SED vom 20.10.19821 und insbesondere mit dem Wirksamwerden der vom Ministerrat beschlossenen Maßnahmen zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung in ausgewählten Einzelpositionen und festtagstypischen Erzeugnissen2 zeigen sich folgende neue Tendenzen im Stimmungsbild:
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In allen Schichten der Bevölkerung wird verbreitet das Bemühen der Partei- und Staatsführung anerkannt, Versorgungsschwierigkeiten abzubauen und ein kontinuierliches Angebot der Positionen des Grundbedarfs zu sichern.
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In zahlreichen Meinungsäußerungen wird betont, die Partei- und Staatsführung sei offenbar über die reale Lage und sich abzeichnende Schwierigkeiten informiert gewesen und habe deshalb unverzüglich Maßnahmen zur stabileren Versorgung eingeleitet.
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Es besteht – insbesondere auch unter Mitgliedern der Partei – Erleichterung dahingehend, dass mit der Durchsetzung der Maßnahmen zur Sicherung der Versorgung auch viele Zweifel und Ursachen für ein mögliches Entstehen von Spannungsherden und Konflikten beseitigt werden.
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Im Kaufverhalten der Bevölkerung ist eine deutliche Beruhigung eingetreten. In vielen Kreisen ist ein Rückgang von Bevorratungseinkäufen und provozierendem Verhalten von Käufern gegenüber dem Verkaufspersonal vorhanden. Die bis etwa gegen Ende Oktober noch im Ansteigen begriffenen Abkauftendenzen haben sich nicht mehr in diesem Umfang fortgesetzt.
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Es ist ein gewisses Nachlassen des Verbreitens von Gerüchten, Sprüchen/Versen herabwürdigenden Inhalts in Bezug auf die Versorgungssituation festzustellen.
Die Auswertung des Beschlusses des Politbüros des ZK der SED vom 20.10.1982 erfolgte entsprechend vorliegenden Hinweisen in den Grundorganisationen der zentralen Einrichtungen und Institutionen im Wesentlichen zügig.
Die Auswertung erfolgte aber nicht in allen Partei- und Arbeitskollektiven rechtzeitig, erreichte nicht alle Parteimitglieder bzw. erst verspätet und zum Teil erst zu einem Zeitpunkt, wo die Maßnahmen zur Sicherung der Versorgung bereits realisiert wurden. Die Orientierung wurde dadurch nicht überall von Anbeginn genutzt, um durchgängig politisch offensiv das Gespräch mit der Bevölkerung zu führen.
Teilweise wurde eine unterschiedliche Interpretation der Maßnahmen zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung zugelassen.
Dabei zeigen sich zwei Tendenzen:
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formale Bekanntgabe, ohne Engagement, ohne politisch offensive Darstellung, sodass zum Teil pessimistische Aussagen hinsichtlich des Warenangebots für 1983 getroffen wurden und einseitig auf weitere zu erwartende Schwierigkeiten hingewiesen wurde,
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Erläuterung in einer Form, die die objektiv vorhandene Lage beschönigt und zu unrealen Erwartungshaltungen führt.
In geringem Umfang, aber in allen Bezirken auftretend, wird auch von Mitgliedern der SED u. a. progressiven Kräften Unverständnis geäußert, dass keine offiziellen Informationen oder Verlautbarungen über die zentralen Maßnahmen und Beschlüsse zur Sicherung der Versorgung in der Presse der DDR veröffentlicht wurden.
Derartige Personen betonen, dass es für niemanden mehr ein Geheimnis sei, dass die DDR bedingt durch die außenwirtschaftlichen Belastungen Probleme habe, das Versorgungs- und Lebensniveau zu halten.
Obwohl in allen Bezirken von staatlichen- und handelsleitenden Organen und mit großem persönlichem Einsatz verantwortlicher Funktionäre umsichtig und diszipliniert Maßnahmen zur Stabilisierung der Versorgung eingeleitet und durchgesetzt werden, ist – territorial zum Teil unterschiedlich – kein durchgängiges Angebot in allen Warensortimenten vorhanden.
So gibt es nach wie vor zum Teil ein ungenügendes und kein durchgängiges Angebot bei Fleisch- und Wurstwaren (besonders Hinweisen aus den Bezirken Dresden, Karl-Marx-Stadt, Suhl und Halle zufolge), Speck, Schnittkäse, Schmalz, Speiseöl, Kakaoerzeugnissen, Kindernahrung, Kondensmilch, Inlandfilterzigaretten, Hühnereiern, Margarine, Reis, Hülsenfrüchten u. a.
Nach wie vor – wenn auch im Vergleich zum Monat Oktober 1982 mit rückläufiger Tendenz – werden Abkäufe von Waren in sonst nicht handelsüblichen Mengen getätigt – vor allem auch im Hinblick auf die Weihnachtsversorgung –, was trotz zusätzlicher Warenbereitstellung dazu führt, dass auch einige Erzeugnisse des Grundbedarfs in relativ kurzer Zeit wieder vergriffen sind.
Offensichtlich im Zusammenhang mit den verstärkten Angriffen westlicher Funkmedien gegen die Wirtschaftspolitik, insbesondere die Versorgungslage, aber auch angesichts noch vorhandener Lücken im Warenangebot sind in den Meinungsäußerungen von Teilen der Bevölkerung noch bestimmte Tendenzen erkennbar, die bereits in den Vormonaten eine Rolle spielten.
Im Vordergrund stehen dabei bestimmte Erscheinungen der Unsicherheit, des Zweifels, zum Teil auch des Unglaubens dahingehend, dass das gegenwärtige Versorgungsniveau durchgängig beibehalten werde.
Meinungen, wonach die erreichte Stabilisierung in der Versorgung nur eine vorübergehende Erscheinung sei und notwendig wurde, um die Bevölkerung »zu beruhigen«; Staatsreserven würden möglicherweise aufgebraucht, wie es 1983 aber weitergehe, könne niemand beantworten.
Fragen und Unklarheiten sind insbesondere dahingehend vorhanden,
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worin die Ursachen für die sich gezeigte Instabilität auf dem Gebiet des Handels und der Versorgung zu suchen seien,
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wo die Waren jetzt herkommen, und warum und wo sie vorher »zurückgehalten« worden seien,
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warum auf bereits vor Monaten gegebene Hinweise, dass die Versorgung mit dem reduzierten Warenfonds nicht gewährleistet werden kann, erst jetzt reagiert wurde, (in diesem Zusammenhang sind vereinzelt Meinungsäußerungen zu verzeichnen, Partei- und Staatsführung seien nicht aktuell informiert gewesen und hätten die Situation unterschätzt),
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warum erst ein Beschluss auf höchster Parteiebene notwendig sei, obwohl in Beschlüssen der Partei- und Staatsführung (X. Parteitag,3 Perspektivplan, Volkswirtschaftsplan) konkrete und verbindliche Festlegungen enthalten seien,
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ob verantwortliche zentrale Organe (genannt werden die Staatliche Plankommission und das Ministerium für Handel und Versorgung) ihre Verantwortung überhaupt wahrnehmen und welche Entscheidungsbefugnis sie hinsichtlich der Gewährleistung einer stabilen Versorgung haben. (Vereinzelt wird in diesem Zusammenhang geäußert, die DDR habe in den letzten Jahren eine unkontinuierliche Handels-, Export- und Importpolitik betrieben, die nicht frei von Spontanität gewesen sei. In Einzelfällen wird personifiziert Genosse Mittag4 dafür verantwortlich gemacht.)
Darüber hinaus werden als weitere Ursachen für die entstandene Situation auf ökonomischem Gebiet angeführt:
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rückläufigere Planerfüllung in vielen Bereichen der Volkswirtschaft,
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fehlerhafte Landwirtschaftspolitik,
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Unfähigkeit leitender Funktionäre, ökonomische und gesellschaftliche Prozesse planmäßig zu leiten,
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Manipulationen und Schönfärberei in der Abrechnung volkswirtschaftlicher Ergebnisse, durch die keine situationsbedingten klaren Entscheidungen und Sofortreaktionen durch die Partei- und Staatsführung möglich gewesen seien.
Teilweise werden aus subjektivistischer Betrachtungsweise Ansichten/Auffassungen über mögliche »Auswege« aus der gegenwärtig komplizierten wirtschaftlichen Lage erörtert, wobei diese Äußerungen vorwiegend aus Kreisen der wissenschaftlichen Intelligenz bekannt wurden. Danach sei
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eine Überprüfung der Effektivität der gegenwärtigen Außenhandelspolitik erforderlich (mit Hinweis auf angeblich nicht ausbilanzierte Importvorhaben/Kompensationsgeschäfte5 und dergleichen, die nicht den erforderlichen ökonomischen Nutzeffektiv bringen würden; Erwähnung von sogenannten Verlustgeschäften im Export),
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eine generelle Korrektur der Pläne in wichtigen ökonomischen Bereichen erforderlich, um diese den realen Möglichkeiten anzupassen,
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ein Nachvollziehen des »ökonomischen Beispiels Ungarn«6 gerechtfertigt, verbunden mit der Ausnutzung der »Reserve Privatinitiative« zur Erhöhung des Lebensstandards der Bevölkerung, ohne dabei in kapitalistische Produktionsverhältnisse zurückzugleiten.
Aus allen Bezirken werden Meinungsäußerungen bekannt, in denen auf Erscheinungen aufmerksam gemacht wird, die einer kontinuierlichen Warenbelieferung für Kaufhallen und den Einzelhandel entgegenwirken würden.
So verweisen Mitarbeiter des Handels, Kaufhallenpersonal und Mitarbeiter von Handelstransporten auf
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eingeführte Verlängerungen der Belieferungszeiten, die z. B. in Landgemeinden von bisher zwei- bis dreimal wöchentlich auf einmal pro Woche gekürzt wurden,
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bestehenbleibende Limitkürzungen bei Kraftstoff,
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Ausfall von Versorgungsfahrzeugen durch ersatzlose Aussonderung,
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Fehlen wichtiger Ersatzteilpositionen und Bereifung für NKW.
Auch weiterhin werden in der Diskussion der Bevölkerung Forderungen bzw. Vorstellungen nach geeigneten Maßnahmen zur Zurückdrängung von Hamster- und Angsteinkäufen erhoben und entwickelt. So werden die Einführung von Kundenkarten/Kundenbindungen, anderweitigen Rationierungsmaßnahmen und offene Bloßstellungen von solchen Personen gefordert, die mit Bevorratungseinkäufen bekannt werden.
Vorliegenden Hinweisen zufolge wird in allen Bezirken der DDR gezielt gegen Gerüchteverbreiter vorgegangen. In letzter Zeit ist häufig zu verzeichnen, dass Personen, die bestimmte Gerüchte verbreiten, bereits im Arbeitskollektiv offensiv zurückgewiesen bzw. zur Rede gestellt werden, mehrfach auch in Kenntnis dessen, dass sich Fakten, die als Tatsachen ausgegeben wurden, bereits des Öfteren als Gerücht herausgestellt hatten.
Dennoch sind trotz rückläufiger Tendenz noch zahlreiche Gerüchte im Umlauf.
So wird u. a. weiter behauptet, dass
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die Schokoladenfabriken die Produktion gedrosselt bzw. bereits eingestellt hätten,
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mit Stromabschaltungen bis zu drei Stunden in bestimmten Orten begonnen worden sei,
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Kontrollen in den Haushalten zur Feststellung von Warenhortungen stattfänden,
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Kunden- bzw. Lebensmittelkarten bereits gedruckt wären, aufgrund der Erdölverknappung7 Plasterzeugnisse für den Haushalt nicht mehr produziert würden,
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Einsätze der DVP in verschiedenen Geschäften oder Betrieben erfolgt seien, um Ansammlungen und Arbeitsniederlegungen zu zerschlagen.
In mehreren Fällen wurden entsprechende strafrechtliche oder anderweitige Disziplinierungsmaßnahmen gegen Gerüchteverbreiter eingeleitet.
In Einzelfällen werden von dem MfS bekannten Personen im Zusammenhang mit der Versorgungslage auch nach Wirksamwerden der Maßnahmen feindlich-negative Auffassungen verbreitet.
Sie äußern sich in herabwürdigenden Äußerungen gegen die Politik von Partei und Regierung und leitende Funktionäre, im Versuch des Erzeugens von Unglaube an die eingeleiteten Stabilisierungsmaßnahmen, in böswilligen Unterstellungen, bezogen auf die Tätigkeit des Handelsapparates und in der Betonung der angeblichen Perspektivlosigkeit der Wirtschaftspolitik der DDR. In Einzelfällen wurden rechtswidrige Übersiedlungsersuchen8 mit »zunehmenden« Versorgungsschwierigkeiten in der DDR begründet.