Reaktionen von Kulturschaffenden zur FDJ-Kulturkonferenz
8. Dezember 1982
Information Nr. 618/82 über beachtenswerte Reaktionen von Personen aus dem Bereich Kultur und Kunst zur Kulturkonferenz der FDJ vom 21. bis 22. Oktober 1982 in Leipzig
Vorliegenden internen Hinweisen zufolge ist der Inhalt der Kulturkonferenz der FDJ1 in breiten Kreisen der Kunst- und Kulturschaffenden der DDR mit Interesse verfolgt und bei offiziellen Zusammenkünften und im internen Kreis diskutiert worden.
Im Mittelpunkt der in den letzten Wochen geführten Diskussionen stand dabei das Referat des Sekretärs des Zentralrates der FDJ, Genossen Hartmut König:2 »Die Verantwortung der FDJ für Kultur und Kunst in den Kämpfen unserer Zeit.«3
Dabei wird deutlich, dass dieses Referat – insbesondere die darin getroffenen Aussagen über Ansprüche an das künstlerische Gegenwartsschaffen, über die überzeugende Darstellung der Arbeiterklasse im künstlerischen Bereich, über die Prinzipien sozialistisch-realistischen Kunstschaffens und in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass für Charakterlose in unserem Leben kein Platz ist – von Künstlern und Kulturschaffenden differenziert bewertet und interpretiert wird.
Von zahlreichen Künstlern und Kulturschaffenden sind positive und zustimmende Meinungsäußerungen bekannt. Sie verweisen vor allem darauf, dass die auf der Kulturkonferenz behandelten Probleme, insbesondere die gesellschaftlichen Anforderungen an den Bereich Kultur/Kunst, eine reale Widerspiegelung der Situation auf diesem Gebiet darstellen. Wiederholt äußerten progressive Kulturschaffende, dass im Referat von Hartmut König eine Reihe Wahrheiten konkret und kritisch genannt worden seien, die man seit geraumer Zeit in der Öffentlichkeit nicht mehr gehört habe.
Einige Meinungsäußerungen lassen jedoch Vorbehalte dahingehend erkennen, inwieweit die FDJ »befugt« und »berechtigt« sei, bestimmte Erscheinungen im Bereich Kultur und Kunst anzusprechen. Gleichzeitig werden Befürchtungen ausgesprochen bzw. Spekulationen angestellt, dass die Rede des Genossen König den Auftakt für eine »härtere politische Linie« auf dem Gebiet Kultur und Kunst sein könnte.
Nachfolgend wird über einige streng vertrauliche Meinungsäußerungen und Stellungnahmen von maßgeblichen Personen aus dem Bereich des Schriftstellerverbandes der DDR u. a. informiert, die auch im Hinblick auf den bevorstehenden IX. Schriftstellerkongress der DDR4 von Bedeutung sind.
Der Präsident des Schriftstellerverbandes der DDR, Hermann Kant,5 brachte zum Ausdruck, wenn das im Referat von Hartmut König Vorgetragene der Kurs der neuen Kulturpolitik werde, sehe er sich außerstande, seine Funktion als Präsident des Schriftstellerverbandes der DDR weiter auszuüben. Weiter äußerte Kant, er habe keine Möglichkeit erhalten, seine Auffassung zur Kulturkonferenz der FDJ öffentlich vorzutragen.
Gegenüber Stephan Hermlin6 bezeichnete Hermann Kant internen Hinweisen zufolge die Kulturkonferenz der FDJ als »Leipziger Schwachsinn«. Er habe Volker Braun,7 der im Referat des Hartmut König mit seinem Theaterstück »Schmitten«8 als ein misslungenes Beispiel der Darstellung einer Arbeiterpersönlichkeit kritisiert wurde,9 sofort seine »Solidarität und Unterstützung zugesichert«. Auch stehe er »selbstverständlich« allen anderen in diesem Referat Kritisierten zur Verfügung. Insgesamt vertrat Hermann Kant die Auffassung, dass der auf der Kulturkonferenz sichtbar gewordene kulturpolitische Kurs »ein irrealer Kurs im real existierenden Sozialismus« sei, über den »in Zukunft noch zu reden« wäre. Würden die auf der Konferenz »angeschlagenen Töne« ernsthaft umgesetzt werden, so werde er »dagegenhalten«.
Stephan Hermlin sprach sich gegen die im Referat von Hartmut König enthaltene personifizierte Kritik und die sich darin ausdrückende »Linie der Verhärtung« aus. Er äußerte intern, er habe mit dem Gedanken gespielt, seine Einwände in einem Brief an die Parteiführung zum Ausdruck zu bringen. Er habe vor, über dieses Vorhaben mit Hermann Kant zu beraten. (Stephan Hermlin befindet sich seit geraumer Zeit in ständigem Meinungsaustausch mit Hermann Kant.)
Die Schriftstellerin Gisela Steineckert,10 Vorsitzende des Bezirksverbandes Berlin, brachte zum Ausdruck, es sei längst überfällig gewesen, einige Probleme, u. a. das Verhalten von Poche11 und Jakobs,12 anzusprechen. Da aber die Partei »so lange zu solchen Fragen geschwiegen« habe, könnten die auf der FDJ-Kulturkonferenz lautgewordenen Töne eventuell als »Signal« für kommende »Repressalien« gegen bestimmte Schriftsteller angesehen werden.
Prof. Dr. Rita Schober,13 Mitglied des Präsidiums des PEN-Zentrums der DDR, äußerte, dass die während der letzten Generalversammlung des PEN-Zentrums der DDR erfolgte Aufnahme von Autoren wie Czechowski,14 Liersch,15 Jo Schulz16 und Klaus Wischnewski17 und die Nichtaufnahme solcher Autoren wie Sakowski,18 Wogatzki,19 Hauser20 und Uwe Berger21 in das PEN-Zentrum der DDR u. a. im engen Zusammenhang mit der FDJ-Kulturkonferenz zu sehen seien. Nach ihrer Meinung werde in der Kulturpolitik der DDR ab jetzt ein »härterer Kurs gefahren«, und für Personen wie Czechowski und Liersch sei mit der Aufnahme ins PEN-Zentrum der DDR »gewissermaßen eine literarische Heimat und eine Schutzhülle geschaffen« worden. In diesem Zusammenhang bezeichnete Prof. Dr. Rita Schober die FDJ-Kulturkonferenz als »zweites XI. Plenum«.22
Die Schriftsteller Fritz Rudolf Fries,23 Rainer Kerndl,24 Jens Gerlach25 und Eckard Krumbholz26 äußerten übereinstimmend, es habe den Anschein, dass die FDJ sich jetzt mit den Kulturschaffenden auf der Kulturkonferenz auseinandersetzen musste, da die Partei in ihrer ständigen und direkten Auseinandersetzung mit einzelnen Künstlern »verstrickt« wäre und nun nicht mehr zurückkönne. Es wäre günstiger gewesen, die wirklichen Probleme rechtzeitiger in Vorbereitung des IX. Schriftstellerkongresses anzusprechen und noch vor dem Schriftstellerkongress auszudiskutieren, um den Kongress von polemischen Diskussionen »sauberzuhalten«.
Die gleichen Schriftsteller äußerten im internen Kreis, die namentliche Nennung der Schriftsteller Poche, Schneider27 und Jakobs sei ein »unglücklicher Zungenschlag« gewesen; in dieser Form stünden sie stellvertretend als »Verräter« für weitere Schriftsteller und Schauspieler, ohne dass diese anderen namentlich angesprochen worden seien.28
Wir könnten es uns nicht leisten, auf dem IX. Schriftstellerkongress Diskussionen über »Weltenbummler« zu führen, denn es gäbe wichtigere Probleme. Wenn auf der Kulturkonferenz der FDJ schon Namen genannt werden sollten, dann wäre es günstiger gewesen, weit mehr Schriftsteller, und insbesondere Joachim Seyppel29 und Günter Kunert,30 anzusprechen, da diese ständig die DDR mit »Dreck bewerfen und ihre hassvollen und gegen die DDR gerichteten Schmähungen in westlichen Massenmedien verkünden«, aber seit Jahren von der DDR gewährte »Sonderrechte« in Anspruch nehmen würden.
In einem weiteren internen Gespräch äußerte Fries, er sehe es als notwendig an, in der heutigen Zeit »so wenig Staub als möglich aufzuwirbeln«. Nach Meinung von Fries dürfe die DDR angesichts der gegenwärtigen Situation in der VR Polen31 sowie in der BRD keine »weiteren Fronten aufreißen«.
Jens Gerlach äußerte intern, es wäre angebrachter gewesen, wenn man die Kulturkonferenz der FDJ vordergründiger auf die Erziehung der Jugend ausgerichtet hätte und keine Namen genannt worden wären, da in jungen Lyrikerkreisen der Hauptstadt nun erst recht Diskussionen über den Inhalt der im Referat von Hartmut König genannten Bücher »November«,32 »Atemnot«33 sowie des Schauspiels »Macbeth«34 erfolgen würden.
Irmtraud Morgner35 betonte in einem Gespräch, die Passagen in der Rede Hartmut Königs über Volker Braun und Heiner Müller36 seien »nicht ausgewogen« und an dieser Stelle unangebracht.37 Sie verstehe nicht, warum sich die FDJ »erlauben dürfe, über Schriftsteller zu Gericht zu sitzen«. Die Aussagen des Referates wären sicher anders ausgefallen, wenn es verantwortlichen leitenden Genossen auf dem Gebiet Kultur vor der Konferenz vorgelegen hätte.
Der Verlagsleiter des Kinderbuchverlages, Fred Rodrian,38 Mitglied des Bezirksvorstandes Berlin, vertrat die Auffassung, die Kulturkonferenz der FDJ sei »eher als Hemmnis als ein Fortschritt« in der kulturpolitischen Entwicklung zu betrachten.
Nach Meinung des Nachwuchsautoren Bernd Ulbrich,39 Mitglied des Bezirksvorstandes Berlin, sei im Ergebnis der FDJ-Kulturkonferenz »eine spürbare Härte« im Auftreten der Verlage gegenüber den Autoren erkennbar. (Konkrete Fakten führte er nicht an.)
Der Schriftsteller Peter Abraham40 äußerte, das auf der Kulturkonferenz Gesagte könne man sich in dieser Form »nicht anhören, geschweige denn lesen«. Mit den Ausführungen von Hartmut König hätten wir »alle möglichen Leute gegen uns aufgebracht«.
Bemerkenswert erscheinen intern bekannt gewordene Äußerungen von Schriftstellern, die namentlich im Referat des Genossen König erwähnt wurden bzw. sich von im Referat enthaltenen kritischen Aussagen angesprochen fühlen.
Der Schriftsteller Stefan Heym äußerte in einem internen Gespräch, die Ausführungen auf der Kulturkonferenz, personifiziert zu einigen Schriftstellern, hätten »auch eine positive Seite«.
Diese Schriftsteller würden durch die Nennung ihrer Namen wieder stärker in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt, und viele Jugendliche in der DDR wären erst auf diese Schriftsteller und auf die politischen Probleme und Auseinandersetzungen mit ihnen aufmerksam geworden.
Klaus Poche vertrat die Auffassung, er und die anderen genannten Schriftsteller sollten die betreffenden Äußerungen auf der Kulturkonferenz der FDJ »nicht stillschweigend hinnehmen«. Andererseits sei festzustellen, dass das Interesse westlicher Massenmedien an seiner Person nach den Veröffentlichungen über die Kulturkonferenz stark gewachsen sei. Er würde im Gegensatz zu früher »laufend um Interviews gebeten«.
Klaus Poche vertrat außerdem den Standpunkt, dass die Äußerungen auf der Kulturkonferenz ein Anzeichen dafür seien, dass die staatlichen Organe der DDR beabsichtigen, einige derzeit sich in der BRD bzw. in Westberlin aufhaltende Schriftsteller aus der DDR »auszubürgern«.41
In ähnlicher Form äußerte sich im internen Kreis auch der Schriftsteller Rolf Schneider.
Schneider erklärte, er habe aus der Rede von Hartmut König herausgelesen, dass er »nun endlich den Möbelwagen bestellen soll«. In diesem Zusammenhang machte Schneider deutlich, er und seine Familie seien jedoch nicht gewillt, die DDR zu verlassen. Wenn man das wolle, müsse man sie »aus der DDR rausschmeißen«. Zum anderen frage er sich jedoch, »wie lange er das noch aushalten soll, da ihm bekannt sei, dass er in einem anderen Land problemlos leben könne«.
Heiner Müller äußerte intern, seit sein Theaterstück »Macbeth« auf der Kulturkonferenz der FDJ »zerrissen« worden sei, werde es von Besuchern »überrannt«. Er warte jetzt darauf, dass sich das Deutsche Theater zu einem »Sammelbecken für Abtrünnige« entwickelt. Auf diese Situation sei er – Müller – vorbereitet. Er beabsichtige dann, einen »offenen Brief« zum Thema »Politik und Theater« zu schreiben, in dem er über die »Theatermisere« in der DDR berichten wolle. Diesen Brief wolle Heiner Müller in Westmedien veröffentlichen, nachdem er in der DDR weitere Theaterschaffende für die Unterzeichnung gewonnen hätte.
Volker Braun äußerte zur Nennung seines Namens in der Rede Hartmut Königs, man dürfe »solche Ausfälle nicht an sich herankommen lassen«, sondern müsse »zur Tagesordnung übergehen«; sonst könne man nicht schreiben.
Hartmut König sei mit seinen kritischen Bemerkungen zu dem Theaterstück »Schmitten« weder von einer Analyse des Stückes noch von der Reaktion des Publikums ausgegangen. Er, Braun, habe den Eindruck, dass »dem König« dessen Äußerungen von anderen Personen »über die Schulter weg diktiert« worden seien.
Weiteren internen Hinweisen zufolge haben die auf der Kulturkonferenz der FDJ angesprochenen Probleme auch unter dem Lehrkörper und Studenten kulturwissenschaftlicher Einrichtungen und in anderen kulturellen Bereichen rege Diskussionen und differenzierte Meinungsäußerungen ausgelöst.
Das trifft unter anderem für Angehörige des Lehrkörpers und Studenten der Sektion Literatur- und Kunstwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena zu. Neben zahlreichen positiven und zustimmenden Äußerungen zum Verlauf der Kulturkonferenz der FDJ sind eine Reihe Äußerungen bemerkenswert, in denen keine klassenmäßigen Standpunkte bezogen wurden. Das trifft insbesondere auf Studenten des 3. und 4. Studienjahres zu, wo – bereits ausgehend vom Lehrkörper – das Anliegen der Kulturkonferenz, die Arbeiterklasse und die Schaffung einer klassenbezogenen Kunst in den Mittelpunkt des künstlerischen Schaffens zu stellen, negiert wird.
(Z. B. Prof. Dr. Richter,42 Dr. [Name 1], Dr. [Name 2]). Prof. Dr. Richter vertritt z. B. den Standpunkt, die Konferenz sei nur an die Adresse von Angehörigen der FDJ und jungen Autoren gerichtet, die sich in den Anfangsjahren »als Objekt zum Üben« mit Themen aus der »Arbeitswelt« beschäftigen könnten. In einer Vorlesung erklärte Prof. Dr. Richter zweideutig: »Kein König und kein Kaiser kann der Literaturwissenschaft vorschreiben, was sie schreibt.«
Von einigen Literaturwissenschaftlern und Studenten des 3. und 4. Studienjahres der Sektion Literatur- und Kunstwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena wird die Kulturkonferenz der FDJ als »Versuch einer Einengung der Freiheit des Schriftstellers, als Gefahr der Verflachung der Literatur und als Aufruf zur Herstellung von Agit-Prop-Literatur« beurteilt und geschlussfolgert, dass in der Kulturpolitik wieder »harte Zeiten« kämen.
Einige Assistenten an der o. g. Sektion betonten, Hartmut König sei nicht kompetent, über Literatur und Literaturwissenschaft zu urteilen.
Hinweisen zufolge äußerte Prof. Hermann Raum,43 Vizepräsident des Verbandes Bildender Künstler, über das Referat des Genossen König in einer Ende November 1982 stattgefundenen Sitzung des Senats der Kunsthochschule Berlin-Weißensee: Der Stil der Rede verbiete sich von selbst; wer berechtigt die FDJ, Zensuren an Künstler zu verteilen? Die Beispiele, die vom Genossen König für negative Kunstwerke genannt wurden, seien die »falschen«. Mit dem »sozialistischen Kunstbegriff« hätte sich Genosse König überhaupt nicht befasst. Die mit der Rede erzeugte Unruhe gefährde die Linie der Partei.
Einzelne Studenten verwiesen darauf, dass die letzten Studienjahre nicht wüssten, wie sie im nächsten Jahr ihre Diplomarbeit schreiben sollten, wenn die Rede von Genossen König »Linie« werden würde.
Differenzierte Meinungsäußerungen wurden ebenfalls aus Kreisen der Studenten der Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam bekannt. Zahlreiche Studenten äußerten sich zustimmend zum Referat des Genossen König. Er habe reale Fakten genannt, darunter solche, um die bisher oft »herumgeredet« worden wäre. Allerdings sei ihrer Auffassung nach auf viele angesprochene Probleme auch in diesem Referat kein Lösungsweg gezeigt worden.
Unverständnis zeigten einige Studenten darüber, dass Schneider, Poche und Jakobs namentlich genannt wurden, was als ein »Hochspielen« dieser Schriftsteller empfunden wurde. Diese Studenten gingen davon aus, dass eine Vielzahl von Jugendlichen wenig über diese Schriftsteller gelesen habe und jetzt Interesse an ihnen entstehe.
Es seien bei Jugendlichen und Studenten der Hochschule für Film und Fernsehen Aktivitäten zu erwarten, sich die sozialismusfeindlichen Machwerke der genannten Schriftsteller zu beschaffen und zu lesen.
Weiter wurde von Studenten darüber diskutiert, dass solche Schriftsteller wie Schneider und Poche aus ihnen nicht verständlichen Gründen ständig Visa erhalten, obwohl sie die DDR vom westlichen Ausland aus verunglimpfen und beschimpfen.
In diesem Zusammenhang unterstützten Studenten die Forderung im Referat, endlich mit solchen »Weltenpendlern« Schluss zu machen, die fortgesetzt Verrat an unserer Heimat und ihren Idealen üben.
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.