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Stefan-Heym-Lesung in Eichwalde

[ohne Datum]
Information Nr. 23/82 über eine Lesung von Stefan Heym in der evangelischen Kirchengemeinde Eichwalde, Kreis Königs Wusterhausen, Bezirk Potsdam

Nach dem MfS vorliegenden Informationen führte Stefan Heym1 am 8. Januar 1982, 19.30 Uhr bis 21.50 Uhr, im evangelischen Gemeindehaus Eichwalde eine Lesung aus seinem in der DDR nicht zur Veröffentlichung zugelassenen Roman »Ahasver«2 (erschienen 1981 im C.-Bertelsmann-Verlag, München) durch.

Organisator dieser Veranstaltung war der Gemeindepfarrer Gümbel,3 Eichwalde, der diese Lesung als Jungmännerabend unter dem Thema »Dialog zwischen Juden und Christen – und was wir dazu zu sagen haben« im Schaukasten der evangelischen Kirche in Eichwalde sowie durch schriftliche Einladungen an bestimmte Personen seit Anfang Januar 1982 popularisierte.

(Heym hatte bereits am 1.6.1979 an einem Gemeindeabend zum Thema »König David« – Teilnehmer ca. 150 Personen – im o. g. Gemeindehaus teilgenommen und am 15. Juni 1981 in der evangelischen Kirche Eichwalde, Stubenrauchstraße, eine Lesung aus seinem Roman »König David Bericht«4 mit anschließender Diskussion durchgeführt – Teilnehmer ca. 500 Personen. Diese Veranstaltungen wurden gleichfalls durch Pfarrer Gümbel organisiert. Seit dieser Zeit besteht zwischen Heym und Pfarrer Gümbel Kontakt.)

Eine Anmeldung der Veranstaltung mit Stefan Heym zum 8. Januar 1982 bei den zuständigen staatlichen Organen erfolgte nicht.

Am 6. Januar 1982 wurde durch Vertreter der Abteilung Inneres des Rates des Kreises Königs Wusterhausen mit dem Vorsitzenden der Bruderschaftlichen Leitung, Pfarrer Balke,5 eine Aussprache durchgeführt, in der darauf hingewiesen wurde, dass die Durchführung dieser Veranstaltung gegen die Veranstaltungsverordnung der DDR6 verstößt.

Pfarrer Balke teilte am 7. Januar 1982 dem Rat des Kreises mit, er habe Pfarrer Gümbel darüber informiert, dass die Lesung abzusetzen und die schriftliche Vorankündigung (Aushang) zu verändern ist. (Der Aushang wurde daraufhin aus dem Schaukasten entfernt.)

In einer Aussprache, die Vertreter des Rates des Kreises, Abteilung Inneres, am 7. Januar 1982 mit Pfarrer Gümbel führten, trat dieser überheblich und herausfordernd in Erscheinung, stellte die Frage, ob die Vertreter des Staatsapparates das Werk Heyms überhaupt kennen und bezog sich auf Heyms öffentliches, seiner Meinung nach progressives, Auftreten auf der »Berliner Begegnung«7.

Gümbel brachte in der Aussprache weiter zum Ausdruck, sich »noch nicht festlegen« zu können, sondern sich erst mit dem Gemeindekirchenrat konsultieren zu müssen. Seine Entscheidung wolle er am 8. Januar 1982 der Abteilung Inneres mitteilen.

Streng vertraulichen Hinweisen zufolge konsultierte sich Gümbel in den Abendstunden des 7. Januar 1982 mit einigen Personen, die dem MfS aufgrund ihrer feindlich-negativen Grundhaltung bekannt sind.

Da am 8. Januar 1982 der Bescheid Gümbels bei der Abteilung Inneres ausblieb, wollte sich ein Vertreter dieser Abteilung über dessen Entscheidung informieren. Gümbel ließ sich jedoch durch seine Ehefrau verleugnen.

Wie weiter streng vertraulich bekannt wurde, sind auch seitens der Evangelischen Kirchenleitung Berlin-Brandenburg (Bischof Forck8 und Propst Winter9) Gümbel Hinweise gegeben worden, um das Verhältnis Staat – Kirche im Zusammenhang mit der Veranstaltung nicht zu belasten.

Die Veranstaltung am 8. Januar 1982 wurde durch Pfarrer Gümbel eröffnet, der gleichzeitig bekanntgab, dass derartige Veranstaltungen mit Heym im Jahre 1981 bereits in Leipzig und Cottbus erfolgreich durchgeführt wurden.

Der Veranstaltungsraum war mit ca. 280 Personen überfüllt, wobei das Durchschnittsalter der Teilnehmer 35 Jahre betrug. Mit dieser Teilnehmerzahl, wurde der übliche Rahmen einer Veranstaltung der »Männerarbeit« der Kirchengemeinde erheblich überschritten.

An der Veranstaltung nahm auch der Kulturattaché der US-Botschaft in der DDR, Keaton,10 teil.

Folgende kirchliche Amtsträger wurden als Teilnehmer festgestellt:

Generalsuperintendent Grünbaum11 mit Ehefrau und die Pfarrer Lüpke12/Selchow, Milkereit13/Niederlehme, Ritter14/Wildau, Berger15/Zeuthen.

Der einzige theologische Bezugspunkt dieser Veranstaltung war der anfängliche Hinweis Pfarrer Gümbels, das Thema ginge aus von der Bibel und dem »Dialog zwischen Juden und Christen« sowie einem gemeinsamen Gesang vor Beginn der Lesung Heyms.

Stefan Heym brachte in seiner Lesung anfangs Passagen aus »Ahasver« zu biblischen Problemen und las dann zu dem in seinem Buch dargelegten »Briefwechsel« des »Instituts für Wissenschaften und Atheismus in der DDR«16 mit Wissenschaftlern aus Jerusalem. (Darin wird die Entwicklung vom Judentum über die Verfolgung des Faschismus und die Behandlung in den KZ dargestellt.) Weiter wurde zu Problemen der Umweltverschmutzung, der Beherrschung der Welt mit Atomwaffen »durch Menschen mit wenig Gehirn«, des »alles vernichtenden Atheismus« gelesen.

Bei der Verlesung dieser Buchpassagen gab es starken Beifall, der auch jeweils dann zu verzeichnen war, wenn offensichtliche Anwürfe gegen den Staat erkennbar wurden.

Anschließend an die Lesung wurde aufgefordert, Fragen zu stellen, wobei ca. zehn Anfragen erfolgten, überwiegend zum Problemkreis Judentum – Christentum. Zu beachtende Äußerungen waren u. a. folgende:

Stefan Heym erklärte, dass sein Buch »ketzerisch« und er selbst auch ein »Ketzer« sei, aber die »Ketzer« hätten die Entwicklung in der Geschichte bisher immer vorangetrieben. Es gebe im Buch Abschnitte, die »noch interessanter« seien, die man hier aber nicht verlesen könne. Die Veranstaltung fände »unter besonderen Bedingungen« statt.

Pfarrer Gümbel machte auf ein neues Buch – ein Märchenbuch – von Stefan Heym aufmerksam. Auf eine Zwischenfrage, ob es für Kinder sei, antwortete Stefan Heym, es wäre »für kluge Kinder« geschrieben.

Intern wurde festgestellt, dass Heym den gesamten Diskussionsverlauf auf Tonband aufzeichnete. Er hielt sich nach der Veranstaltung noch bis gegen 0.00 Uhr bei Pfarrer Gümbel auf.

Es wird vorgeschlagen, dass der Stellvertreter des Oberbürgermeisters für Inneres der Hauptstadt Berlin, Genosse Stadtrat Hoffmann,17 mit dem Generalsuperintendenten Grünbaum/Berlin eine Aussprache führt mit dem Ziel, das Verhalten von Pfarrer Gümbel zu missbilligen und Grünbaum aufzufordern, im Interesse eines weiteren sachlichen Verhältnisses zwischen Staat und Kirche, seinen Einfluss geltend zu machen, dass sich derartige Veranstaltungen nicht wiederholen.

Ein analoges Vorgehen wird gegenüber dem Generalsuperintendenten Bransch18/Potsdam, in Gegenwart von Pfarrer Balke/Königs Wusterhausen, Vorsitzender der Bruderschaftlichen Leitung, vorgeschlagen. Die Aussprache sollte durch den Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Potsdam für Inneres geführt werden. In diesem Gespräch sollte mitgeteilt werden, dass gegen Pfarrer Gümbel auf der Grundlage der Veranstaltungsverordnung im Ergebnis eines Ordnungsstrafverfahrens durch die Deutsche Volkspolizei ein Verweis ausgesprochen wird.

Nach diesen Gesprächen ist Pfarrer Gümbel durch das VPKA Königs Wusterhausen ein Verweis auszusprechen.

Es wird weiter vorgeschlagen, dass der Staatssekretär für Kirchenfragen, Genosse Gysi,19 die zuständigen staatlichen Organe der Hauptstadt Berlin und des Bezirkes Potsdam in Vorbereitung auf die stattzufindenden Gespräche mit den kirchenleitenden Vertretern entsprechend orientiert, um ein einheitliches Vorgehen zu gewährleisten.

Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.

  1. Zum nächsten Dokument Bevölkerungsreaktionen zur Lage in VR Polen (6)

    26. Januar 1982
    6. Bericht zur Reaktion der Bevölkerung der DDR auf die Vorgänge in der Volksrepublik Polen [Bericht O/105 f]

  2. Zum vorherigen Dokument Statistik Einnahmen Mindestumtausch (11.1.1982–17.1.1982)

    20. Januar 1982
    Information Nr. 35/82 über die Entwicklung der Einnahmen aus der Durchführung des verbindlichen Mindestumtausches für die Zeit vom 11. Januar 1982 bis 17. Januar 1982