2. Leipziger Friedensseminar
14. März 1983
Information Nr. 97/83 über die Durchführung eines sogenannten 2. Leipziger Friedensseminars am 5./6. März 1983 in den Gemeinderäumen der Michaeliskirche
Im Zeitraum vom 5. bis 6. März 1983 fand in den Gemeinderäumen der Michaeliskirche in Leipzig das vom Arbeitskreis »Friedensdienst« beim Jugendpfarramt Leipzig1 organisierte sogenannte 2. Leipziger Friedensseminar2 statt.
Die im Rahmen dieses »Friedensseminars« durchgeführten Veranstaltungen standen unter dem Motto »Wie vernünftig ist der Pazifismus (Ein neues Nachdenken über Friedensutopien)« und sind als weiterer Versuch reaktionärer kirchlicher Kräfte zu werten, gezielt kirchliche Veranstaltungen für Angriffe gegen die Friedens-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der DDR und die Propagierung einer staatlich »unabhängigen« Friedensbewegung zu missbrauchen. Vorliegenden internen Informationen zufolge nahmen am ersten Beratungstag ca. 75 und am zweiten ca. 40 Personen teil, darunter Personen aus der Hauptstadt der DDR, Berlin, sowie aus den Bezirken Dresden, Halle und Schwerin. An dem in das »Friedensseminar« eingeordneten »Friedensgottesdienst« (5. März 1983 – 19.00 bis 20.15 Uhr) beteiligten sich ca. 700 vorwiegend jugendliche Personen.
(Die Teilnehmerzahlen am »Seminar« und am »Friedensgottesdienst« blieben unter den Zahlen des Vorjahres. Damit wurde einer Orientierung des Arbeitskreises »Friedensdienst« beim Jugendpfarramt Leipzig entsprochen, den »personellen Rahmen der Veranstaltung« zu reduzieren.)
Das einleitende Referat des ersten Beratungstages hielt der Leiter des Referates »Friedensfragen« beim Bund der Evangelischen Kirchen (BEK) in der DDR, Garstecki,3 Berlin, auf der Grundlage eines von ihm im Jahre 1982 erarbeiteten sogenannten Pazifismuspapiers.4 In seinen Ausführungen hielt er sich im Wesentlichen an die Positionen der evangelischen Kirchen in der DDR zur Friedensproblematik. Streng internen Informationen zufolge bekannte sich Garstecki zu seinem »Pazifismusverständnis« und distanzierte sich in diesem Zusammenhang von den Auffassungen und Aktivitäten Pfarrer Eppelmanns,5 der »seine Friedensvorstellungen nur durch eine Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse in der DDR verwirklicht« sehe. Schwerpunkte seiner Ausführungen bildeten die Problemstellungen
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Erfahrungen im Umgang mit der Friedensfrage,
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Grundlagen des Pazifismus und
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Friedensutopien im Zusammenhang mit dem Pazifismusverständnis.
Dabei beantwortete Garstecki von ihm selbst aufgeworfene Fragestellungen, wie:
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Wie gehen wir als Christen mit der Friedensfrage um, wie verstehen und behandeln wir sie?
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Wie lösen wir Spannungen, die zwischen Utopie und Realität bestehen?
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Wie könnte die Realität offener werden für Utopien?
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Wie nähern wir die Utopie an die Realität an?
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Was können beide voneinander lernen?
Garstecki ging in seinen Ausführungen davon aus, dass gegenwärtig ein Unbehagen über die Friedenssicherung bzw. Friedensbewahrung, wie sie in der DDR praktiziert werde, vorhanden sei.
Das Friedenshandeln werde von »Utopien« bestimmt und die Friedenssicherung habe noch keinen festen Platz bzw. keinen festen Ort. Er führte aus: »Unser Ziel ist, die Utopie durch unser Handeln in Realität zu verwandeln. Der Pazifismus ist dabei nicht ein Ziel, sondern eine Ausdrucksform, ein Mittel zum Zweck.«
Das Ziel des Pazifismus bestehe darin, Frieden zu schaffen, denn der Zustand des »Heute« ist kein Frieden, sondern lediglich ein »Nicht-Krieg«.
Im Verlaufe seiner Ausführungen ging Garstecki auf folgende weitere Probleme ein:
Die Darstellung der Friedenssicherung sei in der DDR gekoppelt mit der Klassenauseinandersetzung, und das bestimme das Friedenshandeln. Die Friedenssicherung werde immer an den Rahmen dieser Auseinandersetzung gefesselt. Dabei werde der Feind immer als Aggressor dargestellt, was sowohl in Ost als auch West so wirke. Diese Bedrohung werde durch viele Mittel/Methoden überhöht, um jeweils die Friedenssicherung zu rechtfertigen. Dadurch komme es zur Verzerrung der Realität.
»Sachzwänge« wären bestimmend für das System der Friedenssicherung.
Der Frieden werde Gegenstand der militärischen Sicherheit. Diese »verengte« Friedensauffassung müsse wieder erweitert und nicht nur auf den sicherheitspolitischen Aspekt reduziert werden. Ansonsten komme es zur »Verteufelung« pazifistischer Ansätze/Aktivitäten.
Der Pazifismus sei eine Herausforderung für den Frieden, weil er die Gewalt als Mittel der Lösung politischer Fragen ablehne. Der Pazifismus habe durchaus eine politische Stärke und Kraft. Er erfahre gegenwärtig eine vernünftige Darstellung. Es gelte, die »politisch Verantwortlichen« weiter auf die fruchtbaren Ansätze des Pazifismus aufmerksam zu machen und den Pazifismus als Grundlage für christliches Friedenszeugnis zu nehmen. Die Spitze einer derartigen persönlichen Haltung liege dabei in der »Waffendienstverweigerung«.
Das Verhältnis »DDR-Friedensbewegung« und Pazifismus werde von der politischen Lage bestimmt. Die Friedensbewegung könne pazifistische Elemente enthalten. Sie sei im weitesten Sinne als pazifistisch zu bezeichnen. Staatlicherseits sei man jedoch trotzdem diesbezüglich einer »geteilten Meinung«. Das diene mehr der Rechtfertigung nach außen. Ein echter Spielraum für Pazifisten sei nicht vorhanden bzw. werde eingeengt. Dies resultiere aus der Realität heraus (z. B. Bündnisverpflichtungen).
Das Verständnis für Frieden sei auseinandergefallen. Es müsse ein neues Friedensverständnis entworfen werden, was nicht auf Kosten anderer gehe. Vernünftig sei also das, was allen helfe. Die Friedensfrage dürfe nicht in ein Schwarz-Weiß-Schema eingeordnet werden. Ein eindeutiges Freund-Feind-Bild sei deshalb nicht möglich.
Garstecki forderte die Teilnehmer dazu auf, nicht zuzusehen, wie die Schere zwischen Utopie und Realität immer weiter auseinanderklappe.
Unter der Fragestellung: »Was ist politisch vernünftig und wie vernünftig ist der Pazifismus?« formulierte er, dass »theologische Zugänge« zur vernünftigen Darstellung der Friedensfrage gebraucht werden. Dabei dürfe sich die Theologie nicht aus der Politik heraushalten, sondern müsse »politikbezogen« sein.
Nach diesem Grundsatzreferat von Garstecki wurde das »Friedensseminar« in insgesamt sechs Diskussionsgruppen fortgeführt. Diskussionsgrundlage der teilweise unter Gesprächsleitung von kirchlichen Amtsträgern (Superintendent Magirius6 und Pfarrer Schreiber,7 Leipzig; Pfarrer Albrecht,8 Dresden) durchgeführten Aussprachen waren u. a. von Garstecki ausgearbeitete und vorgegebene Fragestellungen, wie:
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Was bedeutet die Einsicht, dass der Frieden eine politische Aufgabe für das Friedensengagement des Christen in der DDR ist?
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Welche Möglichkeiten des Ausdrucks einer pazifistischen Haltung bestehen außer der Verweigerung des Waffendienstes noch?
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Was erwarten Sie von den christlichen Kirchen hinsichtlich ihrer theologischen Profilierung und ihres praktischen Handelns?
Eine Reihe auf feindlich-negativen Grundpositionen stehender Seminarteilnehmer war darüber enttäuscht, dass Garstecki in seinen Ausführungen keine offeneren Angriffe gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung führte. Diese Personen bildeten eine Diskussionsgruppe (Leitung: Pfarrer Albrecht, Dresden), in der nicht die vorgegebenen und aus dem Referat abgeleiteten Probleme diskutiert wurden, sondern vorrangig sogenannte brennende Fragen.
Diese Fragen und Probleme, die differenziert auch in den anderen Diskussionsgruppen erörtert wurden, beinhalteten u. a.
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Möglichkeit der Schaffung eines »Sozialen Friedensdienstes«9 (SoFd) in der DDR und eines Reservistenwehrdienstes ohne Waffe,
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Möglichkeiten der Wehrdienstverweigerung und damit im Zusammenhang stehende rechtliche Bestimmungen,
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Ableistung des »Bausoldatendienstes« und Möglichkeiten der kirchlichen Arbeit in den Baueinheiten der NVA,10
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Eingaben von Frauen im Zusammenhang mit dem Wehrdienstgesetz an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR,11
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»Situationsschilderungen« zu Strafvollzugseinrichtungen, in denen Wehrdienstverweigerer einsitzen.
In der Diskussion wurde ferner Bezug genommen auf die Ereignisse in der ČSSR im Jahre 1968,12 auf die Problematik Afghanistan13 und auf die konterrevolutionären Ereignisse in der VR Polen14 als Beispiel negativer politischer Aktivitäten sozialistischer Staaten«.
Im Rahmen der geführten Diskussionen kam es teilweise zu erheblichen feindlich-negativen Äußerungen gegen die Friedens-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der DDR.
Den Seminarteilnehmern wurden folgende Orientierungen gegeben:
- 1.
Für die »Rechtsberatung« im Zusammenhang mit der Wehrdienstverweigerung u. Ä. können die Rechtsanwälte Schnur15/Binz, Dr. Gysi16/Berlin, Scherlies17 und Weils18/Magdeburg, Neubert19/Klingenthal, Marianne Brendel20/Leipzig, Vormelker21/Rostock und Schernikau22/Frankfurt/O. herangezogen werden.
- 2.
Das »3. Leipziger Friedensseminar« findet am 3./4. März 1984 unter der Thematik »Aktionen, Initiativen, Alternativen« statt und soll sich u. a. mit Problemen der Volksbildung, der Zivilverteidigung, der Reserveoffiziersanwärter und der »Aktion Sühnezeichen« beschäftigen.
- 3.
Im Zeitraum April/Mai 1983 sollen acht weitere sogenannte Friedensseminare stattfinden, so u. a. in der Hauptstadt der DDR, Berlin, in Karl-Marx-Stadt, Meißen, Königswalde, Löbau und Leuna (teilweise wurden bereits die Referenten/Verantwortlichen genannt, unter diesen erneut Garstecki).
Der sogenannte Friedensgottesdienst am 5. März 1983 zum Thema »Frieden 1983 – ein hoffnungsloser Fall?« wurde von Pfarrer Gröger,23 Leipzig, und von Mitgliedern des Leitungskreises des Arbeitskreises »Friedensdienst« beim Jugendpfarramt Leipzig gestaltet. Er war so angelegt, die teilnehmenden Jugendlichen in ihrer ablehnenden Haltung insbesondere zur Friedenspolitik der DDR und zur Erhöhung der Verteidigungsbereitschaft zu bestärken. Diese inhaltliche Orientierung und die jugendgemäße Form der Gottesdienstgestaltung – keine Hauptpredigt, Einbeziehung mehrerer Personen in die Gestaltung, Auftreten eines »Liedermachers«, Nutzung von Dia-Projektoren usw. – fand Beifall und Zustimmung bei den ca. 700 Teilnehmern.
Unter Bezugnahme auf die kirchliche Geschichte wurde den Teilnehmern des Gottesdienstes suggeriert, die Hoffnung auf Gott nicht aufzugeben und bereitwillig das Kreuz zu tragen, auch wenn man »Repressalien ausgesetzt, durch die Staatssicherheit verhört und verhaftet werde«, auch wenn man die gewünschte Lehrstelle nicht erhalten könne usw.
Der Liedtext »Wir lassen uns nicht länger betrügen« des BRD-Sängers Hannes Wader24 wurde dazu missbraucht, die Forderung zu erheben, auch gedienten Reservisten die Möglichkeit des »waffenlosen Dienstes« zu ermöglichen.
Vor dem gemeinsamen Gebet wurden Namen junger Christen genannt, die angeblich »wegen ihres Eintretens für den Frieden« inhaftiert wurden. Für diese und »andere verfolgte Personen« sollte die Kollekte eingesetzt werden.
Im Verlaufe des Gottesdienstes wurde in der Kirche ein ca. drei Meter hohes Holzkreuz errichtet, an welches Zettel mit Problemen und Fragen, »bei deren Lösung Gott helfen möge«, angebracht werden konnten. Davon machten ca. 60 Personen Gebrauch. Nach vorliegenden internen Hinweisen beinhalteten diese Zettel u. a. Aufrufe zum Pazifismus, zum »Sozialen Friedensdienst« und zum »Umweltschutz«. Mit der Bemerkung »Es ist wie mit dem Frieden – es reicht nicht für alle«, wurden als Symbol des Friedens Forsythienzweige verteilt.
Zum Abschluss des Gottesdienstes erklärte Pfarrer Gröger, dass die Veranstalter gern bereit wären, sofort Fragen zum Thema Frieden zu beantworten. Er forderte dazu auf, Unklarheiten und Probleme sofort zu klären, »damit nicht nach vier Wochen beim Rat der Stadt von ihm Rechenschaft gefordert werde, von Leuten, die gar nicht an der Veranstaltung teilgenommen haben«.
Im Zusammenhang mit der Durchführung des sogenannten 2. Leipziger Friedensseminars wurden keine Hinweise auf eine Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit bekannt.
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