Ausbildung libyscher Bürger
14. März 1983
Information Nr. 96/83 über den Stand der Vertragsrealisierung zur Ausbildung libyscher Bürger in der DDR und dabei auftretende Probleme
Im Zusammenhang mit der Vertragsrealisierung zur Ausbildung libyscher Bürger in der DDR wurden dem MfS folgende Hinweise über dabei auftretende Probleme bekannt:
Am 15.6.1981 schloss der Außenhandelsbetrieb Intercoop mit der militärischen Industriekooperation der Sozialistischen Libyschen Arabischen Volksjamahirija (SLAVJ)1 einen Vertrag über die Ausbildung von 1 200 libyschen Bürgern zu Facharbeitern (überwiegend auf dem Gebiet Metallverarbeitung in 16 Berufen) und 200 libyschen Bürgern zu Ingenieuren (überwiegend in Fachrichtungen des Maschinenbaus) ab. (Die DDR erzielt damit im Zeitraum 1981 bis 1987 Valutaeinnahmen in Höhe von 87 Mio. US-Dollar.)
Zwischenzeitlich hat die libysche Seite, in Abhängigkeit von der Realisierung dieses Vertrages, den Abschluss weiterer Ausbildungsverträge (immaterieller Export) für ca. 6 000 libysche Bürger in Aussicht gestellt.
In der DDR wurde das Ministerium für Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau (MWV) mit der Realisierung des Vertrages federführend beauftragt. Als Generallieferant der DDR wurde der VEB RAWEMA Karl-Marx-Stadt (Betrieb des Werkzeugmaschinenkombinates »Fritz Heckert« Karl-Marx-Stadt) eingesetzt.
Zur vertragsgemäßen Realisierung und Lösung der damit verbundenen Aufgaben erfolgte die Bildung einer Arbeitsgruppe unter Leitung eines Stellvertreters des Ministers für Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau. In dieser Arbeitsgruppe wirken die beauftragten Stellvertretenden Minister der mit der Vertragsrealisierung beauftragten Ministerien (Schwermaschinen- und Anlagenbau, Allgemeiner Maschinen-, Landmaschinen- und Fahrzeugbau, Hoch- und Fachschulwesen, Volksbildung sowie Vertreter des Staatssekretariats für Berufsausbildung und die Stellvertretenden Vorsitzenden der Räte der Bezirke Karl-Marx-Stadt, Dresden, Leipzig, Gera und Magdeburg) mit.
Die Realisierung der vertraglichen Verpflichtungen durch die zuständigen DDR-Organe wird durch eine Reihe von Faktoren beeinträchtigt, die bei folgenden Problemen sichtbar werden:
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Schaffung und Bereitstellung vertragsgerechter Ausbildungsplätze,
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Bereitstellung der entsprechenden Unterkunftsobjekte, insbesondere Schaffung zentralisierter Wohnheime,
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Bereitstellung qualifizierter Lehrkräfte, insbesondere für die Deutsch-Intensivausbildung,
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Sicherstellung der Betreuung im gesundheitlichen, kulturellen und sportlichen Bereich,
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durchgängige Einhaltung eines den landesüblichen Essens- und Verbrauchsgewohnheiten entsprechenden Niveaus der Verpflegung.
Diese und andere Erscheinungen sind nach Auffassung von verantwortlichen Fachleuten einerseits Folgen der in der ersten Phase der Realisierung der vertraglichen Verpflichtungen aufgetretenen Versäumnisse und Vernachlässigungen in den Verantwortungsbereichen der zuständigen staatlichen Organe bzw. in deren Auftrag eingesetzter nachgeordneter Einrichtungen, andererseits aber auch ständiger zusätzlicher Forderungen der libyschen Seite.
Vorgenannte Erscheinungen sind von der libyschen Seite zum Anlass genommen worden, Zahlungen zu verzögern, deren Stornierung anzudrohen bzw. eine vollständige Vertragsaufkündigung in Aussicht zu stellen.
Wie dazu von den Fachleuten eingeschätzt wird, seien die diesbezüglichen Forderungen der libyschen Seite – insbesondere hinsichtlich der Belegungsstärke der Wohnzimmer, des Niveaus der kulturellen und sportlichen Betätigungsmöglichkeiten, der landesüblichen Verpflegung – teilweise überspitzt und zum Teil von der subjektiven Einschätzung der von libyscher Seite eingesetzten kontrollberechtigten Personen wesentlich beeinflusst.
Zu beachten ist aber auch die Tatsache, dass es die bisherigen vertraglichen Vereinbarungen infolge fehlender eindeutiger Festlegungen zu vorgenannten Detailfragen der libyschen Seite ermöglichen, ständig zusätzliche Forderungen zu stellen, ohne dass die DDR-Seite ihrerseits in der Lage ist, diese Zusatzforderungen auf bestehender Vertragsgrundlage abzuwenden.
(Für Ende März/Anfang April 1983 plant die militärische Industrieorganisation der SLAVJ unter Leitung von Oberst Moussa2 eine Inspektion aller Ausbildungsobjekte in der DDR, um die vertragsgerechte Ausbildung zu überprüfen.)
Die wesentlichsten Ursachen der von der DDR-Seite zu verantwortenden, teilweise unzureichenden Vertragserfüllung seien nach vorliegenden Hinweisen von Fachleuten auf folgende Umstände zurückzuführen:
In der Praxis der staatlichen Leitungstätigkeit habe es sich als unzweckmäßig erwiesen, die mit der Durchführung des betreffenden Beschlusses des Ministerrates gebildete Arbeitsgruppe unter die Leitung eines Stellvertreters des Ministers eines Industrieministeriums zu stellen. Nach übereinstimmenden Auffassungen hätten für diesen keine objektiven Voraussetzungen bestanden, über seinen Verantwortungsbereich hinausgehende, notwendige Forderungen gegenüber den anderen am Vertrag beteiligten staatlichen Organen durchzusetzen.
Diese an der vertraglichen Realisierung beteiligten staatlichen Organe waren und sind in der Regel nicht bereit, die ihnen planmäßig zur Verfügung stehenden Fonds für Maßnahmen einzusetzen, die nicht der Eigenerwirtschaftung von Valutamitteln dienen. (Für andere Vorhaben werden diesen staatlichen Organen keine zusätzlichen Fonds bereitgestellt.)
Dieser Umstand wirkt deshalb kaum stimulierend auf die Bereitschaft der mitwirkenden staatlichen Organe zur zügigen Umsetzung der Erfordernisse eines vertragsgemäßen Verhaltens.
Seit November/Dezember 1982 erhob die libysche Seite neue, über die bisherigen vertraglichen Vereinbarungen hinausgehende Forderungen. Sie betrafen u. a. die Weiterführung der Ausbildung nach dem Techniker-Abschluss bis zur Hochschulreife und die Durchführung eines zusätzlichen Praktikums im Bereich der speziellen Produktion der DDR.
Im Interesse der weiteren Vertragsrealisierung und unter Beachtung der Zusatzforderungen der libyschen Seite machten sich weitergehende Entscheidungen erforderlich, die in einer »Konzeption zur Sicherung der weiteren Realisierung des Vertrages über die Ausbildung von 1 400 libyschen Bürgern in der DDR« am 10.2.1983 dem Präsidium des Ministerrates der DDR zur Entscheidung eingereicht wurden.3 Wegen gegensätzlicher Standpunkte zu bildungspolitischen Fragen wurde diese Vorlage zurückgewiesen und nach erfolgter Überarbeitung am 24.2.1983 erneut zur Entscheidung vorgelegt.
Obwohl in dieser Vorlage u. a. notwendige Regelungen für die Fortführung der Ausbildung libyscher Bürger bis zur Hochschulreife und das Erreichen eines Techniker-Abschlusses berücksichtigt sind, wird von Fachleuten für die Erfüllung der zusätzlichen libyschen Forderungen die Vereinbarung einer 8. Vertragsänderung für erforderlich gehalten.
Wie von Experten zu der vorliegenden Entscheidung vom 24.2.1983 eingeschätzt wird, sind trotz der getroffenen Festlegungen die gegenwärtigen Regelungen der staatlichen Verantwortung und Leitung nicht ausreichend, notwendige Maßnahmen zeitlich und termingemäß mit der erforderlichen Konsequenz durchzusetzen und in allen an diesem Vorhaben beteiligten Verantwortungsbereichen sicherzustellen.
In Anbetracht der geschilderten Situation wird vorgeschlagen zu prüfen, künftig einem Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR die Leitung des entsprechenden Arbeitsstabes zu übertragen.