Blues-Messe Berlin-Lichtenberg
3. Oktober 1983
Information Nr. 326/83 über die am 30. September 1983 in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg durchgeführten »Blues-Messen«
In der Reihe der sogenannten Blues-Messen1 wurden am 30. September 1983 in der Zeit von 17.00 bis 22.50 Uhr in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg vier aufeinanderfolgende »Blues-Messen« gleichen Inhalts unter dem Thema »Wagnis um des Lebens willen« durchgeführt.
Zur vorbeugenden Verhinderung des politischen Missbrauchs der »Blues-Messen« und zur Einhaltung der Gesetze der DDR erfolgte am 29.9.1983 ein Gespräch des Staatssekretärs für Kirchenfragen, Genossen Gysi,2 mit dem Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg Forck3 (Berlin).
Im Verlaufe des Gespräches wurde u. a. gefordert, dass das ab 17.00 Uhr auf dem Gelände der Kirche vorgesehene Außenprogramm abgesetzt wird. Bischof Forck sicherte dies zu und betonte, die Kirchenleitung sei selbst daran interessiert, dass es während der »Blues-Messen« zu keinen Problemen komme.
An den »Blues-Messen« nahmen insgesamt ca. 2 850 Personen teil (in der zeitlichen Reihenfolge der »Blues-Messen« ca. 850, 1 000, 950 und 600 Personen; ca. 550 Personen besuchten wiederholt die Veranstaltungen am 30.9.1983).
Bei dem festgestellten Teilnehmerkreis handelte es sich überwiegend um Jugendliche und Jungerwachsene im Alter zwischen 14 und 22 Jahren. Bei etwa 20 % der Besucher handelte es sich um Tramper4 aus verschiedenen Bezirken der DDR. Ungefähr 30 Personen konnten, ihrem äußeren Erscheinungsbild nach, den Punkern zugeordnet werden.
Der Ablauf der Veranstaltungen wurde zeitweilig durch Generalsuperintendent Krusche5 und Stadtjugendpfarrer Passauer6 kontrolliert. Als Teilnehmer konnten weiter die dem MfS als Organisatoren dieser Veranstaltungen bekannten Pfarrer Eppelmann,7 Pfarrer Pahnke,8 Kreisjugendpfarrer Wesenberg,9 die Sozial-Diakone Nobscha,10 Kahlau,11 Dietrich12 und Syrowatka13 sowie weitere dem MfS als feindlich-negativ bekannte Personen aus dem kirchlichen Bereich festgestellt werden.
Unter den Teilnehmern befanden sich einige Bürger aus der BRD und aus Westberlin. Zwei von ihnen fotografierten vor allem Teilnehmer.
Im Zusammenhang mit den »Blues-Messen« wurden Aktivitäten von in der DDR akkreditierten Journalisten der BRD beobachtet.
Ein Team des ARD-Fernsehens begab sich auf das Gelände des Veranstaltungsortes und begann mit Ton- und Filmaufnahmen, obwohl beim Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten diese Aktivitäten nicht beantragt worden waren. Erst nachdem Stadtjugendpfarrer Passauer durch staatliche Vertreter auf das Wirken des ARD-Teams aufmerksam gemacht wurde, verwies er es vom Kirchengelände.
Die ARD-Korrespondenten fertigten danach Ton- und Filmaufnahmen unmittelbar vor dem Eingang zum Grundstück der Erlöserkirche. Zwei Mitarbeiter verblieben ohne Fototechnik in der Kirche.
Unter den Teilnehmern wurden weiterhin der Korrespondent Hans-Jürgen Röder14 (Evangelischer Pressedienst) und der dpa-Korrespondent Jennerjahn15 beobachtet.
Der An- und Abmarsch der Teilnehmer zur bzw. von der Erlöserkirche verlief ohne besondere Vorkommnisse. Rowdyhafte oder andere, die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigende Erscheinungen waren im Vorfeld des Veranstaltungsortes nicht festzustellen. Auf dem Kirchengelände waren kirchliche Kräfte zur Gewährleistung eines störungsfreien Ablaufs der »Blues-Messen« eingesetzt. Erneut war festzustellen, dass eine Vielzahl Besucher vor oder während der Veranstaltungen Alkohol trank; einige waren volltrunken. (Nach der Veranstaltung seien ca. 950 leere Spirituosen- bzw. Weinflaschen, ohne Bierflaschen, eingesammelt worden. Außerdem kam es zu einigen tätlichen Auseinandersetzungen kleineren Ausmaßes.)
Zum inhaltlichen Verlauf der »Blues-Messen« am 30. September 1983 ist festzustellen, dass sie keine direkten offenen Angriffe gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung enthielten, jedoch die verdeckten und verbrämten Angriffe beibehalten wurden.
Als wesentliche Gestaltungselemente wurden erneut solche Programmpunkte wie Begrüßung, Gebet, Sketche,16 Kollekteninformation und Verabschiedung eingesetzt, die jeweils durch das Abspielen von Bluesmusik voneinander getrennt waren.
Der Programmablauf und die im Rahmen der »Blues-Messen« verwendeten Sprechtexte waren von der Leitung der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg bestätigt und wurden mit unwesentlichen Veränderungen in der Veranstaltung vorgetragen.
Zu Beginn der Veranstaltung wurden die Teilnehmer in einem Sketch unter Hinweis auf die tätlichen Auseinandersetzungen mit Punks während der »Blues-Messen« am 24.6.198317 aufgefordert, durch ihr Verhalten zu einem störungsfreien Programmablauf beizutragen. Dazu wurde die Erlöserkirche zur »kriegsfreien Zone« erklärt.
Im Gebet wurde auf »Misstrauen«, welches »gestiftet wird«, auf die »Saat der Gewalt«, die »auf unserer Erde überall aufgeht«, verwiesen. Weiterhin wurde im Gebet Klage erhoben, »dass mit brutaler militärischer Gewalt Machtapparate aufrechterhalten werden … Menschen kaputtgehen, … mehr an Gewalt als an Menschlichkeit und Frieden geglaubt wird.« Betont wurde, es solle dazu beigetragen werden, »dass Menschen auf Vertrauen setzen – nicht auf militärische Abschreckung, nicht auf Raketensysteme, nicht auf Sicherung und Kontrolle des gesamten Lebens«; man solle »eher Nachteile ertragen«, als sich »mit Gewalt und Macht durchsetzen zu wollen«.
In einem weiteren Gebet wurde Friedenswille bekundet und hervorgehoben, man wisse nicht, wie er praktisch durchgesetzt werden solle. »Man weiß, dass es so nicht weitergeht: Das falsche Sicherheitsdenken, die Gewalt und die Abschreckung machen uns alle noch krank und kaputt … Auch die Politiker und die Kirchenleute brauchen Mut zum Wagnis, Vertrauen, damit alle das Leben vor der Vernichtung bewahren …«
In einem Sketch »Zwei Mächtige sichern die Erde« (Mitwirkung von Eppelmann) sollten offensichtlich Hegemoniebestrebungen der USA und der UdSSR gleichermaßen – ohne beide Staaten zu nennen – dargestellt werden. Dabei wurde zu suggerieren versucht, dass beide Mächte sich ihrem Wesen nach nicht unterscheiden und nur Interesse an der Erhaltung bzw. dem Ausbau ihrer Macht haben.
Eine als Sketch bearbeitete biblische Erzählung (Streit zwischen zwei Frauen um ein Kind, Verhinderung der Tötung des Kindes durch eine der Frauen)18 sollte Bezugspunkte zum Thema der »Blues-Messen« herstellen und wurde von Pfarrer Pahnke in einer anschließenden Erläuterung so gedeutet, »für das Leben alles zu wagen«. Im persönlichen Leben sollte diesem Beispiel gefolgt werden. Pahnke hob hervor, »die Mächtigen, die ihr System bis zum letzten verteidigen wollen« und damit das »Leben zerstören werden«, lehne er ab. Als mögliche und wünschenswerte Verhaltensweisen nannte Pahnke u. a. Freundschaften zu schließen, in der »Frage des Wehrdienstes« seinem »Gewissen zu folgen«, sich behinderten und kaputten Menschen zuzuwenden. Er rief auf, »jene zurückzuweisen, die Freiheit und Recht sagen, und bei denen es auf die Zerstörung des Lebens und seine Vernichtung lawinenartig zuläuft … Mit Raketen, Bomben, Manipulationen. Raketen sind nicht von Gott, weder Pershings noch SS-20!19 Die Diskriminierung Andersdenkender ist von Gott her nicht möglich.«
In einer »Versicherungsszene« wurde sprachlich primitiv durch drei Darsteller (Versicherungsagent, Vater und Sohn) zum Ausdruck gebracht, dass ein dreijähriger Dienst in der Armee Vorteile für ein Studium bringe und dass »Karriere und Geld« durch »Fresse halten und nicken – wenig denken« gemacht werden könne. »Das machen die meisten so.«
In einem sehr melodischen gemeinsamen Gesang wurde die Thematik »Schwerter zu Pflugscharen« aufgegriffen. Der Refrain des Liedes beinhaltete das Umschmieden von Gewehren und Kanonen zu Pflugscharen.
Mit der Bemerkung »Hoffen wir, dass der Herbst nicht frostig und kalt wird. Denkt daran, dass im Herbst in Westeuropa die Raketen stationiert werden und wieder Leute von uns eingezogen werden, entweder zur Fahne oder in den Knast«, wurde die »Blues-Messe« abgeschlossen.
Ein Teil des Musikprogramms wurde letztmalig durch die Gruppe »Infarkt«20 gestaltet. Gleichzeitig stellte sich die Gruppe »Pajote«21 als Nachfolger mit einigen Titeln vor.
Die Sammlung der Kollekte (5 700 M) erfolgte zur Begleichung der Unkosten der »Blues-Messen«, für den Kauf eines Barkas’,22 der für die Behinderten-Kommune Hartroda23 eingesetzt werden soll, und zur Unterstützung der kirchlichen Jugendarbeit.
In der Zeit von 19.05 bis 20.40 Uhr wurden auf dem kirchlichen Gelände vor der Erlöserkirche Aktivitäten dahingehend festgestellt, dass zwei Musikgruppen (»Infarkt«/Berlin und »Waldkapelle«24 [aus] Hessenwinkel) Blues- und Rocktitel spielten und ein Sänger und eine Sängerin mit Gitarre auftraten. Die Auftritte erfolgten ohne politische Relevanz.
Am Eingang der Erlöserkirche waren selbstgefertigte Plakate mit folgenden Texten angebracht:
»Wir rufen die Kirchen
in Europa und Nordamerika auf, ihre Regierungen zu überzeugen, bevor es zu spät ist, dass sie sich von den Plänen abwenden, in Europa zusätzliche oder neue Atomwaffen zu stationieren. Ein Atomkrieg ist unter keinen Umständen zu rechtfertigen oder als gerecht zu erklären. Wir glauben, dass für die Kirchen die Zeit gekommen ist, klar und eindeutig zu erklären, dass sowohl die Herstellung und Stationierung ein Vergehen gegen die Menschheit darstellen.
Christen müssten erklären, dass sie es ablehnen, sich an einem Konflikt zu beteiligen, bei dem Massenvernichtungswaffen eingesetzt werden.« (ein Plakat, Größe 60 × 100 cm)
Auszüge aus den bekannten »Briefen aus Vancouver an den Bundeskanzler der BRD und den Staatsratsvorsitzenden der DDR«25
An einem in der Kirche aufgebauten »Informationsstand« wurden durch Teilnehmer sogenannte Wünsche auf zwei zusammengesetzte Tapetenbahnen geschrieben, darunter:
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»Ich stehe hinter jeder Regierung, wenn ich nicht sitzen muss, wenn ich nicht hinter ihr stehe«;
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»Ob Westen oder Osten – alle Raketen sollen rosten«;
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»Petting statt Pershing«;
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»Der gewaltlose Widerstand ist nicht der Weg des Schwachen, sondern der Weg des Starken«;
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»Der Frieden muss erst geschaffen werden, Krieg ist schon da«.
Auf eine weitere Informationstafel (ca. 1 m²) wurde von Teilnehmern u. a. geschrieben:
»Frieden schaffen ohne Waffen«, »Schwerter zu Pflugscharen«,26 »Lieber ein warmer Bruder, als ein kalter Krieger«, »Stell dir vor es ist Krieg und keiner geht hin«, »Wo die Macht geistlos ist, ist der Geist machtlos«, »Marx27 lebt, Engels28 leider auch«, »Eine Rose sollte man nicht brechen, so auch nicht den Frieden«, »Der gewaltlose Widerstand ist keine Methode für Feiglinge, es ist der Weg der Starken«, »Es wäre besser, mein Kind wäre nicht in diese Zeit, in diese Welt, in diesem Staat geboren«, »Stephanus Stiftung, Objekt Ulmenhof bietet Übernachtungsmöglichkeiten an«.
Mittels Aushängen in der Kirche und auf dem Außengelände wurde zur Teilnahme an folgenden Veranstaltungen geworben:
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6.10.1983 um 19.00 Uhr Konzert in der Kapelle des Evangelischen Diakoniewerkes Königin Elisabeth in Berlin,
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8.10.1983 um 18.00 Uhr »Bluesnacht« in der Jacobikirche in Prenzlau,
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23.10.1983 um 10.00 Uhr Jugendsonntag im Dom von Havelberg.
Die während der Veranstaltungen vorgetragenen Texte liegen dem MfS im Wortlaut vor und können bei Bedarf angefordert werden.
Offensichtlich haben die in letzter Zeit auf allen Ebenen geführten Gespräche zwischen staatlichen Vertretern und kirchenleitenden Persönlichkeiten bewirkt, dass es im Unterschied zu vorangegangenen Veranstaltungen während der »Blues-Messen« am 30. September 1983 zu keinen direkteren und offeneren Angriffen kam.
Es erscheint deshalb zweckmäßig, auch künftig rechtzeitig in der Vorbereitungsphase solcher Veranstaltungen entsprechende Gespräche und Auseinandersetzungen mit verantwortlichen kirchenleitenden Kräften zu führen.
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