Blues-Messen in Erlöserkirche
30. April 1983
Information Nr. 162/83 über die am 29. April 1983 in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg durchgeführten »Blues-Messen«
Am 29. April 1983 fanden in der Zeit von 17.00 Uhr bis 22.35 Uhr in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg vier aufeinanderfolgende »Blues-Messen«1 gleichen Inhalts unter dem Thema »Versuchungen« statt.
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen nahmen an den Veranstaltungen in der Erlöserkirche insgesamt ca. 2 050 Personen teil (im Einzelnen in der Reihenfolge des Ablaufes der »Blues-Messen«: ca. 650, 800, 750, 400 Personen; ca. 550 Personen besuchten mehrere Veranstaltungen nacheinander.)
Bei dem festgestellten Teilnehmerkreis handelte es sich im Wesentlichen um Jugendliche im Alter zwischen 16 und 25 Jahren mit teilweise dekadentem Äußeren (sogenannte Tramper)2. Die Mehrheit der Besucher kam aus der Hauptstadt der DDR, Berlin; ca. 40 % waren aus anderen Bezirken der DDR angereist. Durch einen Teil der jugendlichen Besucher der »Blues-Messen« kam es zu einem übermäßigen Alkoholgenuss innerhalb und außerhalb der Erlöserkirche. Träger des Aufnähers »Schwerter zu Pflugscharen«3 wurden nur vereinzelt festgestellt.
An den »Blues-Messen« nahmen neben den bekannten Organisatoren (Pfarrer Eppelmann,4 Stadtjugendpfarrer Passauer,5 Jugenddiakon Syrowatka6 sowie die führenden Organisatoren der Arbeitsgemeinschaft »Frieden stiften« der Samaritergemeinde Berlin, Kahlau7 und Dietrich8) die Pfarrer Cyrus9 (Galiläagemeinde), Wekel10 (Gethsemanegemeinde), Langhammer11 (Erlösergemeinde) und Pastorin Misselwitz12 (Alte Pfarrkirche Pankow) – alle aus der Hauptstadt der DDR, Berlin – sowie die Pressereferentin des Konsistoriums der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Inge Mayer,13 teil. Der Ablauf der Veranstaltungen wurde zeitweilig durch Generalsuperintendent Krusche14 und Propst Winter15 beobachtet. Unter den Teilnehmern wurde die hinlänglich bekannte Katja Havemann16 festgestellt.
Eine Teilnahme von in der DDR akkreditierten westlichen Journalisten wurde nicht beobachtet.
Zum inhaltlichen Verlauf der »Blues-Messen« ist festzustellen, dass sie keine direkten politisch-negativen Angriffe gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung enthielten. Die inhaltliche Ausgestaltung der »Blues-Messen« wurde, wie bei analogen Veranstaltungen, als Folge von Blues-Musik, Sketchen17 und Gebet durchgeführt. Die vorgetragenen Texte enthielten keine inhaltlichen Änderungen zu den in den Anlagen zur Information Nr. 150/83 vom 26. April 1983 enthaltenen Vorlagen. Sie waren im Rahmen der sogenannten Kontaktgruppe, der Mitglieder des Vorbereitungskomitees der »Blues-Messen« und Mitglieder der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg angehören, abgestimmt und durch die Kirchenleitung bestätigt worden.
Die Teilnehmer der »Blues-Messen« wurden durch Pfarrer Eppelmann und Bruno Kahlau begrüßt. Unter dem Beifall der Anwesenden hob Eppelmann hervor, dass sich die Teilnehmer der »Blues-Messen« trotz Angst, gegen Mahnungen und Schwierigkeiten mit der »Trapo«18 für die »Blues-Messen« entschieden haben und diese Entscheidung auch immer eine Entscheidung gegen etwas anderes sei.
Im Predigtteil wurde der Inhalt der biblischen Versuchungsgeschichte (Matthäus 4) in Form einer Nacherzählung vorgetragen.19 Es wurde erläutert, dass Jesus in die Wüste ging und fastete, um die »wahren Werte« des Lebens zu erkennen bzw. die Standhaftigkeit seines Glaubens zu testen. Nach 40 Tagen meldete sich der Teufel und versuchte, Jesus mit »Versuchungen« (Beteiligung an der Macht, Reichtum, Essen und Trinken) von seinem Glauben abzubringen. Jesus erlag diesen Verlockungen jedoch nicht, sondern wandte sich den »Niedergedrückten« und »den von den Mächtigen in die Knie gezwungenen« zu.
In dem folgenden sogenannten Anspiel, das Eppelmann, Kahlau, Schröder20 und zwei weitere männliche Personen gestalteten, wurde eine Analogie zwischen der biblischen Versuchungsgeschichte und bestimmten Erscheinungen des heutigen gesellschaftlichen Lebens aufgezeigt. Es wurde unterstellt, dass die Versuchungen des Lebens, insbesondere der »Konsumzwang«, dazu führen, dass z. B. die Zahl der Selbstmorde und die Anzahl der Gleichgültigen ansteige, die Psychiater immer mehr Arbeit bekämen, die Kriminalität wachse, die Menschen sich isolieren und schließlich daran kaputtgehen würden.
Das abschließende Gebet enthielt eine Zusammenfassung und Bekräftigung der im Verlaufe der Veranstaltung vorgetragenen inhaltlichen Aspekte. Dabei wurde u. a. hervorgehoben, dass junge Menschen auf der Suche nach Glück und dem Sinn des Lebens immer wieder in »Konflikte« geraten, »vor allem mit dem hier geltenden Recht«.
Zum Abschluss der jeweiligen Veranstaltung erfolgte die Ankündigung zur Sammlung einer Kollekte zur »Unterstützung von Inhaftierten, für Anwaltskosten und zur Einrichtung eines kirchlichen Raumes.«
Das Musikprogramm der »Blues-Messen« wurde durch die Sängerin Regine Dobberschütz21 (rechtswidrige »Antragstellerin« auf Übersiedlung) und Band (ehemalige Gruppe »Gurkensalat«) gestaltet. Die Liedtexte wurden ausschließlich in englischer Sprache vorgetragen.
Zum Abschluss jeder Veranstaltung wurden an die Teilnehmer Handzettel mit dem gedruckten Text: »Hiermit erkläre ich Dir den Frieden« verteilt. Auf einer ausgehängten Tapete konnten sie ihre Meinung zu den »Blues-Messen« schriftlich äußern.
(Dem MfS dazu intern vorliegende Hinweise lassen erkennen, dass entsprechend diesen schriftlichen Äußerungen die politisch-negativen Erwartungshaltungen bestimmter Teilnehmer der »Blues-Messen« nicht erfüllt wurden.)
Von den Veranstaltern der »Blues-Messen« wurde im Zeitraum von 16.30 Uhr bis 21.30 Uhr ein umfangreiches »Außenprogramm« auf dem Außengelände der Erlöserkirche bzw. in Räumlichkeiten der Erlösergemeinde für solche Personen angeboten, die wegen Überfüllung der Kirche keinen Einlass erhalten konnten.
Die Singspielgruppe des »Großen Friedenskreises« Pankow22 (Leitung: Pastorin Misselwitz) führte das Stück »Carmina Urana«23 des BRD-Kabarettisten Hüsch24 auf.
Das Stück kritisiert die gesellschaftlichen Verhältnisse Ende der 60er-Jahre in der BRD; vor allem die Gleichgültigkeit der werktätigen Massen am Friedenskampf und die diffamierende Einstellung des Propagandaapparates zur Friedensbewegung. (»… Die Friedenshetzer werden wir genannt …«) Die Aufführung hinterließ bei den Zuschauern den Eindruck, dass aktuelle Verhältnisse in der DDR Gegenstand des Stückes sind und kritisiert werden, was durch spontane Beifallsbekundungen zum Ausdruck kam.
Mitglieder der ESG Berlin führten das Stück »Die Schlinge«25 auf. Es enthält Diffamierungen der Friedens-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der DDR und endet mit der Feststellung »Wer für den Frieden ist, der darf auch töten und weiß, wofür er stirbt« und der Darstellung eines bewaffneten Mannes und einer bewaffneten Frau.
Eine weitere Gruppe trat mit Sketchen auf, die zum Teil offene Angriffe enthielten. Unter anderem wurde ein Stück mit dem Titel »Striptease«26 aufgeführt, in dem dargestellt wurde, wie »brutal und inhuman es bei der VP und in Verhören zugehe«. Als Requisiten wurden selbstgefertigte Handschellen benutzt.
Das Programm des Liedermachers Karl-Heinz Bomberg27 (Berlin) enthielt vorwiegend ökologische Themen. Die Texte beinhalteten keine feindlich-negativen Aussagen.
Ein bisher nicht identifizierter »Liedermacher« trat auf dem Außengelände der Erlöserkirche mit politisch-negativen Liedern auf (»Sonderzug nach Pankow«, »Kennst Du das Land ohne Mauern« Verunglimpfung der »Internationale«).
Der Töpfermeister Christian Richter28 (Pankow) verkaufte an einem Stand Keramikerzeugnisse (Sparbüchsen in Brotform mit der Aufschrift »Brot für die Welt«) und erneut selbstgefertigte Keramikplaketten mit den Texten »Schwerter zu Pflugscharen« und »Frieden schaffen ohne Waffen«.
Der sogenannte Ökologiekreis der ESG Berlin29 gestaltete einen Informationsstand und verkaufte dort ca. 400 »Mail Art«-Postkarten30 mit ökologischen Motiven sowie Kopien ausgestellter Karikaturen. Ausgelegt zur Einsichtnahme waren ferner die Stadtordnung der Hauptstadt der DDR, Berlin, sowie das Landeskulturgesetz der DDR31 und Eingaben (einschließlich Antworten und erneute Eingaben zur Unterschriftenleistung) des »Ökologiekreises«
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gegen das Kinderkarussell mit nachgebildeten Militärfahrzeugen des Schaustellers [Name] auf dem Berliner Weihnachtsmarkt,
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wegen des Fehlens von Fahrradwegen in der Hauptstadt der DDR, Berlin,
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gegen die Auslage des Fachgeschäftes für Modelleisenbahnen Dimitroffstraße/Ecke Schönhauser Allee mit Modellen militärischen Charakters.
Die Mitglieder des »Ökologiekreises« hatten die Absicht, an ihrem Stand Fotos von der versuchten Störung der Friedensmanifestation am 18. März 1983 in Jena auszustellen, was ihnen von Pfarrer Passauer untersagt wurde.
Durch eine weitere »Umweltgruppe« wurde an diesem Stand in einem Material gegen den Bau der Autobahn Wismar – Schwerin Einspruch erhoben und zur Unterschriftenleistung für eine Eingabe an das Ministerium für Verkehrswesen der DDR aufgefordert. (Von diesem Sachverhalt wurde Generalsuperintendent Krusche unterrichtet. Krusche und Propst Winter begaben sich daraufhin auf das Gelände der Erlöserkirche und nahmen sieben Seiten mit Unterschriften gegen den Autobahnbau sowie weitere zur Unterzeichnung ausliegende Eingaben an sich. Danach wurde das Sammeln von Unterschriften nicht fortgesetzt.)
An einem aufgebauten Informationsstand »Wer weiß, wo was ist« wurde über eine Vielzahl kommender Veranstaltungen informiert und den Teilnehmern die Möglichkeit gegeben, ihnen bekannte Termine zu kirchlichen und anderen Veranstaltungen (Friedens- und Jugendgottesdienste, Liedermachertreffen, Umweltschutzveranstaltungen u. a.) untereinander bekannt zu machen.
(Unter anderem wurde auf die nächste »Blues-Messe« am 24. Juni 1983 in der Erlöserkirche sowie auf ein »Umweltschutztreffen« vom 8. bis 10. Juli 1983 in Potsdam-Hermannswerder verwiesen.)
Kirchliche Ordnungskräfte der sogenannten Informationsgruppe sorgten in der Erlöserkirche sowie auf dem Außengelände für einen störungsfreien Ablauf der Veranstaltungen. Eine offensichtlich im Auftrage der Organisatoren der »Blues-Messe« handelnde Person fotografierte Teilnehmer. Anderen Personen wurde das Filmen und Fotografieren untersagt.
Der An- und Abmarsch der Personen zur bzw. von der Erlöserkirche verlief ohne besondere Vorkommnisse, rowdyhafte oder andere, die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigende Handlungen waren nicht feststellbar.
Im Vergleich des Inhaltes der »Blues-Messen« vom 29. April 1983 zu vorangegangenen Veranstaltungen dieser Reihe ist festzustellen, dass politisch-negative Aussagen in geringerem Umfang und unterschwelliger vorgetragen wurden. Entsprechend geringer war vorliegenden Hinweisen zufolge die Resonanz des Publikums darauf. Demgegenüber steht der offenere politisch-negative Inhalt der Veranstaltungen des »Außenprogrammes«. Es zeigte sich, dass die Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg dem durch feindlich-negative Kräfte vorbereiteten »Außenprogramm« zu geringe Bedeutung in Bezug auf den Gesamtcharakter der »Blues-Messe« beigemessen hat, obwohl entsprechende konkrete staatliche Hinweise rechtzeitig gegeben wurden. Intern vorliegenden Äußerungen von Generalsuperintendent Krusche zufolge beabsichtigt dieser, das genannte Problem und insbesondere die negativen Aktivitäten des sogenannten Ökologiekreises der ESG Berlin kirchenintern auszuwerten.
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