Blues-Messen in Erlöserkirche
27. Juni 1983
Information Nr. 239/83 über die am 24. Juni 1983 in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg durchgeführten »Blues-Messen«
Am 24. Juni 1983 fanden in der Zeit von 17.15 Uhr bis 22.45 Uhr in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg vier aufeinanderfolgende »Blues-Messen«1 gleichen Inhalts unter dem Thema »Protestanten« statt.
An den Veranstaltungen nahmen insgesamt ca. 2 350 Personen teil (in der zeitlichen Reihenfolge des Ablaufs der »Blues-Messen« ca. 850, 700, 750, 350 Personen; ca. 300 Personen besuchten mehrere Veranstaltungen nacheinander).
Bei dem festgestellten Teilnehmerkreis handelte es sich überwiegend um Jugendliche im Alter zwischen 14 und 25 Jahren mit teilweise dekadentem Äußeren, insbesondere bei den ca. 50 anwesend gewesenen Punkern.
Die Mehrzahl der Besucher kam aus der Hauptstadt der DDR, Berlin; ca. 35 % waren aus anderen Bezirken der DDR angereist, darunter Mitglieder der »Friedenskreise«2 Stralsund, [Bezirk] Rostock und Hoyerswerda, [Bezirk] Cottbus, der Evangelischen Studentengemeinde Jena, [Bezirk] Gera,3 und weitere Personengruppen aus Sömmerda, [Bezirk] Erfurt, Schmalkalden, [Bezirk] Suhl und Rostock.
Durch übermäßigen Alkoholgenuss eines Teils der jugendlichen Besucher kam es im Außengelände der Erlöserkirche insbesondere während und nach der letzten »Blues-Messe« zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Punkern und weiteren Veranstaltungsteilnehmern. Insgesamt neun volltrunkene Personen wurden medizinisch betreut.
An den »Blues-Messen« nahmen neben den bekannten Organisatoren (Pfarrer Eppelmann,4 Stadtjugendpfarrer Passauer,5 Jugenddiakon Syrowatka,6 Pfarrer Langhammer,7 Kahlau,8 Dietrich9 – Organisatoren der Arbeitsgemeinschaft »Frieden stiften« der Samaritergemeinde die Sozialdiakone Heinze,10 Böduel,11 und Passarge12 – alle aus der Hauptstadt der DDR, Berlin, sowie der hinlänglich als feindlich-negativ bekannte Pfarrer Jahr13/Altendorf, [Bezirk] Gera, teil. Der Ablauf der Veranstaltungen wurde zeitweilig durch Generalsuperintendent Krusche,14 Propst Winter15 und Oberkonsistorialrat Becker16 kontrolliert.
Als Beobachter der »Blues-Messen« bzw. des Programms auf dem Außengelände der Erlöserkirche wurden festgestellt:
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ein politischer Mitarbeiter der USA-Botschaft in der DDR,
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ein Mitarbeiter der irakischen Botschaft in der DDR,
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der in der DDR akkreditierte »BBC«-Korrespondent P. Bolding,17
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fünf anlässlich der kirchlichen Lutherfeiern in der DDR18 weilende Pastoren aus den USA sowie vier weitere namentlich bekannte Personen aus den USA, eine Person aus Finnland und eine Person aus Frankreich. Letztere fotografierten Teilnehmer der »Blues-Messen«.
Zu den Besuchern des Programms auf dem Außengelände der Erlöserkirche zählten auch ein Soldat der Nationalen Volksarmee, Angehöriger des selbstständigen Baupionierbataillons in Berlin-Biesdorf, und ein Unterwachtmeister des MdI, tätig in der Intendantur des MdI, Berlin, Mauerstraße. (Beide Personen sind namentlich bekannt.)
Zum inhaltlichen Verlauf der »Blues-Messen« in der Erlöserkirche ist festzustellen, dass sie keine offenen und direkten, sondern verdeckte Angriffe gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung enthielten.
Die Gestaltung der »Blues-Messen« erfolgte nach dem Modell bereits vorangegangener analoger Veranstaltungen als Wechsel von Blues-Musik, Anspielen, Sketchen19 und Predigt.
(Die vorgetragenen Texte waren im Rahmen der sogenannten Kontaktgruppe, der Mitglieder des Vorbereitungskomitees der »Blues-Messen« und Mitglieder der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg angehören, abge
stimmt und nach Streichung einiger Textstellen, deren Aussagen sich gegen die Schutz- und Sicherheitsorgane bzw. gegen führende Repräsentanten der Partei- und Staatsführung richteten, von der Kirchenleitung bestätigt worden.)
Die Teilnehmer der »Blues-Messen« wurden durch Pfarrer Eppelmann und Bruno Kahlau mit dem Hinweis begrüßt, dass man sich entsprechend des Themas damit befassen wolle, »wann man, wie man, gegen was man und wo man protestiert«. Außerdem wurden einleitend zehn Thesen zur Kenntnis gegeben, die u. a. beinhalteten:
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»Protest soll helfen«;
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»Wer protestieren will, muss sich informieren«;
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»Protest am richtigen Platz«;
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»Protestieren für die DDR, sie ist noch nicht fertig«;
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»Sage ein klares Ja oder ein klares Nein«.
Im 1. Anspiel, gestaltet durch Pfarrer Eppelmann, wurde ein »Beter« dargestellt, der unter einem »unheimlichen Druck« steht, da er gegen so vieles, was ihn »anstinkt« oder in »Weißglut« bringt, nicht protestiert. An Jesus gewandt bittet er um Hilfe, sich eine eigene Meinung bilden zu können, für die er geradesteht, »auch wenn es gefährlich werden könnte«. Schließlich kommt der »Beter« zu der Einsicht, dass er den Druck erst überwinden könne, wenn er durch Jesus den Mut finde, auszusprechen, was ihn belastet und sich mit denen solidarisch erklärt, die gegen Ungerechtigkeit protestieren.
Das zweite Anspiel stellt ein Gespräch zwischen Vater und Sohn (Syrowatka, Kahlau) dar. Zwischen beiden kommt es zur Auseinandersetzung, da der Sohn den Wehrdienst verweigert, nicht in ein GST-Ausbildungslager20 fährt und »verbotene Anhänger« trägt. Im Interesse der Erhaltung seiner beruflichen Stellung sowie der Zukunft seines Sohnes fordert der Vater ihn auf, seine Verhaltensweisen zu ändern, was der Sohn ablehnt.
Ein drittes Anspiel (Eppelmann, Syrowatka, Kahlau) beinhaltet die »solidarische Haltung« von Lehrlingen gegen einen Lehrobermeister, der einem Lehrling wegen dekadentem Äußeren (Punker) die Teilnahme an der Facharbeiterprüfung verweigern will. Die Lehrlinge setzen ihren Standpunkt durch, ohne ihr Äußeres verändern zu müssen. Die politisch-negative Aussage dieses Stückes wurde noch durch ein überdimensionales Parteiabzeichen der SED am Revers des Lehrobermeisters verstärkt.
In der anschließenden Predigt des Pfarrer Eppelmann zum Leitwort »Protestieren für das Leben, für mehr Menschlichkeit und für den einzelnen selbst« wurde Jesus Christus als »Vater des Protestes« herausgestellt. In die Aufzählung weiterer »Leitbilder des Protestes« bezog er sowohl Spartakus,21 Martin Luther,22 Rosa Luxemburg23 und Jassir Arafat24 als auch die Völker in Chile, Vietnam, Polen und Afghanistan25 ein.
(Die Erwähnung der VR Polen26 und Afghanistan wurde mit starkem Beifall bedacht.)
Eppelmann forderte auf, beim Protestieren »nicht zuerst an unsere eigene Sicherheit zu denken … Wir müssen bereit sein, ein Risiko einzugehen.« Protest umfasse auch die »Toleranz gegenüber Andersdenkenden« und beinhalte die Forderung »die eigene Sicherheit zurückzustellen und vielmehr an die Sicherheit des anderen zu denken«.
Abschließend forderte Eppelmann die Anwesenden auf zu überdenken, welche Zusammenhänge zwischen den Anspielen und seiner Predigt bestünden, um daraus Schlussfolgerungen für das persönliche Leben zu ziehen. Außerdem wurde der Termin für die nächsten »Blues-Messen« (30. September 1983) bekannt gegeben.
Die Sammlung einer Kollekte »für diejenigen, die durch ihren Protest in Schwierigkeiten geraten sind« (Anwaltskosten, Unterstützung von Inhaftierten) erbrachte einen Beitrag von 4 500 Mark.
Die in den Anspielen und in der Predigt enthaltenen Aussagen sind geeignet, die Anwesenden zu bestimmten oppositionellen Verhaltensweisen gegenüber der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung zu inspirieren bzw. sie darin zu bestärken.
Von den Veranstaltern der »Blues-Messen« wurde im Zeitraum von 17.45 Uhr bis 22.15 Uhr für die Besucher ein umfangreiches »Außenprogramm« auf dem Außengelände bzw. in Räumlichkeiten der Erlöserkirche geboten.
Auf der Außenbühne traten im Wechsel sogenannte Liedermacher und kleinere Gruppen mit Pop- und Blues-Musik auf.
Der Liedermacher Joachim Krafzik,27 tätig in der St. Georgen-Kirchgemeinde Berlin, stellte sich mit mehreren Titeln vor, die pessimistische Grundaussagen über das Leben und u. a. die Aufforderung enthielten »mitzukommen in ein anderes Land, wo die Sonne scheint«. Weitere zwei Liedermacher, darunter Jörg Weiss,28 tätig als Sprachmittler im Bundesvorstand des DTSB, traten mit selbstverfassten Liedern auf, u. a. über das »Tramperleben made in GDR«29 und über die »Freiheit«.
Gegen 20.15 Uhr traten die beiden Punk-Rockgruppen »Planlos«30 und »Unerwünscht«,31 von den anwesenden Punkern mit frenetischem Beifall begrüßt, auf. Sie spielten ca. zehn Liedtitel, in denen u. a. wiederholt solche – offen gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung gerichtete und neofaschistisches Gedankengut verherrlichende Textaussagen enthalten waren und »gesungen« wurden, wie
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»MfS-Lied« (»Bespitzelung durch MfS-MfS-MfS-SS«),
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»Arbeitest Du für Erich? – nein«,32
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»Arbeitest Du für die Partei – nein«,
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»Arbeitest Du für Russland? – nein«,
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»Wollt ihr den totalen Krieg? – ja«,
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»Rote Parolen und Sowjetmacht haben Deutschland kaputtgemacht«,
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»Nazischweine, Nazischweine, die Nazis sind in Ostberlin«.
Die anwesenden Punker spendeten spontan Beifall, während einige Anwesende durch Pfiffe und Buh-Rufe ihr Missfallen über den Auftritt der Punker zum Ausdruck brachten. Seitens der Veranstalter und der kirchlichen Ordnungskräfte wurde der Auftritt der genannten Punk-Rockgruppen nicht unterbunden, obwohl durch die Vertreter der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg (Generalsuperintendent Krusche und Propst Winter) auf der abschließenden Beratung über den Stand der organisatorischen Vorbereitung und der thematischen Gestaltung der »Blues-Messen« am 16. Juni 1983 dahingehend orientiert wurde, keine gegen den Staat gerichteten Äußerungen zu dulden.
An einem aufgebauten Informationsstand wurden weitere Veranstaltungstermine bekannt gemacht, darunter die »Friedenswerkstatt« am 3. Juli 198333 in der Erlöserkirche Berlin-Lichtenberg, die Radsternfahrt nach Potsdam-Hermannswerder34 vom 8. bis 10. Juli 1983 (»Umweltschutztreffen«) und der Kirchentag in Dresden (7.–10. Juli 1983). Darüber hinaus konnten Adressen ausgetauscht und Informationen über »freie Schlafstellen« erlangt werden.
Auf einer Papierrolle wurden Meinungsäußerungen von Veranstaltungsteilnehmern eingeholt. Sie enthielt u. a. solche beachtenswerten Äußerungen, wie:
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»Wir haben die Macht« (Punker),
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»Friede ist – wenn kein Kind mehr über den Krieg sprechen kann«,
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»Wo Mauern sind, kann keine Freiheit sein«,
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»Auch dieses Regime ist schlecht – wir wollen keinen Dritten Weltkrieg«.
Im Gemeindehaus der Erlöserkirche wurden durch die unter Leitung des Pfarrers Jahr/Altendorf, [Bezirk] Gera, stehende Theatergruppe der Evangelischen Studentengemeinde Jena die Einakter »Die Königinnen von Frankreich«35 des amerikanischen Dramatikers Thornton Wilder36 und »Der Anfang vom Ende«37 des irischen Dramatikers Sean O’Casey38 aufgeführt. Sie enthielten keine politisch-negativen Aussagen.
Im sogenannten Profiklub (Professor-Fischer-Haus) bestand die Möglichkeit, sich seelsorgerisch zu »Problemen junger Menschen« beraten zu lassen. Diese Einrichtung wurde nach vorliegenden Hinweisen nicht in Anspruch genommen.
Während des Außenprogrammes wurden ca. 100 Aufnäher und Plasteanstecker mit dem Symbol »Schwerter zu Pflugscharen« verteilt.39
Der An- und Abmarsch der Personen zur bzw. von der Erlöserkirche verlief ohne besondere Vorkommnisse. Rowdyhafte oder andere, die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigende Handlungen wurden nicht bekannt.
Die Veranstaltungen des »Außenprogrammes« enthielten, wie bereits bei den »Blues-Messen« am 29. April 1983 festgestellt,40 erneut zum Teil offene politisch-feindliche Aussagen und Angriffe gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung.
Die in den Gesprächen des Staatssekretärs für Kirchenfragen, Genossen Gysi,41 am 21. Juni 1983 mit Bischof Forck42 und Konsistorialpräsident Stolpe43 sowie des Stellvertreters des Oberbürgermeisters für Inneres, Genossen Hoffmann,44 am 16. Juni 1983 mit Generalsuperintendent Krusche und Stadtjugendpfarrer Passauer gegebenen Zusagen seitens der genannten kirchenleitenden Personen, keine Provokationen zu dulden, wurden nicht konsequent eingehalten.
Es wird vorgeschlagen:
1. Nach Abschluss der Maßnahmen zur Identifizierung der mit offenen feindlichen Angriffen gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung und der Verbreitung neofaschistischen Gedankengutes in Erscheinung getretenen Mitglieder der Funk-Rockgruppen »Planlos« und »Unerwünscht« strafrechtliche Maßnahmen gegen diese Personen einzuleiten.
2. Der Staatssekretär für Kirchenfragen, Genosse Gysi, sollte in einem Gespräch mit Bischof Forck und Konsistorialpräsident Stolpe unter Bezugnahme auf Inhalt und Verlauf der »Blues-Messen« am 24. Juni 1983, insbesondere des »Außenprogramms«, den politischen Missbrauch dieser Veranstaltungen entschieden verurteilen und zurückweisen. Den kirchenleitenden Personen sollte unmissverständlich dargelegt werden, dass die ihnen gegenüber ausgesprochene staatliche Erwartungshaltung im Zusammenhang mit den »Blues-Messen« und die seitens der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg gegebenen diesbezüglichen Zusagen nicht eingehalten wurden und deshalb im Wiederholungsfalle staatliche und rechtliche Maßnahmen gegen die Organisatoren derartiger Veranstaltungen zur Anwendung kommen werden.
Analog auf dieser Grundlage sollte ein Gespräch des Stellvertreters des Oberbürgermeisters für Inneres, Gen. Hoffmann, mit dem Generalsuperintendenten Krusche sowie mit Stadtjugendpfarrer Passauer stattfinden.
3. Mit den zuständigen SED-Bezirksleitungen, staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen sollten im Hinblick auf die vorgesehenen Veranstaltungen,
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3. Juli 1983 in der Erlöserkirche Berlin-Lichtenberg,
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7. bis 10.7.1983 Kirchentag in Dresden,
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8. bis 10.7.1983 Radsternfahrt nach Potsdam-Hermannswerder (»Umweltschutztreffen«),
Maßnahmen eingeleitet und entsprechend Einfluss genommen werden, damit diese Veranstaltungen im gesetzlich zulässigen Rahmen verlaufen, wobei zur geplanten Radsternfahrt zu prüfen ist, ob überhaupt eine Genehmigung erteilt werden sollte.
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