Gemeindetag »Frauen für den Frieden«
21. September 1983
Information Nr. 311/83 über die Durchführung eines sogenannten Gemeindetages unter der Losung »Frauen für den Frieden« am 17. September 1983 in der Auferstehungskirche in Berlin-Friedrichshain
Am 17. September 1983 fand in der Zeit von 16.30 bis gegen 22.30 Uhr ausschließlich in den Räumen der Auferstehungskirche in Berlin-Friedrichshain ein sogenannter Gemeindetag unter der Losung »Frauen für den Frieden«1 statt, an dem ca. 400 bis 500 Personen, fast nur Frauen im Alter von 20 bis unter 40 Jahren, teilnahmen.
Neben führenden Mitgliedern der sogenannten Frauengruppe »Frauen für den Frieden«, wie Annedore Havemann,2 Bärbel Bohley,3 Barbe Maria Linke,4 Ulrike Poppe5 und Karin Teichert6 [aus] Röbel, [Bezirk] Neubrandenburg (Ehefrau des feindlich-negativ in Erscheinung getretenen Literaten Rüdiger Rosenthal7), wurden als Teilnehmer festgestellt die Pastoren Tschiche8 (Magdeburg), Linke9 (Neuenhagen), Misselwitz10 (»Friedenskreis Pankow«) und Katechet Weu11 (Samaritergemeinde Berlin).
Anwesend waren ferner Superintendentin Laudien,12 Jugenddiakon Syrowatka13 (Auferstehungsgemeinde), Pfarrer Cyrus14 (Galiläagemeinde) und Pfarrer Langhammer15 (Erlöserkirche) – alle aus der Hauptstadt der DDR, Berlin. Die Leitung der Veranstaltung hatte Pastorin Sengespeick16 (Auferstehungsgemeinde).
Seitens des Ministeriums für Staatssicherheit waren im Zusammenwirken mit den zuständigen staatlichen Organen differenzierte Maßnahmen eingeleitet worden, um insbesondere einen politischen Missbrauch der geplanten Veranstaltung zu unterbinden. So wurden u. a. vorbeugende Gespräche sowohl mit kirchlichen Amtsträgern – Konsistorialpräsident Stolpe,17 Generalsuperintendent Krusche,18 Superintendentin Laudien, Pastorin Sengespeick – als auch mit den Organisatoren der sogenannten Frauengruppe »Frauen für den Frieden« und gleichzeitig maßgeblichen Organisatoren der genannten Veranstaltung in der Auferstehungskirche – Annedore Havemann, Bärbel Bohley und Barbe Maria Linke – geführt, in denen deutlich die staatliche Erwartungshaltung bezogen auf die Unterbindung weiterer gesetzwidriger Aktivitäten zum Ausdruck gebracht wurde.
Im Ergebnis der vorbeugend eingeleiteten Maßnahmen wurde erreicht, dass es während der Veranstaltung zu keinen gezielten bzw. spontanen spektakulären Aktionen kam.
Ungeachtet dessen ist einzuschätzen, dass
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unter dem Deckmantel eines »Gemeindetages« ein auf Einladungsbasis beruhendes Treffen von Gleichgesinnten und Sympathisanten der sogenannten Frauengruppe »Frauen für den Frieden« aus dem Raum Berlin sowie aus verschiedenen Bezirken der DDR (u. a. Magdeburg, Dresden, Neubrandenburg, Karl-Marx-Stadt) stattfand, wobei der gesamte Verlauf der Veranstaltung wesentlich der langfristigen Konzeption der Organisatoren entsprach (dazu wurde in der Information des MfS Nr. 269/83 vom 9. August 1983 berichtet).
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durchgängig die bekannten, gegen die sozialistische Entwicklung in der DDR gerichteten Auffassungen dieses Personenkreises, insbesondere aber bezogen auf die Friedens-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der DDR und auf die Formierung einer staatlich »unabhängigen« Friedensbewegung in der DDR, öffentlich dargestellt und diskutiert und weitergehende Varianten im taktischen Vorgehen dieser feindlich-negativen Kräfte beraten wurden.
Zum Verlauf der Veranstaltung wurden folgende bedeutsame Hinweise bekannt:
Die Pastorin Sengespeick eröffnete offiziell die Veranstaltung. Sie äußerte, dass »Frauen endlich ohne Männer reden müssten, weil Politiker sowieso keine Ergebnisse zustande« brächten.
(Zuvor trug eine Chansonsängerin Friedens- und Antikriegslieder vor.)
Im Anschluss daran wurden Beratungen in sogenannten Arbeitsgruppen durchgeführt, an denen unterschiedlich bis zu 100 Personen teilnahmen.
In der Arbeitsgruppe »Kindererziehung und gesellschaftliche Zwänge« – darin waren u. a. Annedore Havemann, Ulrike Poppe und Elke Westendorff19 aktiv – wurde eingangs aus der DDR-Fachzeitschrift »Erziehung« Nr. 6/83 zum Problem »Soldatenspiel im Kindergarten«20 zitiert. In der folgenden Diskussion wurde in herabwürdigender Weise gegen das einheitliche sozialistische Bildungssystem polemisiert, wobei u. a. zum Ausdruck gebracht bzw. gefordert wurde,
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in der Vorschulerziehung und der weiteren schulischen Entwicklung der Kinder sei ein sogenannter Leistungsdruck vorhanden;
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die Aufhebung der Pflicht zur Teilnahme am Wehrunterricht21 und an gesellschaftlicher Tätigkeit sowie der Mitgliedschaft in gesellschaftlichen Organisationen, wie der Pionierorganisation usw.
Weiter wurde gegen die Herstellung und den Vertrieb von Kinderspielzeug mit militärischem Charakter »argumentiert«.
Propagiert wurde in diesem Zusammenhang ein Beispiel eines sogenannten Kinderladens in Berlin-Prenzlauer Berg, Husemannstraße,22 die weitere Einrichtung derartiger Kinderläden als Alternative zu den staatlichen Kindergärten, mit dem das staatliche Bildungsmonopol unterlaufen werden soll; Kinder könnten sich dort ohne »gesellschaftliche Zwänge« bewegen.
(Es handelt sich um einen in einer privaten Ladenwohnung ohne Genehmigung der zuständigen staatlichen Organe eingerichteten Kindergarten, in dem sieben bis zehn Kinder von drei namentlich bekannten Personen ohne jegliche pädagogische Qualifikation betreut werden. Der Inspirator und Organisator dieses sogenannten Kinderladens ist der hinlänglich bekannte Poppe, Gerd.23 Es sind entsprechende Maßnahmen zur Herstellung des gesetzlichen Zustandes eingeleitet worden.)
Die Arbeitsgruppe »Friedensdienst statt Kriegsdienst/Frauen für den Frieden – Frieden für Frauen« stand unter Leitung von Pastorin Misselwitz (Berlin-Pankow).
Im Mittelpunkt der Diskussion standen Probleme bezogen auf »Auswirkungen der Wehrgesetzgebung der DDR auf das Leben der Frauen«. Es wurden Forderungen erhoben, wonach sich Frauen gegen eine mögliche Einberufung zum Wehrdienst wehren24 und auch Männer in diesem Sinne beeinflussen sollten. Des Weiteren wurden Möglichkeiten der praktischen Friedensarbeit diskutiert. So wurde u. a. am Beispiel des Verlaufs bisheriger Abrüstungsverhandlungen abgeleitet, dass wegen der rationalen Denkweise männlicher Politiker bisher »zufriedenstellende« Ergebnisse ausblieben und deshalb mehr als bisher Frauen in politische Entscheidungen einzubeziehen seien.
Die Arbeitsgruppe »Wi(e)der die Verharmlosung des Krieges« leitete die Tierärztin Karin Teichert, Teilnehmerin war Bärbel Bohley. Ausgangspunkt der Diskussion bildeten u. a. Thesen aus Materialien der Pugwash-Konferenz,25 in denen die angebliche Sinnlosigkeit der Arbeit der Zivilverteidigung bei einem eventuellen Einsatz von Kernwaffen nachzuweisen versucht wurde. Die Maßnahmen der Zivilverteidigung liefen angeblich auf eine »Verharmlosung der Atomkriegsgefahr« und die »Täuschung der Zivilbevölkerung« hin, da ein Atomkrieg die »absolute Katastrophe« bedeute, vor der es keinen Schutz gäbe.
Eine dem MfS namentlich bekannte Person äußerte im Verlauf der Diskussion, dass Christen den regierenden Personen (u. a. Reagan26 und Andropow27) ihr Vertrauen entziehen, nicht auf die »staatliche Politik« reagieren, sondern selbst aktiv handeln sollten.
In einer vierten Arbeitsgruppe »Sicherheit ist nirgendwo als im Herzen deines Gegners« wurde unter Leitung von Pastorin Sengespeick zum »Feindbilddenken« polemisiert. Ausgangspunkte bildeten ebenfalls vorgegebene Thesen, wie
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»Man darf keinen Feind haben, sondern nur Gegner«,
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»Die einzige Sicherheit ist im Herzen des Gegners zu finden«.
Es wurde versucht zu begründen, Entspannungs- und Abrüstungsbemühungen seien nur dann ergebnisreich, wenn vom »Gebrauch mit Feindbildern« abgegangen werde und das Konzept der »Sicherheitspartnerschaft« zur Anwendung komme.
Durch die Anwesenheit einer Reihe von Teilnehmern der Gruppe »Fasten für das Leben«28 vom 6. bis 12. August 1983 in der Erlöserkirche an der Veranstaltung in der Auferstehungskirche bildete sich eine in der langfristigen Konzeption nicht vorgesehene fünfte Diskussionsgruppe »Fasten und Beten«. Sie wurde geleitet von den Pfarrern Tschiche sowie Linke und dessen Ehefrau Barbe Maria.
Tschiche berichtete unter Bezugnahme auf einen »vorläufigen Bericht« – wurde an Anwesende verteilt – über die »Fastenaktion« in der Erlöserkirche. (Der Bericht liegt im Wortlaut vor und kann bei Bedarf angefordert werden.)
Er rief dazu auf, Fastenaktionen bis zur diesjährigen »Friedensdekade« vom 6. bis 16. November 1983, die einen gewissen Höhepunkt auch im »Friedensfasten« darstellen solle, fortzusetzen. Seinen Vorstellungen zufolge solle ständig mittwochs von 9.00 bis 17.00 Uhr zuerst in den Berliner Kirchen und später übergreifend in weiteren Kirchen in der gesamten DDR individuell für den Frieden gefastet und darüber hinaus das »Friedensfasten« bis in die »Arbeitsbereiche« hinein ausgedehnt werden. Die daran Beteiligten sollten offen erkennbar auftreten und über ihre Aktivitäten an im »vorläufigen Bericht« angegebene Kontaktadressen berichten.
Ferner wurde über die Bildung einer überbezirklichen »Fastenstafette« diskutiert.
In der Zeit von 18.45 bis gegen 19.30 Uhr erfolgte eine Auswertung der wichtigsten Probleme der geführten Diskussionen in Form einer Podiumsdiskussion. Unter anderem nahmen Tschiche und Bärbel Bohley die Gelegenheit wahr, ihre in den Arbeitsgruppen geäußerten feindlich-negativen und oppositionellen Auffassungen zu wiederholen.
Ferner wurden führende Mitglieder der sogenannten Frauengruppe »Frauen für den Frieden« vorgestellt, die Bildung dieser Gruppe als »erforderlich im Ergebnis der neuen Wehrgesetzgebung der DDR« dargestellt und die Ziele erläutert. Mit Hinweis auf die »bereits hohe Mitgliederzahl« wurden Anfragen nach Mitarbeit abschlägig beantwortet. In diesem Zusammenhang erklärte sich eine dem MfS namentlich bekannte Person bereit, in den Räumen der Kirchengemeinde Alt-Pankow einen weiteren »Frauenfriedenskreis« zu bilden. Etwa 20 Frauen – meist junge Mütter – erklärten ihre Bereitschaft zur Mitarbeit. Ein Mitglied des »Friedenskreises Pankow« sprach die Einladung zur Teilnahme an Veranstaltungen seines »Friedenskreises« zum Thema »Einübung von Formen des gewaltlosen Widerstandes« aus.
Pastorin Sengespeick setzte die Anwesenden in Kenntnis, dass von der »Leitung des Podiums« vorgesehen sei, eine Grußadresse an eine Westberliner Frauenfriedensgruppe29 zu verabschieden, in der gegenseitige Solidarität versichert und in der jede Seite aufgefordert werden soll, in ihrem Land gegen das Aufstellen von Raketen zu wirken.30
Nach der Podiumsdiskussion wurden ca. 30 Bilder, Grafiken und Plakate, u. a. von Bärbel Bohley, versteigert, die pazifistische bzw. negative Aussagen zu Ökologieproblemen enthielten. Darüber hinaus kamen sogenannte Mail-Art-Postkarten31 gleichen Inhalts des Dresdener Grafikers Birger Jesch32 zum Verkauf.
Der Erlös der Versteigerung bzw. des Postkartenverkaufs sei nach Mitteilung der Organisatoren vorrangig für die Unterstützung solcher Familien gedacht, von denen sich Angehörige wegen »Friedensaktivitäten« in Haft befinden.
Der Abschlussgottesdienst wurde von Pastorin Sengespeick abgehalten. Sie erklärte u. a., dass es »politisch erkennbar sein und deshalb genannt werden müsse, dass es im kirchlichen Raum Gruppen gebe, die keine Ängste vor Repressalien haben und bereit seien, für den Frieden aktiv tätig zu sein«. Mit der Veranstaltung »Frauen für den Frieden« wolle man dazu anregen, mehrere derartige Gruppen in der DDR zu bilden.
Weiter forderte sie zu »Fürbitten« auf zur »Verbesserung der Lage politischer Gefangener in der DDR« und zur »Zivilisierung der Regime in Libanon und Chile«, Pastorin Sengespeick verlas während des Gottesdienstes Ausschnitte aus dem Roman »Kassandra«33 von Christa Wolf.34
Eine Westberlinerin erhielt während des Gottesdienstes die Möglichkeit Grüße einer westlichen Frauengruppe (sei angeblich am 17. September 1983 mit einem Friedensmarsch in Genf eingetroffen) zu übermitteln und Forderungen zu formulieren, wie
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Atomwaffenrüstung einfrieren,
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Verzicht auf den Erstschlag,
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keine Mittelstreckenraketen – Europa,35
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Teilnahme von Frauen der Friedensbewegung an den Abrüstungsverhandlungen.
Mit dem Hinweis einer DDR-Bürgerin, dass man sich mit dem Zusatz, die DDR müsse im Falle der Nachrüstung in Westeuropa atomwaffenfrei bleiben, dieser Forderung anschließen könne, erhoben sich fast alle Anwesenden zum Zeichen ihrer Zustimmung.
Im Zusammenhang mit dem sogenannten Gemeindetag »Frauen für den Frieden« hielt sich der Mitarbeiter der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, Dr. Girardet, Georg,36 von ca. 17.00 bis gegen 21.15 Uhr in der Auferstehungskirche auf. Ein Mitarbeiterteam des ZDF der BRD arbeitete vor der Kirche mit Filmkameras und Richtmikrophonen. In der Kirche wurde von diesen Personen nur fotografiert.
Während der Veranstaltung wurden Aufnäher aus Vliesgewebe mit dem Symbolaufdruck »Schwerter zu Pflugscharen«37 sowie Aufnäher aus konfektionierter Leinwand mit dem Aufdruck »Atomwaffenfreie Zone« und dem Symbol »Schwerter zu Pflugscharen« verteilt.
In Auswertung und zur Zurückweisung während des sogenannten Gemeindetages unter der Losung »Frauen für den Frieden« in der Auferstehungskirche festgestellten neuerlichen Missbrauchs religiöser Veranstaltungen für die Formierung oppositioneller, reaktionärer kirchlicher und anderer feindlich-negativer Kräfte und für gegen die DDR gerichtete Handlungen sowie zur Unterbindung insbesondere der Ausweitung geplanter »Fastenaktionen« wird vorgeschlagen, dass der Staatssekretär für Kirchenfragen, Genosse Gysi,38 mit dem Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, Forck39 (Berlin), ein Gespräch führt, in dem dieser nachdrücklich darauf hingewiesen wird, dass erneut staatliche Erwartungshaltungen unterlaufen wurden. Bischof Forck sollte konsequent aufgefordert werden, energischere Maßnahmen zur Unterbindung des politischen Missbrauchs derartiger religiöser Veranstaltungen sowie. zur Disziplinierung der Organisatoren zu führen.
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