Kirchentag Evangelische Landeskirche Anhalt
3. Oktober 1983
Information Nr. 325/83 über den Verlauf des Kirchentages der Evangelischen Landeskirche Anhalt in Wittenberg
Der Kirchentag der Evangelischen Landeskirche Anhalt fand in der Zeit vom 22. bis 25. September 1983 unter dem zentralen Thema »Vertrauen wagen« statt. Er war – im Gegensatz zu den anderen Kirchentagen – als überregional und »DDR-offen« konzipiert.
An den Veranstaltungen beteiligten sich ca. 800 Dauerteilnehmer. Die Hauptversammlung am 25. September 1983 auf dem Wittenberger Markt wurde von rund 8 000 Personen (die Kirchenleitung hatte mit 10 000 Besuchern gerechnet), davon ca. 50 % Jugendliche/Jungerwachsene, besucht.
Für den Kirchentag in Wittenberg erhielten 33 Korrespondenten nichtsozialistischer Staaten und Westberlins vom MfAA die Arbeitserlaubnis. Es wurden insgesamt sechs Mitarbeiter westlicher diplomatischer Vertretungen, darunter der Leiter und zwei Mitarbeiter der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR, festgestellt.
Im Mittelpunkt des Kirchentages stand die Arbeit in den nachfolgend genannten sieben Themengruppen:
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»Über das Verstehen der Bibel«
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»Über den Glauben als Basis unseres Lebens«
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»Über die Freiheit eines Christenmenschen«
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»Über Beichte und Seelsorge«
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»Über gottesdienstliche Gemeinschaft«
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»Über gesellschaftliche Verantwortung«
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»Über die Erneuerung der Kirche und ihre Folgen«
In diesen Themengruppen wurden überwiegend Probleme religiösen Charakters behandelt. Versuche reaktionärer kirchlicher und anderer feindlich-negativer Kräfte, Diskussionen im Sinne eines »totalen Pazifismus« und zu Problemen des Umweltschutzes zu entfalten, wurden durch politisch-positive Kräfte zurückgewiesen.
Am Kirchentag in Wittenberg nahmen 180 ökumenische Gäste, in der Mehrzahl aus nichtsozialistischen Staaten, insbesondere aus der BRD, teil. Hervorzuheben ist die Teilnahme von Dr. Richard von Weizsäcker,1 Regierender Bürgermeister von Westberlin, Dr. Hildegard Hamm-Brücher (BRD),2 ehemalige Staatsministerin, Prof. Dr. Konrad Raiser,3 stellvertretender Generalsekretär, und Dr. Hans-Georg Link,4 Exekutivsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), Helmut Hild,5 Kirchenpräsident der evangelischen Kirche Hessen/Nassau und stellvertretender Vorsitzender des Rates der »Evangelischen Kirchen Deutschlands« (EKD).
Vorliegenden Hinweisen zufolge traten auf dem Kirchentag in Wittenberg besonders die ökumenischen Gäste aus der BRD bzw. aus Westberlin öffentlichkeitswirksam auf. Einzelne Passagen von Reden enthielten offene und unterschwellige Angriffe gegen den Sozialismus. So beschuldigte von Weizsäcker vor Teilnehmern eines Gottesdienstes in der Stadtkirche Wittenberg die UdSSR, dass sie »mit ihren landgestützten Mittelstreckenraketen nichtgerüstete, nichtatomare Länder in Europa, darunter die Bundesrepublik Deutschland«, bedrohe.6 Die Maßnahmen der UdSSR im Zusammenhang mit der USA-Provokation über sowjetischem Hoheitsgebiet bezeichnete er als »schweren Fall bei Sachalin«,7 der noch im 19. Jahrhundert zum Krieg geführt hätte und heute nur durch eine Abschreckung verhindert worden sei, die »wir nun allzu verständlicherweise so fürchten«.8
Besonders augenscheinlich waren die Bestrebungen der Vertreter aus der BRD bzw. aus Westberlin, den »gesamtdeutschen Charakter«, die »Zusammengehörigkeit«, die »Gemeinsamkeiten« der Kirchen beider deutscher Staaten und ihrer Bürger breit zu propagieren.
Beispiele hierfür sind u. a. die Ausführungen von Weizsäckers anlässlich der ökumenischen Grußstunde auf der Hauptversammlung des Kirchentages vor ca. 8 000 Teilnehmern. Er erklärte dort u. a. »Wir sind hüben wie drüben Deutsche, wenn auch in zwei Staaten. Uns verbindet mehr als Sprache, Kultur und die Hoffnung für unsere Gesellschaft.«9 Wiederholt verwies er auf die »Gemeinschaft der Christenheit in Deutschland«. Unter Bezugnahme auf gemeinsame Umweltprobleme und -aktivitäten erklärte er unter großem Beifall der Teilnehmer: »Wir atmen die gleiche Luft, sie macht nicht an Grenzen halt. Sie rein zu halten, ist unser gemeinsames Interesse …«10
Der stellvertretende Vorsitzende der »EKD« und Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche Hessen/Nassau, Hild, brachte auf dem Empfang des Kirchentagspräsidiums für ökumenische Gäste die »tiefe Verbundenheit der evangelischen Kirchen in beiden deutschen Staaten« zum Ausdruck.
Die am Kirchentag anwesenden kirchenleitenden Personen aus der DDR, insbesondere Bischof Forck11 und Kirchenpräsident Natho,12 demonstrierten durch mehrmaliges gemeinsames Auftreten mit kirchlichen Amtsträgern bzw. ökumenischen Gästen aus der BRD bzw. Westberlin und dabei getätigten Äußerungen volle Übereinstimmung mit dieser politischen Grundrichtung. So erklärte Kirchenpräsident Natho während eines ökumenischen Gesprächsforums, dass für die Kirchen »kein Programm zur Wiedervereinigung« notwendig wäre. Sie seien bereits so vereint, »wie wir hier sitzen«. (An dem Forum nahmen u. a. auch ökumenische Gäste aus der BRD teil.)
Generell ist festzustellen, dass das Auftreten der kirchenleitenden Kräfte der DDR in Wittenberg im Wesentlichen bestimmt wurde von den Orientierungen der 3. ordentlichen Tagung der 4. Synode des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) (16. bis 20. September 1983 in Potsdam-Hermannswerder).13
Obwohl ihr Bemühen erkennbar war, keine offen gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung gerichteten Handlungen und Aktionen zuzulassen, zeigten besonders Inhalt und Verlauf einiger Rahmenveranstaltungen des Kirchentages, dass die Veranstalter nicht bereit waren, gegenüber wirksam gewordenen feindlich-negativen Kräften eindeutig Position zu beziehen und ihre Aktivitäten entschieden zurückzuweisen.
Im Zusammenhang mit diesen Rahmenveranstaltungen wurden folgende bedeutsame Feststellungen über Aktivitäten reaktionärer kirchlicher und anderer feindlich-negativer Kräfte getroffen:
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Unter Leitung von Pfarrer Schorlemmer14 wurde am 24. September 1983 auf dem Lutherhof in Wittenberg vor ca. 800 Teilnehmern symbolisch ein Schwert zu einem Pflug umgeschmiedet.15 Während dieses Vorganges sprach Schorlemmer folgende Worte: »Schwerter zu Pflugscharen«, »Raketenhüllen zu Wasserbehältern«, »Kampfhubschrauber zu Rettungshubschraubern«, »Feinde zu Partnern …«16
Diese auf starke emotionale Wirkung, besonders unter den anwesenden Jugendlichen abzielende Aktion, wurde von einem Kamerateam des »epd« gefilmt und in der Sendung »Kontraste« des BRD-Fernsehens am 26. September 1983 breit publiziert.17
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Auf einem »Empfang für junge Leute« am 24. September 1983 in der Christuskirche in Wittenberg (ca. 900 meist jugendliche Teilnehmer) wurden die Anwesenden durch einen namentlich bekannten Mitarbeiter einer kirchlichen Einrichtung zu einer nicht näher bezeichneten Fastenaktion für »beiderseitiges Abrüsten« aufgerufen. Er forderte Interessenten auf, zu ihm Verbindung aufzunehmen.
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Eine namentlich bekannte Theologiestudentin aus Halle sammelte in den Abendstunden des 24. September 1983 auf dem Lutherhof Wittenberg ca. 300 Unterschriften für die Freilassung der sich in Untersuchungshaft befindlichen Eigenfeld, Katrin18 [aus] Halle (inhaftiert wegen staatsfeindlicher Hetze).
Es war beabsichtigt, diesen Brief an mehrere Landeskirchen zu übergeben. Auf Veranlassung der staatlichen Organe wurden die Unterschriftenlisten durch Bischof Dr. Demke19 (Magdeburg) eingezogen.20
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Der sogenannte Friedenskreis »Frauen für den Frieden« aus Hohenthurm,21 [Bezirk] Halle, verfasste eine an die Kirchenleitungen der Kirchenprovinz Sachsen, die Evangelische Landeskirche Anhalts und die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg gerichtete Eingabe.22 Darin werden die Kirchenleitungen aufgefordert, sich für den »Freispruch« Rochaus23 und für die Haftentlassung der Katrin Eigenfeld einzusetzen. (Über diese Aktion wurde auf der abschließenden Pressekonferenz des Kirchentages informiert.)
Darüber hinaus wurde insbesondere auf dem Bischofsforum (ca. 1 400 Personen) und auf zwei Jugendveranstaltungen mit ca. 1 500 Jugendlichen eine Reihe Fragen politisch-negativen Inhalts, teilweise in provokatorischer Form gestellt. Diesbezügliche Fragestellungen bezogen sich insbesondere auf die Haltung der Kirchen in der DDR zu Problemen des Wehrdienstes und der sozialistischen Wehrerziehung unter der Jugend, zur Verurteilung des ehemaligen Jugenddiakons Rochau (Halle) und der Inhaftierung der Eigenfeld, Katrin (Halle), zur Übersiedlung von DDR-Bürgern in die BRD und andere nichtsozialistische Staaten und zur Umweltschutzpolitik der DDR.
Die dabei als Gesprächsleiter fungierenden kirchenleitenden Personen (Bischof Demke, Bischof i. R. Krusche,24 Bischof Forck und Kirchenpräsident Natho) waren einerseits bestrebt, mäßigend auf die Diskussion einzuwirken, vertraten jedoch andererseits die hinreichend bekannten und auf der 3. ordentlichen Tagung der 4. Synode des BEK artikulierten Positionen zu den aufgeworfenen Fragen.25 So forderte Bischof i. R. Krusche die Teilnehmer einer Jugendveranstaltung auf, ihre kritische Haltung zu bewahren, sich jedoch nicht von Abenteurern verleiten zu lassen. Das Verhältnis Kirche zum Staat dürfe weder oppositionell noch kompromissbereit sein. Die Kirche sei eigenständig.
Die auf der gleichen Veranstaltung von Superintendent Jaeger26 (Nordhausen) erhobenen Forderungen, Aktionen zum Umweltschutz zu forcieren und den Einfluss der Christen »in jeder Schulklasse spürbar« zu machen, blieben im Wesentlichen unwidersprochen.
Zwar verwies Bischof i. R. Krusche auf die Einhaltung von Gesetzlichkeit und Verordnungen, betonte aber gleichzeitig, dass man es niemandem verwehren könne, mit dem Fahrrad zum Gottesdienst zu kommen.
Unter Bezugnahme auf Fragestellungen zum Problem der »Übersiedlung« von DDR-Bürgern nach der BRD27 erklärten Bischof Forck und der stellvertretende Vorsitzende der EKD, Hild, übereinstimmend, dass Christen »ihren Platz in der DDR ausfüllen und Ansinnen auf Übersiedlung« zurückstellen sollten.
Angesprochen auf seine Haltung zu der Losung »Frieden schaffen ohne Waffen« betonte Bischof Forck, dass es ihm dabei um den Abbau der Waffenarsenale gehe. Er bedauerte, dass dies »sehr schwierig im Osten und im Westen ist«. Er halte sehr viel von der Friedensbewegung, wie auch die DDR von Friedensbewegungen in anderen Ländern viel hält. Leider gebe es in der Friedensbewegung »zu wenig Raum«.
Nach vorliegenden Hinweisen trat vor allem Bischof Forck auf Veranstaltungen sehr emotional betont auf; offensichtlich in der Absicht, Wirkung unter den Teilnehmern zu erzielen.
Auf der abschließenden Pressekonferenz sowie bei anderweitigen Zusammenkünften mit Vertretern staatlicher Organe würdigten Bischof Demke, die Organisatoren des Kirchentages und ökumenische Gäste die großzügige Unterstützung des Staates für den Kirchentag.
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