Maul- und Klauenseuche 1982
28. Juli 1983
Information Nr. 259/83 über die Aufklärung der Ursachen des Ausbruchs der Maul- und Klauenseuche 1982 in der DDR
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen ergeben sich eine Reihe von Erkenntnissen, die für die Klärung der Ursachen des Ausbruchs der Maul- und Klauenseuche1 (MKS) in Rinderbeständen von sechs Kreisen der Bezirke Rostock (Rügen, Stralsund, Grimmen, Greifswald, Wolgast) und Neubrandenburg (Anklam) im März 1982 wesentlich erscheinen.
Die Ausbruchsorte lagen halbkreisförmig in etwa 20 bis 40 km Entfernung um die Insel Riems (Greifswalder Bodden), auf der sich das Friedrich-Loeffler-Institut für Tierseuchenforschung der DDR (FLI Riems) befindet.
Da die ersten Untersuchungen des Staatlichen Veterinärwesens weder eindeutige Hinweise auf die Herkunft des Erregers noch den Nachweis erbrachten, dass die Seuche vom Erstausbruchsort durch Verschleppung auf die fünf anderen Tierbestände übertragen wurde, leitete das MfS gemeinsam mit Experten umfangreiche Maßnahmen ein, um die Ursachen des MKS-Ausbruchs und sich daraus ergebende Zusammenhänge eindeutig zu klären.
Diese zum Teil langwierigen und aufwendigen Untersuchungen ergaben, dass der Erreger der MKS in der DDR dem Subtyp 01 angehört. Dieser Virustyp mit der Bezeichnung 01-Murchin (Namensbezeichnung entspricht – einer internationalen Gepflogenheit folgend – dem jeweiligen Ort der festgestellten Erstausbruchsstelle) unterscheidet sich seiner biochemischen Struktur nach von dem Erreger, der die zeitgleich in Dänemark (Insel Fünen) ausgebrochene MKS verursachte.
Dadurch wurde zugleich der Nachweis erbracht, dass zwischen den MKS-Ausbrüchen in der DDR und Dänemark kein Zusammenhang besteht.
Weiter konnte erarbeitet werden, dass der in der DDR festgestellte Erreger in seiner Struktur mit dem in der BRD verwendeten Impfstamm-01-Kaufbeuren identisch ist und nicht unterschieden werden kann von einem Versuchsstamm des FLI Riems mit der Bezeichnung 01-Cloppenburg. Dieser letztgenannte Stamm wurde in der Vergangenheit als sogenannter Versuchs- und Probestamm zu wissenschaftlichen Untersuchungszwecken aus der BRD eingeführt.
Weiteren Ergebnissen zufolge wurde im FLI Riems erstmals im Jahre 1981 mit der Produktion von Impfstoff des Typs 01 begonnen, der Ende 1981 und Anfang 1982 getestet wurde.
In diesem Zusammenhang erfolgte Ende Februar 1982 die Schutzimpfung von 150 Schweinen mit den Versuchs-Vakzine-Chargen des Typs 01-Lausanne.
Am 3. und 4. März 1983 wurden diese 150 Versuchstiere mit aktivem Virus sowohl zum Teil des MKS-Typ 01-Lausanne und zum Teil des MKS-Typ 01-Cloppenburg infiziert.
Daraufhin erkrankten alle 150 infizierten Versuchstiere an MKS, entsprechend der Versuchsansetzung zum Teil am MKS-Typ 01-Lausanne, zum Teil am Typ 01-Cloppenburg. (Eine so hohe Anzahl infizierter Schweine ist für das FLI Riems außergewöhnlich.)
Die Inkubationszeit (drei bis sieben Tage) bei der MKS ist gekennzeichnet durch die Abgabe des Virus über die Atemwege, wobei Schweine die höchste Abgabe und Rinder bei Einatmung der virusbelasteten Luft die höchste Infektionsgefährdung aufweisen.
Entgegen internationalen wissenschaftlichen Erkenntnissen, wonach der Erreger der MKS gebunden an Luftfeuchtigkeit übertragen werden kann, besteht im FLI Riems keine Lufthermetisierung der Versuchsställe und des Produktionsbereiches. (International bekannte Institute verfügen über eine solche Einrichtung.)
Ausgehend davon ergibt sich, dass der Test ohne ausreichende seuchenhygienische Sicherheit im FLI Riems (keine Lufthermetisierung der Versuchsställe und des Produktionsbereiches, fehlende Keimfreiheit, fehlender Unterdruck und nicht vorhandene Filteranlagen) durchgeführt worden ist.
(Auf Probleme der veterinärhygienischen Situation im FLI Riems war bereits in der Information des MfS Nr. 23/83 vom 7.1.1983 aufmerksam gemacht worden, u. a. auch auf seuchenhygienische Unsicherheitsfaktoren wie überaltertes, nicht kontrollfähiges Abwassersystem, unzureichende Durchsetzung von Ordnung und Sicherheit innerhalb des Infektionsbereiches und in anderen Arbeitsbereichen des Institutes.)
Aufgrund der geschilderten Situation kann davon ausgegangen werden, dass die 150 Versuchstiere in der Zeit vom 3./4.3.1982 bis zum Abbruch des Versuches am 16./17.3.1982 sowohl über die Atmungsorgane als auch durch Exkremente, die in das instabile Abwassersystem gelangten, den Virus vom Typ 01 ausschieden.
Am 13./14.3.1982 kam es jedoch bereits zu ersten MKS-Ausbrüchen ca. 30 km südöstlich vom FLI Riems in Murchin, [Kreis] Anklam, [Bezirk] Neubrandenburg.
Die nachträgliche Prüfung der im Inkubationszeitraum herrschenden Windverhältnisse ergab, dass ein Zusammenhang mit der geographischen Lage der Ausbruchsorte sowie den Zeitpunkten des Ausbruchs der MKS hergestellt werden kann, da eine zeitliche und örtliche Verteilung vom Südosten (13.3.[1983]) über Westen nach Nordwesten (18.3.[1983]) vom FLI Riems aus gesehen vorlag. Gesicherten Erkenntnissen auch internationaler Experten zufolge traten MKS-Ausbrüche überwiegend in Perioden nasskalter Witterung verbunden mit stärkeren Luftmassenbewegungen in den Übergangsperioden Herbst/Winter (Oktober/November) bzw. Winter/Frühjahr (Februar/März) auf.
Diese Faktoren und Umstände, wie
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erstmalige Produktion von 01-Vakzinen ab 1981 in der DDR,
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konzentrierte Wirksamkeitsprüfung ab 3./4.3.1982,
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festgestellte Unwirksamkeit und daraufhin erfolgte Erkrankung von 150 Schweinen,
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nicht vorhandene Lufthermetisierung,
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Erstfeststellung der MKS im Territorium ca. zehn Tage nach der Versuchsansetzung,
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Windrichtungswechsel im Raum Greifswald vom 5. bis 18.3.1982 entsprechend späterer Erstausbruchsverteilung,
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mittlere Entfernung der Erstausbruchsorte vom FLI Riems zwischen 20 und 40 km,
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die Tatsache, dass die am stärksten gefährdeten großen Rinderbestände zuerst betroffen wurden und die
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durchgeführte Schutzimpfung der Tierbestände mit 02, die nachweislich gegen 01 unwirksam war,
lassen letztlich die Schlussfolgerung zu, dass der MKS-Ausbruch mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die Wirksamkeitsprüfung von 01-Vakzinen im FLI Riems verursacht wurde, wobei die unzureichende veterinärhygienische Absicherung und die konkrete Witterungslage begünstigende Bedingungen darstellten.
Es konnte wissenschaftlich unterlegt werden, dass der Erreger (01-Murchin) der MKS in den Tierbeständen nicht zu unterscheiden ist vom Typ 01-Cloppenburg, mit dem im FLI Riems ein Teil der Tiere infiziert wurde.
Andere mögliche Ursachen konnten im Ergebnis in mehreren Richtungen geführter Untersuchungen nicht festgestellt werden. Die Überprüfung der Einreisetätigkeit aus der BRD und Westberlin in die vorgenannten sechs Kreise erbrachte keine Hinweise, die im Zusammenhang mit dem Ausbruch der Maul- und Klauenseuche stehen könnten.
Geprüfte Hinweise über vermutete MKS-Ausbrüche im Nordwesten der VR Polen im Februar/März 1982 erbrachten lediglich die Bestätigung, dass Anfang März 1982 Verdachtsfälle von MKS auftraten und seitens der VR Polen zum Schutz ihrer Rinderbestände vor der in der DDR ausgebrochenen Seuche Schutzimpfungen gegen MKS Typ 01 durchgeführt wurden. Es kann deshalb ausgeschlossen werden, dass die MKS aus der VR Polen in die DDR eingeschleppt wurde.
Schlussfolgernd aus vorliegenden Erkenntnissen wird es für erforderlich gehalten, dass das Staatliche Veterinärwesen der DDR zur Minimierung der Gefährdung des Tierbestandes in der DDR und im Interesse der Vakzine-Produktion unter den gegenwärtigen Bedingungen geeignete Maßnahmen veranlasst, die gewährleisten, dass im FLI Riems für künftige Versuche höchstens 20 Versuchstiere verwendet werden, die Versuche nur bei bestimmten Witterungsbedingungen und nach ausdrücklicher Genehmigung durch den Leiter des Staatlichen Veterinärmedizinischen Prüfungsinstitutes durchgeführt werden bzw. die Versuchsdurchführung in gesicherten wissenschaftlichen Einrichtungen der sozialistischen Länder geprüft wird. (Maßnahmen wurden über das Staatliche Veterinärwesen der DDR im Zusammenhang mit der Wiederaufnahme der Vakzineproduktion des MKS-Typ 01 bereits eingeleitet.)
Im Interesse der Stabilisierung und Erhöhung der vorbeugenden Sicherung des Tierbestandes in der DDR wird es darüber hinaus für unbedingt notwendig erachtet, den internationalen Entwicklungsstand und -trend in der Vakzine-Produktion intensiv weiter zu verfolgen.
Die erzielten Untersuchungsergebnisse bekräftigen ausdrücklich die Notwendigkeit, die im Beschluss des Sekretariats des ZK der SED vom 24.8.1982 über »Schlussfolgerungen aus dem Maul- und Klauenseuchengeschehen in den Nordbezirken und weitere Maßnahmen zur Verbesserung des Tierseuchenschutzes und der Erhöhung der Tiergesundheit« enthaltenen Festlegungen zur materiell-technischen Vervollkommnung des Tierseuchenschutzes – insbesondere zur räumlichen Konzentration der Arbeit mit aktiven MKS-Virus und zur Ausstattung der entsprechenden Anlagen mit einer Abluftfilterung (Lufthermetisierung) – im FLI Riems schnellstmöglich zu realisieren.2