Pläne und Absichten der Ev. Kirche Friedensdekade
3. November 1983
Information Nr. 377/83 über bisher vorliegende Erkenntnisse zu Plänen und Absichten der evangelischen Kirchen in der DDR im Zusammenhang mit der Durchführung der sogenannten Friedensdekade vom 6. bis 16. November 1983
In der Zeit vom 6. bis 16. November 1983 führen die evangelischen Kirchen in der DDR die seit dem Jahre 1980 vierte sogenannte Friedensdekade, in diesem Jahr unter dem Thema »Frieden schaffen – aus der Kraft der Schwachen«, durch.1
Den Beschluss dazu fasste die Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen (KKL) bereits während ihrer turnusmäßigen Tagung im Januar 1983. Der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) hat für die »Friedensdekade 1983« ein Vorbereitungsmaterial bestätigt – wurde auf der Synodaltagung des BEK im September 1983 erörtert –, das an alle Gliedkirchen herausgegeben wurde. (Dieses Material liegt dem MfS vor und kann bei Bedarf angefordert werden.)
Auf der Grundlage der vom BEK gegebenen Orientierungen nehmen die Aktivitäten zur Vorbereitung der »Friedensdekade 1983« im Bereich der evangelischen Landeskirchen in der DDR einen breiten Raum ein. Sie lassen eine kontinuierliche inhaltliche Fortführung der bisherigen »Friedensdekaden« erkennen, die als »Markenzeichen der kirchlichen Friedensarbeiten der DDR« bezeichnet werden.
Dem MfS zuverlässig vorliegenden Hinweisen zufolge kann eingeschätzt werden, dass die Vorbereitungen zur Durchführung der »Friedensdekade 1983« gegenüber den Vorjahren mit einer höheren Intensität betrieben werden, die inhaltliche Ausrichtung gezielter vorgenommen wird, die Formen bei der Durchführung von Veranstaltungen vielfältiger sind und sich damit dem Wirksamwerden feindlich-negativer Kräfte weitere Möglichkeiten bieten könnten. Es ist damit zu rechnen, dass sich reaktionäre kirchliche und andere feindlich-negative Kräfte sowie weitere konfessionell gebundene, auf pazifistischen Positionen stehende und politisch schwankende Personen während Veranstaltungen zur »Friedensdekade 1983« insbesondere zu den Maßnahmen im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Stationierung von Raketenkomplexen operativ-taktischer Bestimmung auf dem Territorium der DDR öffentlich zu artikulieren versuchen.2
Nicht auszuschließen ist, dass diese Kräfte ihre Standpunkte und Haltungen in Form und im Rahmen sogenannter gewaltfreier Aktionen (provokatorisch-demonstrative öffentlichkeitswirksame Handlungen, Lichterketten, Fastenaktionen usw.) zu äußern beabsichtigen. Eine Reihe wegen ihrer feindlich-negativen Haltung hinlänglich bekannter Personen bereitet sich seit längerer Zeit auf ein derartiges Wirksamwerden in unterschiedlichen Veranstaltungen zur »Friedensdekade 1983« vor.
Zu beachten sind in diesem Zusammenhang gleichfalls die zeitgleichen Abschlussveranstaltungen anlässlich der staatlichen Lutherfeierlichkeiten und die im Rahmen des kirchlichen Lutherjahres in Eisleben und Leipzig3 stattfindenden »Ökumenischen Begegnungstage«.
Nach vorliegenden Erkenntnissen bildet der Bereich der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, bezogen auf die Anzahl geplanter Veranstaltungen und die Möglichkeiten des Wirksamwerdens feindlich-negativer Kräfte, den Schwerpunkt während der »Friedensdekade 1983«.
Im Ergebnis gezielter Aussprachen von zuständigen Mitarbeitern staatlicher Organe mit kirchenleitenden Personen, in denen diese erneut auf ihre Verantwortung zur Einhaltung getroffener Festlegungen zwischen Staat und Kirche hingewiesen wurden, und im Ergebnis von Vorbeugungsgesprächen mit solchen Personen, die in der Vergangenheit im Zusammenhang mit kirchlichen Veranstaltungen feindlich-negativ in Erscheinung getreten sind, kann eingeschätzt werden:
Die Mehrheit der Organisatoren von Veranstaltungen zur »Friedensdekade 1983« ist bemüht, die Orientierungen des BEK einzuhalten, auf ein »stärkeres religiöses Bekenntnis der Christen für den Frieden im Zusammenhang mit der Friedensdekade« hinzuwirken (Bischof Hempel4 auf der Synodaltagung des BEK im September 1983) und keine Provokationen zuzulassen, die das Verhältnis Staat – Kirche belasten würden.
Dem MfS liegen folgende bedeutsamen Hinweise im Zusammenhang mit bzw. zum Missbrauch der »Friedensdekade 1983« vor:
Die Eröffnungsveranstaltung am 6. November 1983 soll erneut in der Erlöserkirche in Potsdam durchgeführt werden. An einem sich anschließenden Podiumsgespräch unter Leitung des hinlänglich bekannten Synodalen Präses Becker5 sollen sich vorwiegend Initiatoren und Organisatoren der »staatlich unabhängigen Friedensbewegung« in der DDR beteiligen; mit einer Teilnahme von Pfarrer Albertz6 (Westberlin) wird gerechnet.
Die Arbeitsgruppe »Frieden stiften« des sogenannten Friedenskreises der Samaritergemeinde7 Berlin-Friedrichshain plant, während der Eröffnungsveranstaltung um 14.00 Uhr vor der Erlöserkirche in Potsdam eine »Protestveranstaltung« durchzuführen.
In diesem Zusammenhang soll ein Schreiben an anwesende leitende kirchliche Amtsträger übergeben werden, in dem diese aufgefordert sind, ein »klares Nein« zu jeglichen Massenvernichtungsmitteln und deren Stationierung zu äußern. Ferner wird darin vorgeschlagen, dass sich alle kirchlichen Einrichtungen in der DDR zu atomwaffenfreien Zonen erklären. (Wortlaut des Briefes siehe Anlage)
An der »Protestveranstaltung« sollen sich Angehörige weiterer kirchlicher »Friedenskreise« beteiligen, denen zu einem späteren Zeitpunkt der genannte Brief übergeben werden soll.
In der Hauptstadt der DDR, Berlin, ist eine Vielzahl von Veranstaltungen geplant, an deren Vorbereitung erneut solche feindlich-negativen Kräfte wesentlich mitwirken, wie Pfarrer Eppelmann8 und Pastorin Misselwitz.9 Hervorzuheben sind:
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Veranstaltungen der Samaritergemeinde Berlin-Friedrichshain
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7. November 1983 Aufführung des Theaterstückes »Die Polizei« durch die Theatergruppe der ESG Berlin
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8. November 1983 Vortrag des hinlänglich bekannten Leiters des kirchlichen Forschungsheimes Wittenberg, Dr. Gensichen,10 zu Umweltproblemen – Thema: »Schleichender Overkill«
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13. November 1983 Lesung des Schriftstellers Rolf Schneider11 mit anschließender Diskussion
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14. November 1983 Vortrag des reaktionären Pfarrers Tschiche12 (Magdeburg) zum Thema »Frieden schaffen durch die Kraft der Schwachen«
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Veranstaltungen der Auferstehungsgemeinde
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9. November 1983 Gesprächsabend »Frauen für den Frieden«13
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11. November 1983 Alternatives Essen und Musizieren
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12. November 1983 Diskussionsabend »Brauchen wir neue Werte«
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13. November 1983 Musik und Lesung junger Autoren
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Kirchengemeinde Alt-Pankow
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11. November 1983 Liederwerkstatt
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13. November 1983 Gemeindenachmittag »Alternativ leben«; Abend der Arbeitsgruppen »Ökologie und Rüstung« sowie »Alternative Lebensformen« des »Friedenskreises Pankow«14
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Darüber hinaus zeichnen sich solche Schwerpunkte ab wie die Diskussionsabende zum Thema »Feindbild« am 11. November 1983 und zum Thema »Bausoldaten«15 am 15. November 1983 in der Gethsemanegemeinde im Stadtbezirk Berlin-Prenzlauer Berg.
Unter maßgeblicher Leitung des hinlänglich bekannten Pfarrers Wonneberger16 soll in der Weinbergskirche in Dresden während der gesamten »Friedensdekade« eine Aktion »Fasten für das Leben«17 durchgeführt werden. Eine Einbeziehung des Schriftstellers Günter de Bruyn18 und der Sängerin Barbara Thalheim19 in diese Aktion ist vorgesehen.
Eine gleichartige Aktion »Fasten für das Leben« plant der wegen seiner feindlich-negativen Haltung bekannte Diakon Wergin20 in der Schelfkirche Schwerin mit überwiegend jungen Bürgern durchzuführen.
Feindlich-negative Kräfte in Rostock, unter ihnen die hinlänglich bekannten Personen Lietz21 und Studentenpfarrer Kleemann,22 beabsichtigen nach vorliegenden Hinweisen am 9. November 1983 eine Gedenkveranstaltung anlässlich des Jahrestages der Kristall-Nacht23 auf dem ehemaligen jüdischen Friedhof durchzuführen und am 11. November 1983 in der Kirche in Warnemünde eine Veranstaltung zu organisieren, in der Frauen zum Widerstand gegen das Wehrdienstgesetz der DDR initiiert werden sollen.
Lietz plant ferner, zum Abschluss der »Friedensdekade 1983« in Rostock einen sogenannten Sternmarsch durchzuführen.
Der hinlänglich bekannte Pfarrer Linke24 aus Neuenhagen, [Kreis] Strausberg, [Bezirk] Frankfurt/O., plant gleichfalls eine Reihe von Veranstaltungen, die zu feindlich-negativen Zwecken missbraucht werden können, so u. a. für den 7. November 1983 ein Podiumsgespräch zum Thema »Gedanken zum Frieden – Was können wir für den Frieden tun« und für den 16. November 1983 eine Lesung mit dem in der BRD lebenden DDR-Schriftsteller Jurek Becker.25
Vom sogenannten Kreisfriedensausschuss der Jungen Gemeinde der Evangelischen Kirche Fürstenwalde ist zum Abschluss der »Friedensdekade« nach Gottesdiensten in zwei Fürstenwalder Kirchen ein gemeinsamer Marsch vom Platz der Jugend zum Ottomar-Geschke-Platz geplant. Am Denkmal von Ottomar Geschke26 sollen Kränze niedergelegt werden, deren Schleifen die Aufschrift »Schwerter zu Pflugscharen«27 tragen sollen. Weiter ist beabsichtigt, während des Marsches brennende Kerzen mitzuführen.
Mitglieder des »Arbeitskreises Frieden« der Evangelischen Studentengemeinde Naumburg, [Bezirk] Halle, planen für den 12. November 1983 in Naumburg die Durchführung eines sogenannten DDR-offenen »Friedensseminars«.
Die Georgengemeinde Halle beabsichtigt, am 8. November 1983 in Halle ein Forum »Ärzte für den Frieden«28 durchzuführen, an dem der Schriftsteller Günter de Bruyn teilnehmen soll.
Im Bereich der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Thüringen (Bezirke Erfurt, Gera und Suhl) konzentrieren sich im Rahmen der »Friedensdekade« die Veranstaltungen auf den 6., 10. und 16. November 1983. Dabei handelt es sich vorwiegend um Friedensgottesdienste und Luther-Ehrungen. Im Rahmen der Luther-Ehrungen sind u. a. Predigten und Vorlesungen in der Erfurter Regler-Kirche mit Propst Dr. Falcke29 (Erfurt), Pfarrer Albertz (Westberlin) und Bischof i. R. Scharf30 (Westberlin) von Bedeutung.
Zu beachten ist eine durch den feindlich-negativen Superintendenten Große31 organisierte ganztägige Veranstaltung am 13. November 1983 in Rudolstadt, die mit einem Podiumsgespräch zur »Friedensverantwortung der Kirche« abschließt.
Am 16. November 1983 beabsichtigt der Arbeitskreis »Erziehung zum Frieden« der Evangelischen Studentengemeinde Magdeburg, während einer »Friedenswerkstatt« eine neue Fassung des sogenannten Kessiner Papiers32 »Abrüstung von unten« zur Diskussion zu stellen. Es besteht die Absicht, sich der von reaktionären kirchlichen Kräften betriebenen sogenannten Initiative »Abrüstung von unten« anzuschließen.
In der Stadt Magdeburg ist vorgesehen, am 16. November 1983 (Bußtag) um 12.00 Uhr eine »Friedensminute« mit Geläut der Kirchenglocken einzulegen (Analoge »Friedensminuten« sind am gleichen Tag in anderen Bezirken der DDR, u. a. auch in Karl-Marx-Stadt, geplant).
Dem MfS ist zuverlässig bekannt, dass sich eine Reihe im Wesentlichen außerhalb der Kirche agierender feindlich-negativer Kräfte an Aktivitäten im Rahmen der »Friedensdekade 1983« beteiligen will. So plant die »Berliner Frauengruppe« um die hinlänglich bekannte Bärbel Bohley an der Eröffnung der »Antikriegsausstellung« am 6. November 1983 um 10.00 Uhr in der Berliner Marienkirche und an einer Veranstaltung am 9. November 1983 in der Auferstehungskirche teilzunehmen. Zum Abschluss der »Friedensdekade« beabsichtigen diese Personen, nach dem Vorbild der Solidarisierungsaktionen für »Solidarność«33 in der VR Polen brennende Kerzen in die Fenster zu stellen; sie bezeichnen diese Aktion mit »Licht für den Frieden«.
Wie weiter zuverlässig bekannt wurde, ist seitens der katholischen Berliner Bischofskonferenz festgelegt worden, dass die katholische Kirche in der DDR sich offiziell nicht an der »Friedensdekade« der evangelischen Kirchen beteiligt. In diesem Zusammenhang wurde jedoch eingeräumt, dass man Einzelpersonen, die Interesse für die »Friedensdekade« zeigen, eine Teilnahme nicht untersagen könnte. (Einzelhinweise über derartige gemeinsame Aktionen auf unterer Kirchenebene liegen vor.)
Durch das MfS sind im Zusammenwirken mit den anderen zuständigen staatlichen Organen umfassende Kontroll- und Sicherungsmaßnahmen eingeleitet worden. Im Mittelpunkt stehen dabei die Schwerpunktveranstaltungen, die Aufklärung der Absichten bekannter feindlich-negativer Kräfte, von denen entsprechende Aktivitäten zu erwarten sind, sowie die vorbeugende Verhinderung derartiger Aktivitäten und Aktionen.
Es wird vorgeschlagen, auf der Grundlage der Beratung des Staatssekretärs für Kirchenfragen, Genossen Gysi,34 mit den Stellvertretern der Vorsitzenden der Räte der Bezirke für Inneres vom 2. November 1983 und in Fortsetzung staatlicherseits geführter Gespräche in allen Bezirken in differenzierter Form die Gespräche mit Vertretern der zuständigen Kirchenleitungen bzw. mit den Organisatoren von öffentlichkeitswirksamen Aktionen/Veranstaltungen zur »Friedensdekade« weiterzuführen.
Nachdrücklich sind alle Versuche, sich in die staatliche Friedens-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik einzumischen, zurückzuweisen und ist darauf aufmerksam zu machen, die Veranstaltungen der »Friedensdekade« weitgehend auf die Räume der Kirche zu beschränken.
Mit Nachdruck ist auf die Verhinderung öffentlichkeitswirksamer Aktivitäten provokatorisch-demonstrativen Charakters durch kirchenleitende Kräfte und die Organisatoren von Veranstaltungen hinzuweisen.
Die Information ist wegen Quellengefährdung nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt.
Anlage zur Information Nr. 377/83
[Brief des Friedenskreises der Samaritergemeinde] an die Konferenz der Kirchenleitung der DDR
Aufgrund der weit vorangeschrittenen weltpolitischen Lage, die sich in einer immer weiter steigenden Form der höchsten Vernichtung, die Bedrohung der Menschheitsgeschichte, abzeichnet, ist es Zeit »Nein« zu sagen. Wir sehen in der jetzigen Zeit als wichtigste Frage eine Verhinderung eines atomaren Infernos, das in jedem Falle die menschliche Schöpfung zu Grunde richten würde. Will die christliche Kirche sich nicht an diesem Untergang mitschuldig machen, so muss sie sich zu diesem »Nein« bekennen. Darum sagen wir als Christen Nein.
Nein zu jeglichen Massenvernichtungswaffen, nein zu Atom- und Neutronenwaffen, nein zu Armeen, in denen diese Waffen vorhanden sind, nein zur Stationierung dieser Waffen. Wir fordern von der Konferenz der Kirchenleitung der DDR, sich ebenfalls, wie wir, zu diesem »Nein« zu bekennen, ohne jegliche Einschränkung. Die Zeit der nicht konkreten Stellungen ist nach unserer Meinung vorbei.
Um dieses Nein auch vor Jedermann sichtbar zu machen, schlagen wir z. B. vor, dass alle kirchlichen Einrichtungen sowie alle Gemeinden der DDR sich zur atomwaffenfreien Zone erklären. Des Weiteren, dass der Dienst mit der Waffe nicht mehr mit dem Glauben vereinbar ist, solange die Absicht besteht, auch in der DDR solche Waffen zu stationieren.