Probleme »Rekonstruktion Grobblechstraße Ilsenburg«
12. Januar 1983
Information Nr. 28/83 zu einigen wesentlichen Problemen bei der Realisierung des Investvorhabens »Rekonstruktion Grobblechstraße Ilsenburg« im VEB Walzwerk Ilsenburg, [Kreis] Wernigerode, [Bezirk] Magdeburg
Nach dem MfS vorliegenden Hinweisen gab es im VEB Walzwerk Ilsenburg, [Kreis] Wernigerode, [Bezirk] Magdeburg, seit der Übernahme der rekonstruierten Grobblechstraße in die Produktion, mit Beginn des Leistungsnachweises am 28.3.1983, insgesamt 23 Störungen und Havarien, die einen Ausfall von über 50 Mio. Mark industrieller Warenproduktion und 43 000 t Blechen zur Folge hatten. Dadurch kam es bei den Abnehmerbetrieben zu erheblichen Versorgungs- und Produktionsausfällen. (Die Anzahl der tatsächlich eingetretenen Störungen und Havarien ist in Wirklichkeit höher, da trotz bestehender Weisung, wonach alle Vorkommnisse an der Anlage meldepflichtig sind, eine ganze Anzahl kleinerer Störungen nicht gemeldet wurde.)
Die Ausfälle treten insbesondere in solchen Schwerpunktbereichen/Aggregaten auf wie
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Versorgungselektrik, einschließlich Blindstromkompensation,
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Antriebselektrik,
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Zusammenspiel Prozessrechner/Walzwerk,
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Naturumlaufkühlung der Stoßöfen,
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Walzenbrüche mit Folgeschäden.
Diese sich häufenden Störungen und Havarien waren Anlass für umfangreiche Untersuchungen durch zentrale wirtschaftsleitende Organe, staatliche Kontrollorgane und das Ministerium für Staatssicherheit zur Klärung der Ursachen, der Umstände und der Verantwortlichkeit für diese Vorkommnisse sowie für die Festlegung entsprechender Stabilisierungsmaßnahmen.
Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt liegen folgende Untersuchungsergebnisse vor:
»Der VEB Walzwerk Ilsenburg, als größter Grobblecherzeuger der DDR, wurde aufgrund des physischen und moralischen Verschleißes der 25 Jahre alten Anlage den erhöhten quantitativen und insbesondere qualitativen Anforderungen nicht mehr gerecht.
Zur Lösung von Versorgungsproblemen der Volkswirtschaft der DDR, insbesondere zur Ablösung bisher notwendiger NSW-Importe und zur langfristigen Sicherung von Grobblechexporten, wurde die Rekonstruktion der Grobblechstraße des VEB Walzwerk Ilsenburg beschlossen.
Mit einem Gesamtinvestitionsaufwand von 1 403,8 Mio. M ist vorgesehen, die Produktion von Blechen von 346 kt im Jahre 1978 auf 429 kt im Jahre 1983 zu erhöhen und gleichzeitig den NSW-Export von 47 kt auf 192 kt zu steigern.
Das Kernstück dieser Investition ist ein von einem Konsortium, bestehend aus den NSW-Firmen VÖEST-Alpine Montan AG/Österreich, Schloemann-Siemag AG/BRD, AEG Telefunken/BRD und Westberlin als Kompensationsobjekt1 geliefertes und installiertes fabrikneues, komplettes, nutzungsfähiges, teilweise prozessgesteuertes Grobblechwalzwerk mit einem Quartoreversierwalzgerüst, einschließlich der erforderlichen Hilfs- und Nebeneinrichtungen« (Vertragstext).
Der Vertragspreis für diese Anlagen beläuft sich auf 450 Mio. VM. Diesen Kredit hat die DDR bis 1990, einschließlich der Zinsen, in Höhe von 730 Mio. VM zurückzuzahlen.
Die Rekonstruktion der Grobblechstraße verlief im Wesentlichen entsprechend den vertraglich fixierten Terminen:
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1.1.1979 Baustelleneröffnung
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12.11.1981 Aufnahme des Probebetriebes
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15.12.1982 Beginn des Leistungsnachweises
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28.3.1982 Übernahme der Anlage ohne Automatisierungssystem
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7.9.1982 Übernahme des Automatisierungssystems
Die Liefer- und Leistungsgarantie läuft am 15.4.1983 aus.
Im Zusammenhang mit den geführten Untersuchungen wurden verschiedene vertragsbedingte Mängel herausgearbeitet. So schätzen z. B. Fachexperten ein, dass der Zeitraum von drei Wochen für die Erarbeitung des Vertrages, in Anbetracht der Größe und des Neuheitscharakters des Objektes, zu kurz gewesen und deshalb eine ganze Anzahl von Problemen unberücksichtigt geblieben sei.
Auch der Probebetriebszeitraum sei zu kurz bemessen gewesen und deshalb für eine reale Einschätzung der Qualität und Leistungsfähigkeit der Anlage nicht geeignet. Er habe nicht den Anforderungen eines Dauerbetriebes unter maximalen Produktionsbedingungen entsprochen.
Durch die dem Konsortium überlassene Auswahl der Nachauftragnehmer kam es zum Einsatz von 76 NSW-Zulieferfirmen. Daraus erwachsen der DDR bereits jetzt und in der Folgezeit erhebliche Probleme bei der Bereitstellung der benötigten Ersatzteile.
Im Verlaufe der Untersuchungen wurden bei ca. 50 % der Vorkommnisse Material-, Fertigungs- und Konstruktionsmängel an den vom Konsortium gelieferten Anlagenteilen als Ursache für Störungen und Havarien an der Anlage nachgewiesen, die auf Kosten des Verkäufers durch Inanspruchnahme der Garantieleistung beseitigt wurden.
Der andere Teil der Ausfälle ist eindeutig auf subjektive Ursachen, die vom Bedienungspersonal des VEB Walzwerk Ilsenburg gesetzt wurden, zurückzuführen.
Die festgestellten Probleme bestehen hierbei im Wesentlichen in der Nichtbeherrschung der Technologie, der Nichteinhaltung von Bedienungsanleitungen, dem ungenügenden fachspezifischen Ausbildungsstand der in der Anlage tätigen Kräfte und dem Fehlen von betrieblichen Weisungen und detaillierten Arbeitsplatzinstruktionen.
Infolge der wechselseitigen Nichteinhaltung von vertraglichen Vereinbarungen kam es im Realisierungszeitraum wiederholt zu Ausgleichsvereinbarungen zwischen Vertretern beider Seiten, in deren Folge Schadensaufrechnungen vorgenommen wurden, um Mehrkostenanforderungen des Konsortiums gegenüber der DDR zu verhindern.
So wurden z. B. mehrere, durch den Betreiber verursachte materielle Schäden an Anlagenteilen durch das Konsortium damit aufgerechnet, indem die DDR als Ausgleich auf den vertraglich festgelegten 5-mm-Blechdicke-Leistungsnachweis verzichtete.
Eine wesentliche Ursache für den nach wie vor instabilen Zustand der Betriebsführung der Grobblechstraße sehen Experten jedoch in der Tatsache, dass im Interesse volkswirtschaftlich notwendiger Importreduzierungen von der DDR-Seite Entscheidungen getroffen wurden, die sich gegenwärtig nachteilig auf den Produktionsprozess auswirken und zu einer hohen Störanfälligkeit beitragen (u. a. Verzicht auf den Mitkauf des Know-hows für das technische Regime und für die Betriebsführung, Vertragswert zehn Mio. VM, Verzicht auf ein Notstromaggregat für die EDV-Anlage).
Seit März 1982 kam es durch den Ausfall von Spannungswandlern (DDR-Erzeugnis) in der 110-kV-Station zu insgesamt 14 Störungen in der Elektroenergieversorgung der EDV-Anlage. Die dadurch eingetretene EDV-Speicherlöschung verursachte bis zur Wiedereingabe der Programme Produktionsstörungen im Umfange von jeweils ein bis zwei Stunden.
Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es nicht gelungen, eine durchgängige Untersetzung der wissenschaftlich-technischen Programme für die Produktionsabläufe, die Optimierung der Anlage, die Ausbildung des Bedienungs-, Wartungs- und Pflegepersonals u. a. zu erreichen. So wurden durch die Vernachlässigung der planmäßigen und vorbeugenden Wartung und Instandhaltung infolge fehlender Arbeitskräfte begünstigende Bedingungen für den Eintritt weiterer Schäden gesetzt.
Der neuralgische Punkt in der Gesamtanlage ist derzeitig die von der AEG gelieferte Prozesssteuerung und -automatik. Die mit sechsmonatiger Verzögerung übergebene Anlage gewährleistet bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht die geforderte Zuverlässigkeit. Hauptprobleme sind dabei die optimale Gestaltung der elektronischen Steuerung und das Zusammenspiel der Einzelanlagen.
Von Spezialisten wird in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass es beim Aufbau derartiger hochautomatisierter Großanlagen international üblich und normal sei, wenn es in der Anlaufphase zu Störungen komme, die allerdings im Garantiezeitraum abzustellen seien.
Durch gezielten Einsatz von Spezialisten konnte herausgearbeitet werden, dass mit den installierten Doppelstoßöfen (Firma Oschatz/BRD) und der Blindstromkompensation der Motorantriebe (Firma AEG/Westberlin) offensichtlich neuartige technologische Konstruktionen in der DDR Anwendung finden sollten. Dem Konsortium ist jedoch durch Gutachten die Unzuverlässigkeit der vorgesehenen konstruktiven Lösungen nachgewiesen worden. Eine entsprechende Korrektur wurde durchgesetzt.
Der bisherige Stand der durchgeführten umfangreichen Prüfungen und Untersuchungen aller Vorkommnisse erbrachte keine Hinweise und Anhaltspunkte auf bewusste Handlungen bzw. gezielte Störungen. Eine strafrechtliche Ahndung in schwerwiegenden Fällen bei festgestelltem subjektivem Fehlverhalten wurde aufgrund der bestehenden Bedingungen und im Interesse der DDR (Inanspruchnahme der Garantieleistungen) nicht vorgenommen.
Zur Auswertung einer durch das Ministerium für Staatssicherheit im Interesse der Stabilisierung der Produktion erarbeiteten komplexen Gefährdungsanalyse wurden Festlegungen zur weitergehenden Aufklärung der Ursachen und begünstigenden Bedingungen für Störungen und Havarien, zur Beseitigung von Störfaktoren, zur Einleitung von Kontrollmaßnahmen, zur Einflussnahme auf die staatlichen und gesellschaftlichen Leitungen getroffen sowie Schlussfolgerungen für die weitere vorbeugende und schadensverhütende Arbeit im Zusammenwirken mit der DVP sowie anderen staatlichen und gesellschaftlichen Organen gezogen.
Es wurde veranlasst, dass vom Minister für Erzbergbau, Metallurgie und Kali zur Stabilisierung der Produktion in der Grobblechstraße Ilsenburg eine Arbeitsgruppe mit erweiterten Aufgaben zur
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Stabilisierung der Leitungstätigkeit,
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Verbesserung der Qualifizierung der eingesetzten Kader,
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Auswahl und zum zweckmäßigen Einsatz von Fachkadern,
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Intensivierung der Betriebsstabilität der einzelnen Anlagen und zur Durchsetzung einer ausreichenden Bevorratung mit Ersatzteilen und Verschleißteilen u. a.
eingesetzt wurde, um die vom Betreiber verursachten Mängel, Hemmnisse und Unregelmäßigkeiten zu beseitigen und die entsprechend der projektierten Parameter geforderte Funktionsfähigkeit der Anlage herzustellen.
Im engen Zusammenwirken mit der Kreisleitung der SED Wernigerode wurde erreicht, dass 60 Arbeitskräfte für den kontinuierlichen Wartungs- und Pflegeprozess der Grobblechstraße zugeführt werden dürfen.
Es wird vorgeschlagen seitens des Ministers für Erzbergbau, Metallurgie und Kali zu sichern, dass die Zusammenarbeit zwischen dem VEB Walzwerk Ilsenburg und dem Außenhandelsbetrieb Industrieanlagen-Import so gestaltet wird, dass die NSW-Partner zur konsequenten Einhaltung vertraglich festgelegter Liefer- und Leistungsverpflichtungen veranlasst und erforderliche Aktivitäten zum Import von benötigten Ersatz- und Verschleißteilen auf der Grundlage der bei Industrieanlagen-Import vorhandenen, bestätigten und finanziell gesicherten Importkonzeption kurzfristig realisiert werden.