Reaktion der Bevölkerung auf das 6. Plenum des ZK der SED
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Erste Hinweise über beachtenswerte Reaktionen der Bevölkerung der DDR auf das 6. Plenum des ZK der SED und auf das Juni-Plenum des ZK der KPdSU [O/117]
Hinweise aus allen Bezirken der DDR lassen erkennen, dass die veröffentlichten Dokumente, vor allem die Reden der Genossen Andropow1 und Tschernenko2 sowie der von Genossen Dohlus3 vorgetragene Bericht an die 6.Tagung des ZK der SED,4 besonders durch Mitglieder der Partei und andere politisch-interessierte Kreise mit starker Beachtung aufgenommen wurden und nach relativ kurzer Zeit in den Mittelpunkt des Interesses breitester Bevölkerungsschichten gerückt sind.
In der Mehrzahl der bekannt gewordenen Diskussionen wird Zustimmung zu den in den veröffentlichten Dokumenten enthaltenen Einschätzungen und Orientierungen geäußert.
Besonders hervorgehoben und gewürdigt wird die konsequente und konstruktive, auf die Erhaltung und Festigung des Friedens gerichtete Außenpolitik beider Parteien und Staaten.
Unter Bezugnahme auf den forcierten Hochrüstungs- und Konfrontationskurs der USA5 und seiner NATO-Verbündeten werden jedoch zunehmend Besorgnis und zum Teil auch Zweifel an der Realisierbarkeit der Abrüstungsvorschläge6 der Staaten des Warschauer Vertrages7 geäußert.
Begrüßt wird die im Bericht des Politbüros an die 6. Tagung des ZK der SED enthaltene prinzipielle Einschätzung des Standes der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD und die daraus erkennbare Bereitschaft der DDR, die Politik der Kontinuität gegenüber der BRD fortzusetzen. Die im Bericht des Politbüros enthaltene Verpflichtung der DDR, im Falle der Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenraketen auf dem Territorium der BRD u. a. westeuropäischer NATO-Länder erforderliche zusätzliche Verteidigungsmaßnahmen durchzuführen, wird als notwendiges Erfordernis bezeichnet. Bürger aus allen Bevölkerungskreisen äußerten jedoch die Befürchtung, dass dies negative Auswirkungen auf den Lebensstandard und das Versorgungsniveau haben werde.
Breiten Raum in Diskussionen unter Mitgliedern der SED, anderen politisch interessierten Personen und in Arbeitskollektiven nimmt der inhaltliche Vergleich zwischen den veröffentlichten Materialien beider ZK-Tagungen ein. Häufig wird dabei der Standpunkt vertreten, das Plenum des ZK der KPdSU fände infolge der präzisen, kritischen Auseinandersetzung mit vorhandenen Schwierigkeiten bei der Bewältigung derzeitiger gesellschaftlicher Entwicklungsprobleme und der Offenheit, mit der diese Hemmnisse öffentlich dargelegt wurden, weitaus größeren Anklang als der Bericht des Politbüros an die 6. Tagung des ZK der SED, in dem im Vergleich dazu die bestehenden Probleme in der DDR nicht so offen angesprochen worden wären.
Hervorgehoben und begrüßt werden insbesondere das realistische Herangehen der KPdSU an die Analyse der Bewusstseinsentwicklung und der innenpolitischen Situation in der Sowjetunion, verbunden mit den Ausführungen zum Informationsgehalt der Rundfunk- und Fernsehsendungen bzw. der offensiven Propaganda, zur Unduldsamkeit gegenüber der Verletzung der Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, zur bewussten Einstellung zur Arbeit und zur Festigung von Disziplin und Ordnung, zur Vorbildrolle der Kommunisten in der Arbeit und im persönlichen Leben; zum moralischen Beispiel/Vorbild der Leiter und zu den Problemen bei der Erziehung der Jugend.
Gleiche Beachtung und positive Wertung finden die auf dem KPdSU-Plenum erhobenen konkreten Forderungen bzw. angekündigten Maßnahmen zur Erschließung von Reserven in der Volkswirtschaft im Interesse der weiteren Hebung des Lebensniveaus der Bevölkerung, zur Einschränkung des Verwaltungsaufwandes, zur Förderung der persönlichen Initiative und der Risikobereitschaft der Kader im Interesse der Förderung/Durchsetzung/Nutzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und zum energischen Kampf gegen Alkoholismus, Diebstahl und Schmarotzertum, Gleichgültigkeit und Schlamperei sowie gegen Fehlverhaltensweisen von Jugendlichen.
Die offene und ernsthafte Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Problemen – so wird argumentiert – dokumentiere den Willen der Führung der KPdSU und des Sowjetstaates, stabil mit gleicher Konsequenz entsprechend zu handeln.
Nach vorliegenden Hinweisen aus allen Bezirken wird insbesondere durch Arbeiter und andere Werktätige in Betrieben unter Hinweis auf die konkrete Situation im jeweiligen Arbeitskollektiv die Meinung vertreten, dass das vom KPdSU-Plenum praktizierte Vorgehen bei der Lösung der Aufgaben, besonders auf dem Gebiet der Volkswirtschaft beispielgebend sei, da viele dort aufgeworfene Probleme auch auf die DDR zuträfen. (Genannt wurden u. a. Probleme in der Volkswirtschaft, Versorgung, Dienstleistungen.)
Daraus wird häufig geschlussfolgert, sich auch in der DDR mit gleicher Offenheit mit solchen analogen Problemen wie Arbeitsbummelei, Kriminalität und Disziplinlosigkeit in Betrieben auseinanderzusetzen.
Darüber hinaus wird von Angestellten und Angehörigen der medizinischen Intelligenz (u. a. in der Hauptstadt der DDR, Berlin) die Auffassung vertreten, dass auch in der DDR die Arbeit der Medien, insbesondere der Presseorgane, verbessert werden müsse.
Die auf der 6. Tagung des ZK der SED dargestellte Bilanz des Erreichten auf dem Gebiet der Volkswirtschaft findet in der Mehrzahl der Diskussionen Zustimmung. Wiederholt wurden jedoch in Arbeitskollektiven Zweifel an der Objektivität der im Bericht des Politbüros enthaltenen Zahlenangaben über den Stand der Planerfüllung zum Ausdruck gebracht, da – so wird behauptet – die »Praxis« im eigenen Betrieb andere Schlüsse zulasse.
Einzelne Aussagen des Plenums, zum Beispiel über die erfolgte zusätzliche Bereitstellung von Konsumgütern, werden von dem gleichen Personenkreis als nicht glaubwürdig genug beurteilt, da sie im Widerspruch zu den Angebotslücken im Handel stünden.
In diesem Zusammenhang wurde insbesondere die Erwartung ausgesprochen, dass sich das Angebot bei industriellen Konsumgütern, Pkw und Ersatzteilen spürbar verbessert.
Politisch schwankende und desinteressierte Kräfte äußerten vereinzelt die Meinung,
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die auf der 6. Tagung gezogene volkswirtschaftliche Bilanz sei »rosarot schöngefärbt« und »zweckoptimistisch«, da sie sich im Widerspruch zur gegenwärtigen Situation in diesem Bereich befinde,8
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es sei an der Zeit, ungeschminkt »Soll und Haben« zu bilanzieren und sogenannte »Hemmschuhe unserer Entwicklung« auf »Arbeiterart« ohne Ansehen der Person mit vollem Namen und Anschrift zu benennen. Es könne nicht so weitergehen, dass unsere Probleme erst von den Westmedien aufgegriffen werden, bevor die DDR darauf öffentlich reagiere.
Reaktionen von feindlich-negativen Kräften auf die ZK-Tagungen liegen nur in Einzelfällen vor. So äußerten sich einzelne dem MfS hinreichend bekannte und unter operativer Kontrolle stehende Personen aus dem Bezirk Halle dahingehend, dass die wirtschaftliche Situation in der DDR immer komplizierter werde. Dieser »Prozess« solle in der Form unterstützt werden, indem arbeitsmäßig nur so viele Leistungen erbracht würden, wie unbedingt notwendig sei. Nach Auffassung dieser Personen käme es zu keinem Krieg; da eine »Lösung innerhalb der DDR erfolgen wird, da die Unruhen in den sozialistischen Ländern ständig an Umfang zunehmen«.
Vorliegenden Hinweisen zufolge kursieren in nahezu allen Bezirken der DDR Gerüchte über eine bevorstehende Senkung des Rentenalters (Männer 63 Jahre, Frauen 57 Jahre). Außerdem müssten berufstätige Rentner ihr Arbeitsrechtsverhältnis lösen.
In diesem Zusammenhang wird behauptet, dass sich die Notwendigkeit der Senkung des Rentenalters aus der Gewährleistung der Vollbeschäftigung aller Bürger im arbeitsfähigen Alter ergebe. In Einzelfällen wurde eine derartige »Entscheidung« bereits auf der 6. Tagung des ZK der SED erwartet.
Häufig wird jedoch spekuliert, dass die Senkung des Rentenalters auf dem XI. Parteitag der SED9 bekannt gemacht werde.