Reaktion der Bevölkerung auf Stationierungsbeschluss, (2. Bericht)
[ohne Datum]
Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung der DDR auf den Stationierungsbeschluss des BRD-Bundestages, auf die Gegenmaßnahmen der Staaten des Warschauer Vertrages und in diesem Zusammenhang getroffene Aussagen auf der 7. Tagung des ZK der SED [O/118b] (2. Bericht)
Der Beschluss des BRD-Bundestages über die Stationierung neuer USA-Mittelstreckenraketen1 sowie die Erklärung des Generalsekretärs des ZK der KPdSU und Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets,2 Genossen Andropow,3 und im Zusammenhang mit der Raketenstationierung getroffene Aussagen im Bericht des Politbüros sowie in den Diskussionen auf der 7. Tagung des ZK der SED4 wurden von allen Bevölkerungsschichten mit außerordentlichem Interesse aufgenommen und nehmen einen dominierenden Platz in den politischen Gesprächen ein.
Die überwiegende Mehrheit der sich äußernden Personen verurteilt entschieden den Stationierungsbeschluss des BRD-Bundestages und verweist darauf, dass sich damit die Bonner Regierung über den Friedenswillen der Mehrheit der Bundesbürger hinweggesetzt und die Forderungen der Friedensbewegung5 im eigenen Land ignoriert habe.
Im Zusammenhang mit der unter allen Teilen der Bevölkerung weiter gewachsenen Erkenntnis, dass die USA und ihre NATO-Verbündeten die Verantwortung für die ständige Verschärfung der internationalen Lage tragen, verbindet die Mehrzahl der DDR-Bürger die Ablehnung des forcierten Hochrüstungs- und Konfrontationskurses der NATO-Staaten mit der Einsicht und dem Verständnis für die beschlossenen Gegenmaßnahmen der Staaten des Warschauer Vertrages.6
Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Haltung führender Wissenschaftler und Leitungskader wissenschaftlicher Institutionen und Einrichtungen, insbesondere aus naturwissenschaftlich-technischen Bereichen, deren Mehrheit entschieden den Stationierungsbeschluss des Bundestages der BRD verurteilt und gleichzeitig die volle Unterstützung für die beschlossenen Gegenmaßnahmen der sozialistischen Staaten zusichert bzw. ihre Bereitschaft bekundete, noch mehr für die Landesverteidigung tun zu wollen. Außerdem stellen sie Überlegungen an, wie ihre internationalen wissenschaftlichen Kontakte noch besser genutzt werden können, um den Partnern in nichtsozialistischen Staaten deren Verantwortung für die Verhinderung eines Krieges bewusster zu machen.
Unter progressiven und politisch engagierten Personenkreisen wird besonders die Erklärung des Genossen Andropow über die Stationierung entsprechender Waffen in Ozeangebieten und Meeren begrüßt, da damit demonstriert werde, dass die USA nicht »ungestraft schalten und walten könnten«.
Derartige Personenkreise haben in diesem Zusammenhang die außenpolitischen Aussagen auf der 7. Tagung des ZK der SED aufmerksam verfolgt und in Diskussionen die völlige Übereinstimmung der Einschätzung der politischen Lage zwischen der UdSSR und der DDR hervorgehoben.
Folgende wesentliche Diskussionsrichtungen sind festzustellen:
Der Genosse Honecker7 habe es in seinem Beitrag hervorragend verstanden, ausgehend von einer gründlichen Analyse der Lage, aufzuzeigen, was getan werden müsse, um den Frieden zu erhalten.8 Dabei hätte besonders die in seiner Rede enthaltene optimistische Aussage über die Möglichkeiten der Verhinderung eines atomaren Krieges beeindruckt. Es zeuge von Weitsicht – so wird argumentiert –, dass trotz des Stationierungsbeschlusses des Bundestages nicht »alle Brücken zur BRD« abgebrochen würden.
Es sei vielen Bürgern der DDR aus dem Herzen gesprochen worden, dass die erforderlichen Gegenmaßnahmen in der DDR »keinen Jubel« ausgelöst haben, aber im Interesse der Verhinderung eines atomaren Infernos unumgänglich seien.
Auf die vom USA-Imperialismus eingeleitete neue Runde des Wettrüstens sei eine eindeutige Antwort gegeben und vor aller Öffentlichkeit sichtbar gemacht worden, dass die sozialistische Staatengemeinschaft trotz der beschlossenen Gegenmaßnahmen nach wie vor für Entspannung und Abrüstung eintritt.
Vereinzelt wurde die Auffassung vertreten, dass Gegenmaßnahmen der sozialistischen Staaten auch auf politischer und diplomatischer Ebene erforderlich seien.
In vielfältigen Diskussionen, besonders in Arbeitskollektiven von Großbetrieben, wurde Genugtuung geäußert, dass die Partei trotz der entstandenen neuen Lage am bewährten Kurs der Hauptaufgabe9 festhält. In diesem Zusammenhang wurden jedoch von Arbeitern, Angestellten und Angehörigen der technischen Intelligenz, häufig unter Bezugnahme auf vorhandene Engpässe in der Bereitstellung von Materialien und Ersatzteilen, Bedenken geäußert, ob dieser Kurs angesichts der zu erwartenden höheren Ausgaben für die Landesverteidigung ohne Abstriche weiter realisiert werden könne.
Dabei wurden häufig Fragen nach dem zu erwartenden Umfang der Verteidigungsausgaben gestellt. Ausgehend von der Feststellung, dass die UdSSR nicht allein die Kosten für zusätzliche Maßnahmen zur Gewährleistung des Schutzes der Staaten der sozialistischen Gemeinschaft tragen könne, wurde die Erwartung ausgesprochen, klare Informationen darüber zu erlangen, welche möglichen Auswirkungen die zusätzlichen Ausgaben für die Landesverteidigung auf den Lebensstandard der Bevölkerung haben werden und welche Maßnahmen zur Erhöhung der Verteidigungskraft erforderlich sind. Ein Umgehen solcher Fragen würde ihrer Auffassung nach zur Verunsicherung der Bevölkerung und zu unnötigen Gerüchten führen.
Obwohl die uneingeschränkte Zustimmung zur Friedenspolitik der UdSSR und der DDR und zu den verkündeten Gegenmaßnahmen die bestimmende Tendenz im Stimmungsbild der Bevölkerung ist, lassen zahlreiche Meinungsäußerungen insbesondere von Frauen aller Altersklassen, älteren Bürgern, Angehörigen der Intelligenz, Studenten, Schülern an POS und EOS und Beschäftigten des Gesundheitswesens zunehmend Besorgnis und Angst vor der Zukunft erkennen.
Das widerspiegelt sich u. a. in solchen Auffassungen, dass es die sozialistischen Staaten und die Friedensbewegung nicht geschafft hätten, die Stationierung von neuen US-Raketen in Westeuropa zu verhindern und deshalb infrage gestellt sei, ob der Sozialismus in der Lage ist und über die notwendigen Mittel verfüge, einen Atomkrieg zu verhindern. Wiederholt wurde der Standpunkt vertreten, dass ein atomarer Weltkrieg unabwendbar sei. Derartige Auffassungen sind außerdem gekennzeichnet durch eine gewisse Ratlosigkeit und Gefühle der Ohnmacht, persönlich nichts gegen die wachsende Kriegsgefahr ausrichten zu können. (Dieses Argument wurde wiederholt von Bürgern genutzt, um damit die Nichtunterzeichnung von Willenserklärungen zugunsten der Gegenmaßnahmen der Staaten des Warschauer Vertrages zu begründen.)
In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass eine beträchtliche Anzahl von Meinungsäußerungen pessimistische Grundaussagen und Erscheinungen der Resignation beinhaltet.
Ausdruck dafür sind solche Argumente, wie:
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Bei aller Beteuerung in Ost und West, weiterhin im Interesse der Erhaltung des Friedens verhandeln zu wollen, könne man vorerst in dieser Hinsicht nicht mit wesentlichen Ergebnissen rechnen. Die Anhäufung eines so umfangreichen nuklearen Waffenpotenzials müsse unweigerlich zum Kriege führen.
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Mit der Stationierung neuer USA-Raketen in der BRD ziehe der Imperialismus die »Daumenschraube« an, um sein Ziel, die Liquidierung des Sozialismus, zu erreichen.
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Die nunmehr aufzubringenden enormen Kosten für zusätzliche Verteidigungsmaßnahmen werden zu neuen Komplikationen in der Volkswirtschaft und zu Unzufriedenheit unter den Bürgern führen. Es sei zwar einerseits richtig, darauf mit höheren Leistungen in den Betrieben zu antworten, andererseits sei aber nicht einzusehen, dass ständig mehr produziert werden solle, wenn sowieso eines Tages alles in »Schutt und Asche« versinke.
Wiederholt werden solche Fragen gestellt, wie »Was kann der kleine Mann denn zur Abwendung der Kriegsgefahr tun? Die beiden Weltkriege hätten doch bewiesen, dass darüber nur die Politiker entscheiden. Welche konkreten Auswirkungen wird die weitere Verschärfung der Lage auf unser weiteres Leben heben? Was wird, wenn ein Irrsinniger auf den ›Knopf drückt‹? Welchen Nutzen haben denn unter Bedingungen des Einsatzes von atomaren Raketen die Übungen der Zivilverteidigung? Sollten die dafür verwendeten Mittel nicht zur Erhöhung des Lebensstandards eingesetzt werden?«
Darüber hinaus liegen Einzelhinweise aus allen Bezirken der DDR vor, dass sich Bürger dahingehend äußern, die Sparguthaben auflösen zu wollen und die ersparten Mittel jetzt zu verbrauchen, nicht mehr so viel arbeiten, sondern nur leben zu wollen, denn »schon morgen könne alles zu Ende sein«.
Weitere Meinungsäußerungen beinhalten, es sei nicht sinnvoll, sich Kinder anzuschaffen, da man diesen keine sichere Zukunft bieten könne und nicht verantwortungslos handeln wolle. (Dieses Argument wird hauptsächlich von jungen Frauen und Mädchen, auch in studentischen Kreisen, gebraucht.)
In zahlreichen Meinungsäußerungen unterschiedlicher Personenkreise, darunter von Angehörigen der wissenschaftlich-technischen, naturwissenschaftlichen und medizinischen Intelligenz, Studenten, Jugendlichen und religiös gebundenen Personen treten neutralistische und pseudopazifistische Grundpositionen zutage. Es werden kritiklos Parolen westlicher Massenmedien übernommen.
Dazu folgende ausgewählte »Argumente«:
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In der DDR werde über die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in der BRD ein »großes Geschrei« gemacht, aber in der DDR sei die Bevölkerung überhaupt nicht gefragt worden, ob sie mit den angekündigten Gegenmaßnahmen einverstanden ist.
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Wenn immer wieder gesagt werde, dass wir für den Frieden seien, dann müsse die DDR das auch beweisen, indem sie keine Raketen auf ihrem Territorium stationiert.
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Bereits mit der Ankündigung der Gegenmaßnahmen hätte die Regierung der DDR »durchblicken« lassen, dass es zu »weiteren Einschränkungen auf allen Gebieten kommen« werde, und letztendlich müsse der »kleine Arbeiter« wieder alles »ausbaden«.
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Ein Land müsse doch einmal den Anfang machen und sich weigern, sein Territorium für die Stationierung von Raketen zur Verfügung zu stellen, ansonsten sei die Rüstung auf beiden Seiten nicht mehr aufzuhalten. Die angestrebte Sicherung des militärischen Gleichgewichts erhöhe die Kriegsgefahr weiter.
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Es widerspreche jeder Vernunft, dass die UdSSR die Verhandlungen in Genf einseitig unterbrochen habe. Sie stehe jetzt in der Weltöffentlichkeit als »Schuldiger« da.
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Es sei notwendig, nicht mehr nur die Reduzierung von Atomwaffen in Westeuropa zu verlangen, sondern es müssten alle Waffen auf beiden Seiten verringert werden (in diesem Zusammenhang wird vereinzelt in der DDR eine »Volksabstimmung« gefordert).
Im Bereich der evangelischen Kirchen der DDR werden die Diskussionen im Zusammenhang mit der Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Westeuropa und den verkündeten Gegenmaßnahmen der Warschauer Vertragsstaaten intensiv fortgesetzt. Tagungen kirchlicher Gremien auf allen Ebenen sowie Zusammenkünfte von kirchlichen Amtsträgern und Mitarbeitern werden genutzt, um Standpunkte auszutauschen und Fragen der »Friedensverantwortung« der Kirchen zu erörtern. Dabei ist festzustellen, dass zahlreiche kirchliche Amtsträger den Raketenbeschluss des BRD-Bundestages ablehnen und die Politik der USA-Regierung verurteilen.
Auf realistischen Grundpositionen stehende Kräfte, darunter auch kirchenleitende Personen, äußern sich positiv über die in der Erklärung des Genossen Andropow und die in der Rede des Genossen Honecker auf der 7. Tagung des ZK geäußerte Bereitschaft, trotz Stationierungsmaßnahmen weiter mit den westlichen Staaten verhandeln zu wollen.
Nach wie vor dominieren jedoch Auffassungen, die Erwartungshaltungen hinsichtlich einseitiger Abrüstungsschritte seitens der UdSSR und der DDR beinhalten bzw. Zweifel an der Notwendigkeit der Stationierung von Raketen in der DDR bis hin zu Unverständnis und Ablehnung der Gegenmaßnahmen ausdrücken.
Diese Tendenzen widerspiegeln sich u. a. in nach wie vor von kirchlichen Amtsträgern, von in der sogenannten kirchlichen Jugendarbeit tätigen Personen bzw. von Mitgliedern sogenannter Friedenskreise inspirierten und organisierten Eingaben an führende Repräsentanten der Partei- und Staatsführung und an Kirchenleitungen.
Beachtenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass reaktionäre kirchliche Kräfte die Diskussionen zur »Friedensverantwortung« der Kirche dahingehend zu beeinflussen versuchen, solche Fragen und Forderungen in den Mittelpunkt zu rücken, die auf
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generelle Nichtteilnahme religiös gebundener Jugendlicher am sozialistischen Wehrunterricht10 und an der vormilitärischen Ausbildung,
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Ablehnung der Zivilverteidigung und des Einsatzes von Frauen im Militärdienst,11
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totale Verweigerung des Wehrdienstes mit und ohne Waffe,
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Nichtbefolgung des Fahneneides bei Einsatz von Massenvernichtungsmitteln
abzielen.
Einzelne kirchliche Amtsträger propagierten offen, dass nunmehr auch in der DDR »die Verweigerung des Wehrdienstes aktiver Friedensdienst« sei.
Studenten der Sektion Theologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena formulierten ihre ablehnende Haltung zu den Gegenmaßnahmen in einem Dokument unter dem Titel »10 Bausteine für den Frieden«.12
Darin bezeichnen sie die Verteidigungswaffen des Sozialismus als »Mordwerkzeuge«. Des Weiteren enthält das Dokument u. a. solche Aussagen, wie:
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»Jede Friedensbewegung, auch die in der DDR, habe gegen die Stationierung von Raketen und in diesem Sinne auch gegen ihre Regierung zu kämpfen.«
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»Abrüstung durch Frieden heißt Vertrauen auch beim Gegner zu finden. Dazu gehört Erziehung zum Frieden und Überwindung von Hass und Feindbildvermittlung.«
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»Völkerfreundschaft bedeutet Begegnung mit Jugendlichen anderer Systeme. Abbau von Feindbildern durch gegenseitige Besuche und Reiseerlaubnis nach der BRD, um dort das Feindbild abzubauen.«
Nach wie vor werden Spekulationen angestellt und Gerüchte verbreitet, denen häufig nicht mit der erforderlichen Konsequenz entgegengewirkt wird. (Hinweise darüber liegen aus allen Bezirken vor.)
Sie beinhalten insbesondere
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angebliche Stationierungsorte von Raketen auf dem Territorium der DDR. Schwerpunkte bilden die Bezirke Schwerin, Neubrandenburg, Dresden, Erfurt und Magdeburg. (Generell zeigt sich dabei die Tendenz, von jeglichen Baumaßnahmen an bzw. in Objekten der NVA und der GSSD auf Zusammenhänge mit der Stationierung von Raketen zu schließen. Beachtenswert ist auch, dass vorgenommene Reduzierungen bzw. zeitweilige Einschränkungen bei Investbauvorhaben in Diskussionen mit Maßnahmen der Landesverteidigung in Zusammenhang gebracht werden. So wird im Bezirk Schwerin unter Bezugnahme auf den verfügten zeitweiligen Baustopp des Autobahnteilabschnittes Wismar – Schwerin spekuliert, dass die dafür notwendigen Baumaterialien für die Errichtung von Raketenbasen benötigt würden.)
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die Verlängerung des Grundwehrdienstes auf zwei Jahre und die verstärkte Einberufung von Reservisten zum Reservistenwehrdienst (wird insbesondere von weiblichen Bürgern und von einzelnen Wehrpflichtigen verbreitet);
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den künftigen Wegfall des arbeitsfreien Sonnabends bzw. Kürzung des Urlaubs;
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umfangreiche Preiserhöhungen bei Waren des Grundbedarfs, Konsumgütern und Kfz.
Vereinzelt treten Gerüchte auf, die DDR müsse die Stationierungskosten für Raketen in Valuta begleichen und der »Milliardenkredit« aus der BRD13 diene ebenfalls der Finanzierung der Raketenstationierung.
In einzelnen Grenzkreisen des Bezirkes Suhl wurden von Einzelpersonen Gerüchte verbreitet, dass
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in nächster Zeit wieder Grenzübergangsstellen zur BRD geschlossen würden,
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Einschränkungen im Postverkehr mit der BRD erfolgen,
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landwirtschaftliche Nutzflächen und Waldgebiete des Bezirkes zu militärischen Sperrgebieten erklärt und damit die Bewegungsfreiheit der Einwohner des Bezirkes und der Urlauber weiter eingeengt würden.
Feindlich-negative Kräfte äußerten sich bisher noch zurückhaltend zu den Maßnahmen der Staaten des Warschauer Vertrages. Diesbezüglich getätigte Meinungsäußerungen Einzelner sind identisch mit entsprechenden Aussagen in Sendungen westlicher Massenmedien.