Reaktion der Bevölkerung auf wissenschaftliche Konferenz, (5. Bericht)
16. April 1983
Hinweise über die Reaktion der Bevölkerung der DDR auf die Internationale Wissenschaftliche Konferenz des Zentralkomitees der SED »Karl Marx und unsere Zeit – der Kampf um Frieden und sozialen Fortschritt« (5. Bericht) [O/115a]
Die Reaktionen auf die Internationale Wissenschaftliche Konferenz1 haben in ihrem Umfang, in ihrer Vielfalt und Konkretheit zugenommen, wobei die bereits in den vorangegangenen Einschätzungen dargestellten Haupttendenzen weiterhin im Vordergrund standen.
Der Konferenzverlauf wird mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, wobei in den überwiegend positiven Meinungsäußerungen unterstrichen wird, dass die Bedeutung weit über eine unmittelbare historische Ehrung hinausgeht.
Besonders die Veröffentlichung der Diskussionsbeiträge im Wortlaut2 wird unter verschiedenen Aspekten gesehen:
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Es werden damit ein hoher Informationswert und großer Wissensgewinn geboten, verbunden mit weltweiten zahlreichen neuen Erkenntnissen und Erfahrungen der antiimperialistischen Bewegung und des Kampfes gegen den Imperialismus und für den Frieden. Erstaunlich sei die Freimütigkeit der Meinungsäußerung.
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Die kritische Stellungnahme zu einer Reihe von revisionistischen bzw. nichtmarxistischen Auffassungen bei zahlreichen DDR-Bürgern zeige, dass die Mehrheit unserer Bevölkerung einen klaren Standpunkt beziehe.
Auf besonderen Widerspruch stießen die Ausführungen des SPD-Vertreters Dr. Bruns.3 Er habe sich zum Verfechter der NATO-Linie gemacht und in seiner Rede nicht einmal den Namen »Marx« erwähnt oder von »Marxismus« gesprochen.4 Diese ablehnende Haltung zu Bruns zeigte sich in den unterschiedlichsten Personenkreisen und Territorien. Vereinzelt stehen neben dieser massiven Kritik an seinem Beitrag Auffassungen, man könne von der SPD als einer dem Opportunismus verfallenen Partei gegenwärtig nicht mehr verlangen; es sei zu begrüßen, dass die SPD überhaupt vertreten sei und dass man sich hier – wie auch von anderen Rednern praktiziert – einer gegenseitigen Polemik weitgehend enthalten habe.
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Gerade das Fehlen einer gegenseitigen Auseinandersetzung auf der Konferenz wird bei einer nicht geringen Anzahl von Reaktionen der Bevölkerung bemängelt. Man erwartet vielfach nach Abschluss der Konferenz weitergehende Parteiinformationen zur Richtigstellung falscher Auffassungen.
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Erstaunen rief die weitgehende Orientierung der Parteien aus den afrikanischen Ländern auf den Marxismus-Leninismus hervor.
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Die Veröffentlichung von umstrittenen Beiträgen in unserer Presse wird als eindeutiges Zeichen der inneren Stabilität der DDR gewertet. Derartige Meinungen werden selbst von negativen und schwankenden Personenkreisen vertreten, wobei vereinzelt daran Erwartungen geknüpft werden, dass die DDR eine derartige »offenere« Informationspolitik weiterführen sollte.
Die Zunahme der Differenziertheit der Reaktionen zeigt sich bei den unterschiedlichsten Personenkategorien:
Die Berichterstattung in den Massenmedien der DDR sei übertrieben, man wolle damit ein »Gegengewicht zum Luther-Jahr«5 schaffen; man hoffe auf eine ähnlich umfassende Berichterstattung auch zu diesem Jubiläum. Die widersprüchlichen Aussagen von Konferenzteilnehmern seien ein »Beweis« dafür, dass der Marxismus doch nicht richtig sei. (Theologen, kirchliche Bevölkerungskreise)
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Da es sich um eine wissenschaftliche Konferenz handle, spreche sie die Nichtwissenschaftler kaum an, das Thema sei »zu hoch«. (Gruppen von Jugendlichen)
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Von einer wissenschaftlichen Konferenz müsse man mehr Wissenschaftlichkeit erwarten. Ein Meinungsstreit wurde aber weitgehend vermieden. (Hochschulen, Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften)
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Die wissenschaftliche Auswertung der umfangreichen Materialien für Lehre und Forschung werde einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen. (Hochschulen, Universitäten)
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Bei ausländischen Studenten in der DDR löste die Konferenz bisher relativ wenig Reaktionen aus. Eine Ausnahme bilden dabei die Ausländer, die als Vertreter ihrer Parteien mit Sondervertrag zum Studium delegiert wurden.
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Das bisherige Stimmungsbild bei Angehörigen der NVA ist differenziert. Vor allem Berufskader zeigen ein wachsendes Interesse, während bei Unteroffizieren auf Zeit und Wehrpflichtigen des Grundwehrdienstes Desinteresse weit verbreitet ist.
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Ein Argument, das in verschiedenen Bezirken auftritt, ist die Gegenüberstellung der Forderungen zur Einsparung von Papier mit der umfangreichen Veröffentlichung von Konferenzmaterialien.
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Ebenso verbreitet und anhaltend sind Fragen nach dem hohen materiellen und organisatorischen Aufwand der Konferenz (ob sich die DDR in ihrer gegenwärtigen ökonomischen Lage »das leisten könne«.)6 Dabei sind Einflüsse westlicher Rundfunk- und Fernsehsendungen feststellbar, z. B. bei Fragen nach einer Finanzierung von Flugreisen der Teilnehmer durch die DDR.
Der Umfang von Reaktionen operativ bearbeiteter Personen hat zugenommen, wobei die zurückhaltende Tendenz noch weiterhin überwiegt. Auch diese Reaktionen sind differenziert:
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Vor allem müsse man die kritischen Beiträge lesen. Bedeutungsvoll seien z. B. einzelne Passagen, in denen die DDR indirekt aufgefordert werde, mehr Verständnis für die Friedensbestrebungen der christlichen Jugend zu zeigen. (Personenkreise mit Zielrichtung politische Untergrundtätigkeit)
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Der »Prager Frühling«7 und der »polnische Weg«8 hätten eine Möglichkeit geboten, den Marxismus weiterzuentwickeln. Der Marxismus habe in der DDR zu Unehrlichkeit, Unterdrückung und Heuchelei geführt. (Kirchliche Jugendkreise, die sich um eine »offene Jugendarbeit«9 bemühen.)
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Für die literarische Arbeit biete die Konferenz keine Impulse. (Nachwuchsschriftsteller)
Andere in feindlich-negativen Gruppierungen konzentrierte Kräfte bekundeten Desinteresse, da zustimmende Aussagen von Diskussionsrednern zur pazifistischen Friedensbewegung ausgeblieben seien. (pazifistisch orientierte Personen, Asoziale)
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Rechtswidrige Übersiedlungsersuchende stellten geplante Aktivitäten, wie z. B. das Aufsuchen der BRD-Vertretung in der DDR-Hauptstadt, wegen des nach ihrer Meinung damit verbundenen zu hohen »Sicherheitsrisikos« zurück.
Die eingesetzten Sicherungskräfte und anderen Einsatzkräfte zeigten weiterhin eine hohe Einsatzbereitschaft.