Reaktion der Bevölkerung zu Gegenmaßnahmen, (1. Bericht)
[ohne Datum]
Erste Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung der DDR zu den von der UdSSR, der DDR und der ČSSR beschlossenen ersten Gegenmaßnahmen auf die Stationierung neuer USA-Raketen in Westeuropa [O/118a] (1. Bericht)
Vorliegenden Hinweisen aus allen Bezirken der DDR zufolge sind die veröffentlichten Mitteilungen der UdSSR, DDR und ČSSR mit außerordentlichem Interesse aufgenommen worden und führten zu lebhaften Meinungsäußerungen.1
Deutlich wird, dass die Maßnahmen zum überwiegenden Teil nicht überraschten, sondern als logische und konsequente Antwort auf den Konfrontationskurs der Reagan2-Administration und die Aufrüstung durch die NATO betrachtet werden.3
Zu erkennen ist, dass große Bevölkerungsteile der DDR in letzter Zeit mit größerem Interesse die internationale Entwicklung und die durch die USA ausgehende Verschärfung der Lage verfolgt haben, wobei offensichtlich auch bei kritisch und loyal eingestellten Personenkreisen der DDR die Massenaktionen der Bevölkerung der BRD und anderer westeuropäischer Länder Eindrücke hinterlassen und Einsichten gefördert haben.4 In vielen Diskussionen werden die USA eindeutig für die Verschärfung der Lage verantwortlich gemacht.
Überwiegend sind in ersten Reaktionen Einsicht, Sachlichkeit und logische Konsequenz zu erkennen. Das findet seinen Ausdruck in folgenden Hauptdiskussionsrichtungen:
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Die sozialistischen Staaten werden durch die Hochrüstungspolitik und die in diesem Zusammenhang praktizierten Schritte der USA und auch der anderen NATO-Staaten zu diesen Maßnahmen gezwungen.
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Es gab seitens des sozialistischen Lagers viele Abrüstungsvorschläge und eine große Bereitschaft zu Kompromissen; das geht nicht endlos so weiter; der Sozialismus ist nicht erpressbar.
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Wenn der Sozialismus eine militärische Überlegenheit der NATO-Staaten zulässt, geben wir unsere Errungenschaften auf.
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Gegenwärtig ist die Erhaltung des Friedens das Wichtigste, dazu müssen konkrete Schritte unternommen werden; ein militärisches Übergewicht der NATO-Staaten darf nicht zugelassen werden.
Aus allen Bezirken der DDR liegen in geringerem Umfang Reaktionen aus unterschiedlichen Personenkreisen vor, die Betroffenheit, Bestürzung und Unsicherheit bis hin zu Äußerungen der Angst, dass es zu einer militärischen Auseinandersetzung kommen könnte, erkennen lassen.
Insbesondere Frauen und ältere Bürger mit Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg befürchten eine unmittelbare Kriegsgefahr.
Hervorgehoben wird, dass
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die bisherigen weltweiten Friedensaktionen noch kein Ergebnis gezeigt hätten,
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es nutzlos wäre, sich in Friedensbewegungen zu engagieren, da die Großmächte sowieso nach eigenem Ermessen handeln würden,
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man geglaubt habe und überzeugt gewesen sei, dass die große Kriegsgefahr durch die gewaltigen Aktionen in den westeuropäischen Ländern zurückgedrängt werden könne,
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die Bevölkerung der DDR durch die Stationierung von Raketenkomplexen genauso gefährdet sei wie die der BRD,
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»Deutschland« wieder zum Mittelpunkt der Vorbereitung eines Krieges werde,
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jetzt eine Situation entstanden sei, in der die reale Gefahr zugenommen habe, dass durch »Zufall« und kleine Zwischenfälle auf politischer Ebene »einer auf den Knopf drücken« könne.
Aus einer Reihe Meinungsäußerungen aller Bevölkerungsteile sind Fragen und Unklarheiten bis hin zu Zweifeln zu erkennen.
Hauptrichtungen sind:
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Sind die getroffenen Maßnahmen lediglich als Verdeutlichung der Nichterpressbarkeit zu verstehen oder müssen unmittelbar ernsthafte Folgen befürchtet werden?
Welche Probleme ergeben sich für die DDR in militärischer und ökonomischer Hinsicht?
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Ist der Zeitpunkt des Beginns der Vorbereitungsarbeiten zur Stationierung richtig gewählt; warum vor Abschluss der Genfer Verhandlungen?
Wird damit die Friedensbewegung in den kapitalistischen Ländern beeinträchtigt und könnte sich diese Bewegung in Zukunft auch gegen die Maßnahmen in sozialistischen Ländern richten?
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Warum stationieren wir so schnell? Überall in der DDR gibt es Proteste gegen die Stationierung in der BRD und Westeuropa; jetzt praktizieren wir dasselbe. Wie vereinbart sich das?
In stärkerem Umfang werden Fragen nach möglichen volkswirtschaftlichen Belastungen, die sich aus diesen Maßnahmen ergeben, gestellt. Es sei abzusehen, dass mit Einschränkungen auf Gebieten wie Handel und Versorgung, Sozialleistungen und Weiterentwicklung des Lebensstandards gerechnet werden müsse. Unter Betonung der Richtigkeit der Maßnahmen wird das Erfordernis größerer Aufwendungen für die Verteidigung erkannt, wobei teilweise Meinungsäußerungen beinhalten, dass dadurch die Realisierung der Hauptaufgabe erschwert werde.
Weitere Fragen und Unklarheiten – insbesondere auch unter jugendlichen Kreisen – sind in größerem Ausmaß in solchen Äußerungen zu erkennen, warum mit den Vorbereitungsmaßnahmen lediglich durch die UdSSR, die DDR und ČSSR begonnen werde, jedoch die VR Polen und die übrigen Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrages5 davon nicht betroffen sind. Insbesondere die VR Polen und die Balkanstaaten seien militärstrategisch wichtige Zonen und es sei unklar, warum sie nicht einbezogen würden.
(In Einzelfällen werden in den »Führungsspitzen« bestehende Uneinigkeiten vermutet, wobei insbesondere auf frühere Positionen der VR Rumänien verwiesen wird.6)
Außerdem werden Fragen dahingehend deutlich, warum trotz früherer Betonung der Reichweiten von Raketen der UdSSR jetzt auch außerhalb der UdSSR stationiert werden soll. Bisher sei die Stationierung ausschließlich auf dem Gebiet der UdSSR als ausreichend angesehen worden.
In allen Bezirken der DDR gibt es nach vorliegenden ersten Hinweisen vereinzelt offene Ablehnung der angekündigten Maßnahmen.
Im Vordergrund derartiger Ablehnungen steht dabei die Sorge um den Ausbruch eines Krieges und die Betonung, dass alles abgelehnt werden müsse, was einer Kriegsvorbereitung diene.
Weiterhin wird betont, dass
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mit diesem Schritt wichtige internationale »Verträge« verletzt würden (Madrid),7
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damit ein positiver Abschluss der Genfer Verhandlungen infrage gestellt sei,
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sich auch die Warschauer Vertragsstaaten »auf Kriegskurs« begeben würden,
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alle bisherigen Friedensappelle der sozialistischen Länder lediglich als Agitation zu betrachten seien, da jetzt das gleiche praktiziert werde wie in den NATO-Staaten.
Ersten Hinweisen zufolge gibt es einen regen Meinungsaustausch über die Maßnahmen unter klerikalen Personen. Zahlreiche Pfarrer und kirchliche Würdenträger unterer und mittlerer Ebenen betonen die logische Konsequenz dieser Maßnahmen und verhalten sich diszipliniert und sachlich.
Einige reaktionäre kirchliche Personen hegen Zweifel, ob es sich tatsächlich um Vorbereitungsmaßnahmen zur Stationierung handelt. Die Bekanntgabe durch die Medien werten diese Personen lediglich als eine Legalisierung bereits durchgeführter Stationierungsmaßnahmen.
In einem Fall forderten feindlich-negative kirchliche Kräfte (Merseburg, [Bezirk] Halle) Mitglieder der »Evangelischen Studentengemeinde« auf einer Veranstaltung am 24. Oktober 1983 auf, nach diesen Maßnahmen noch aktiver in der staatlich »unabhängigen« kirchlichen Friedensbewegung zu wirken, den Dienst in der NVA mit der Waffe zu verweigern, die Ablehnung der Wehrerziehung der Schüler und Studenten aktiv zu unterstützen und zu »persönlichen Opfern« bereit zu sein.
Der hinlänglich bekannte Pfarrer Eppelmann8 äußerte sich überrascht und erschreckt. Er habe Angst. Gleichzeitig aber bezeichnete er die Mitteilung als einen Verstoß gegen die Demokratie, weil die Bevölkerung der DDR nicht nach ihrer Meinung wie bei anderen Gesetzen gefragt wurde. Er setze dieses Vorgehen der DDR-Regierung der Politik der USA-Administration und der BRD gleich.
Vorliegenden Hinweisen zufolge werden erste Spekulationen auf mögliche Stationierungsorte für die vorgesehenen Raketenkomplexe operativ-taktischer Bestimmung angestellt (u. a. Gebiet [Bezirk]).
Übereinstimmend wird insbesondere von Mitgliedern der Partei und Werktätigen das schnelle Reagieren durch die Bezirks- und Kreisleitungen der SED und die klare Argumentation in den sozialistischen Massenmedien begrüßt.
Das biete die Gewähr, den Prozess der politisch-ideologischen Auseinandersetzung um die Fragen der Erhaltung des Friedens und daraus erwachsender Notwendigkeiten gezielt fortzusetzen. Die von den Parteiorganisationen organisierten Meetings und Kurzversammlungen nach Veröffentlichung der beschlossenen Maßnahmen fanden allgemein Zustimmung.