Reaktion der Bevölkerung zu Gegenmaßnahmen, (2. Bericht)
28. Oktober 1983
Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung der DDR zu den von der UdSSR, der DDR und der ČSSR beschlossenen ersten Gegenmaßnahmen auf die Stationierung neuer USA-Raketen in Westeuropa [O/118a] (2. Bericht)
Vorliegenden Hinweisen aus allen Bezirken der DDR zufolge nehmen die am 25. Oktober 1983 veröffentlichten Mitteilungen über die Vorbereitungen zur Stationierung von Raketenkomplexen operativ-taktischer Bestimmungen einen dominierenden Platz in den politischen Gesprächen unter allen Bevölkerungsteilen ein.1
Es zeigt sich, dass diese Maßnahmen in Verbindung mit der Kenntnis der forcierten Aufrüstung der NATO und der unmittelbar bevorstehenden Stationierung neuer Raketen auf dem Territorium der BRD sehr breite Bevölkerungsteile in der DDR äußerst stark bewegen und zu Meinungsäußerungen in individuellen Gesprächen und in den Arbeitskollektiven veranlassen.2
Die überwiegende Anzahl der sich äußernden Bürger stellt sich von der Grundtendenz hinter die von unseren Staaten getroffenen Maßnahmen und erkennt die Notwendigkeit eines solchen Handelns an. Die Maßnahmen werden überwiegend als logische Konsequenz auf die fehlende Verhandlungsbereitschaft der imperialistischen Staaten betrachtet, weil ungeachtet der Genfer Verhandlungen und der zahlreichen auf Abrüstung und Verständigung gerichteten Aktivitäten der sozialistischen Länder, die NATO mit der Stationierung von Pershing II und Marschflugkörpern in Westeuropa beginnt bzw. die Arbeiten planmäßig abschließt.
Grundtendenzen in Meinungsäußerungen sind:
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Die Maßnahmen kommen nicht überraschend; durch die bisherige Entwicklung musste man vorbereitet sein.
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Für jeden ist der Ernst der Lage deutlich geworden; jeder muss sich überlegen, was er persönlich für den Frieden tun kann.
In vielen Betrieben und Arbeitskollektiven wird betont, dass noch größere Anstrengungen zur Erhöhung der ökonomischen Leistungskraft der DDR notwendig sind.
Zahlreiche Kollektive in allen Bezirken der DDR haben während Meetings und in spontanen Zusammenkünften zusätzliche Verpflichtungen zur Erhöhung der Arbeitsergebnisse übernommen.
Von Mitgliedern der SED und fortschrittlichen Bürgern wird wiederholt mit Befriedigung festgestellt, dass Parteileitungen und Leitungen der Massenorganisationen (Gewerkschaften) sofort mit Veröffentlichung der Maßnahmen offensiv die Diskussion darüber einleiteten und von vornherein keine Spekulationen zuließen.
Verbreitet wird Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass es der SU mit den erneuten Vorschlägen doch noch gelingt, den Rüstungswahnsinn der USA zu stoppen.
In diesem Zusammenhang wurden in geringem Maße aber auch Äußerungen bekannt, wonach die Bevölkerung der DDR mit Problemen der Friedensproblematik übersättigt sei und ein Teil der Bevölkerung trotz der zunehmenden Friedensbedrohung überhaupt keine Reaktionen mehr zeige.
Aus der Bevölkerung aller Bezirke der DDR werden in den letzten Tagen durchgängig zunehmend eine größere Anzahl Meinungsäußerungen bekannt, in denen pessimistische und resignierende Haltungen zum Ausdruck kommen. Darin werden, die zukünftige Entwicklung betreffend, zum Teil Unsicherheit bis hin zur Angst deutlich. Das bezieht sich sowohl auf die Entwicklung der unmittelbaren privaten Lebenssphäre als auch auf die weitere gesellschaftliche und ökonomische Entwicklung in der DDR.
Äußerungen und Haltungen dieser Art kommen vornehmlich von Frauen, von Bürgern älterer Jahrgänge und zunehmend von Schülern höherer Klassenstufen sowie von Personen aus kirchlichen Bereichen.
In vielen Meinungsäußerungen wird hervorgehoben, der Frieden sei nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges noch nie so in Gefahr gewesen wie heute. Die NATO beweise durch ihre Aufrüstung, dass sie sich über alle Vorschläge, Aktivitäten und Massenbewegungen für den Frieden hinwegsetze. Es sei nicht abzusehen, dass eine Wende eintrete, und alle Anstrengungen seien nutzlos. Es würden keine Chancen mehr bestehen, die Entwicklung, die zu einer weiteren Konfrontation führt, aufzuhalten; auch die Sowjetunion habe nicht die Kraft und Möglichkeit dazu. Die Periode des Friedens sei begrenzt und jeder müsse »um sein Leben bangen«.
Unter Jugendlichen und Jungerwachsenen gab es (z. B. in Gesprächen über Berufswahl sowie in Zusammenkünften von Kollektiven) Fragen, ob es überhaupt noch eine Perspektive für ihre Generation gäbe.
In mehreren Bezirken kam es in Einzelfällen zu Äußerungen unter Frauen und Mädchen, in denen zunehmende Sorge um das Leben ihrer Kinder zum Ausdruck kam. In wiederholten Fällen werden Ansichten geäußert, aus Angst vor einer unsicheren Zukunft keine Kinder mehr zur Welt bringen zu wollen.
Häufiger treten Argumente auf, wonach die angekündigten Maßnahmen zwangsläufig zu einer Verschärfung der angespannten wirtschaftlichen Lage in der DDR und zu einem Rückgang des Lebensstandards der Bevölkerung führen würden. Unter anderem wirtschaftsleitende und Angehörige der wissenschaftlich-technischen Intelligenz betonen, die DDR habe bereits alle Möglichkeiten zur Erschließung von Reserven auf wirtschaftlichem Gebiet ausgeschöpft, sodass in Durchführung der militärischen Maßnahmen keine Potenziale mehr mobilisiert werden könnten; zwangsläufig hätte das Einschränkungen auf den Gebieten Handel und Versorgung, Sozialleistungen und Wohnungsbau zur Folge. Überlegungen werden z. T. dahingehend angestellt, ob das Ziel der Erfüllung der Hauptaufgabe und des sozialpolitischen Programms der Partei noch real wäre.3
In diesem Zusammenhang wird wiederholt die Meinung vertreten, die USA ziele darauf ab, die sozialistischen Länder »kaputtzurüsten«.
Die große Breite und Differenziertheit der Meinungsäußerungen zu den Maßnahmen findet auch in folgenden Äußerungen seinen Ausdruck:
Der Schriftsteller Stephan Hermlin4 vertrat die Meinung, dass die Friedensbewegung in der BRD auf jeden Fall weitergeführt werden müsse.
Die Schriftstellerin Christa Wolf5 äußerte sich hinsichtlich der Durchführung einer Protestdemonstration im Dezember 1983 in Heilbronn6 dahingehend, dass diese keinen Zweck mehr habe, da zu diesem Zeitpunkt die Raketen auch schon auf dem Boden der DDR stationiert seien.
Unter Angehörigen der NVA und der Grenztruppen der DDR überwiegen eindeutig die Meinungen, die Verständnis und Zustimmung zu den getroffenen Maßnahmen zum Ausdruck bringen. Sie werden als einzig mögliche Antwort der sozialistischen Staatengemeinschaft auf die geplante Stationierung von NATO-Raketen in Westeuropa und zur Wahrung des militärischen Gleichgewichtes gewertet. Für den größten Teil der Angehörigen und Zivilbeschäftigten der Streitkräfte kamen die Ankündigungen sowohl vom Inhalt als auch vom Zeitpunkt her nicht überraschend. Differenzierungen im Stimmungsbild sind bei Soldaten und Unteroffizieren sowie in Zivilbeschäftigtenkreisen zu erkennen.
Einzelmeinungen beinhalten Zweifel an der Notwendigkeit der Gegenmaßnahmen (ausreichender Bestand an Raketenwaffen in der UdSSR selbst, der die Aufstellung von Raketen in der DDR und der ČSSR erübrige; Bedeutungslosigkeit der Existenz von derartigen Waffen in der DDR für den Ausgang eines Kernwaffenkrieges) und pazifistische Auffassungen sowie Angst vor einem bevorstehenden Krieg.
Von Offizieren des Ministeriums für Nationale Verteidigung werden [sic!] die Auslösung verstärkter Aktivitäten kirchlicher Kräfte und pazifistisch orientierter Personen befürchtet.
Dominierende Fragen und Unklarheiten unter der Bevölkerung der DDR im Zusammenhang mit den getroffenen Maßnahmen sind:
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Greifen wir damit in die Genfer Verhandlungen ein und gefährden wir deren Ergebnisse? Geben wir damit das Scheitern der Verhandlungen in Genf zu?
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Verletzen wir internationale Abkommen und welche Auswirkungen hat das?
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Was kann der einzelne noch für den Frieden tun? Reichen Meetings und Erklärungen?
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Warum Stationierung auf dem Territorium der DDR? Reichen die neuen Raketensysteme in der Sowjetunion nicht aus?
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In welchen Gebieten der DDR soll stationiert werden? Wird dafür Nutzfläche verwendet? (Landbevölkerung)
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Wie sollen diese Maßnahmen finanziert werden? Gibt es dazu Veröffentlichungen?
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Welche Verteidigungssysteme gibt es bereits in der DDR?
In allen Bezirken der DDR sind einzelne Beispiele bekannt, in denen die Maßnahmen abgelehnt werden, darunter z. T. offen während Meetings und Kollektivversammlungen. Das findet in einigen Fällen seinen Ausdruck in der Ablehnung von Unterschriftsleistungen zu Willenserklärungen.
Die Motive der Ablehnungen sind als differenziert einzuschätzen, überwiegend jedoch nicht auf feindliche Grundeinstellungen zurückzuführen. Sie resultieren zumeist aus politisch-ideologischen Unklarheiten und der Auffassung, dass generell jegliche Raketenstationierung abgelehnt werden müsse und nur auf dieser Basis der Frieden erhalten würde.
Verstärkt setzt sich die Tendenz lebhafter und z. T. emotional betonter Äußerungen und Diskussionen zu den angekündigten Maßnahmen unter kirchlich gebundenen Personenkreisen fort.
Überwiegend wird hervorgehoben, diese Maßnahmen seien erwartet worden und bedeuteten keine Überraschung. Zu erkennen ist die Tendenz, noch mehr für den Frieden tun zu wollen. Grundsätzlich fehlt es dabei an konkretisierten Vorstellungen und – nach Äußerungen auf unterer und mittlerer kirchlicher Ebene – an zentralen Orientierungen über das »Wie« des Vorgehens. Zum Teil wird erwartet, dass sich kirchenleitende Persönlichkeiten äußern, wobei einzelne Pfarrer und kirchliche Amtsträger »die besondere Verantwortung« der Kirchen der DDR im Friedensengagement betonen.
In Einzelfällen wurden ablehnende Äußerungen und erste »Vorstellungen« feindlich-negativer Kräfte aus dem kirchlichen Bereich bekannt, diese Ablehnung in »Friedensseminaren« und anderen obligatorisch stattfindenden Zusammenkünften zu artikulieren.7 Einzelhinweise beinhalten die Bereitschaft religiös gebundener Bürger zu spontanen Aktionen, falls dazu Auflassungen erfolgen. (Im Gespräch sind Friedensmärsche und »Menschenketten«, Bezirk Neubrandenburg.)
Einige Vorstellungen beinhalten, Kontakte zur Friedensbewegung in Schweden zu forcieren. In einem evangelischen Jugendheim bestehen Vorstellungen, den »Totensonntag« für Friedensbekundungen zu nutzen.
Vereinzelt äußerten Synodale auf Kreisebene, es bestehe die Notwendigkeit, die bevorstehenden Herbstsynoden der evangelischen Kirchen stärker für den Friedenskampf zu nutzen.
Ebenfalls vereinzelt wurde in »Jungen Gemeinden« und »Evangelischen Studentengemeinden« angekündigt, den Dienst mit der Waffe zu verweigern, aus der CDU oder dem FDGB austreten zu wollen.
Meinungsäußerungen von dem MfS als feindlich-negativ bekannten Personen sind als differenziert einzuschätzen, wobei eine Reihe dieser Personen sich auch öffentlich äußert.
Neben Äußerungen des Pessimismus und der Unsicherheit werden die Maßnahmen z. T. zum Anlass genommen, die Friedenspolitik der DDR und der sozialistischen Staaten zu verunglimpfen. Hauptrichtungen der Argumentation sind:
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Jetzt beweisen die UdSSR und die DDR ihr »wahres Gesicht«, alles Vorherige war »Propaganda«.
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In der DDR kann die Bevölkerung nichts gegen die Maßnahmen unternehmen. Es darf keine Aktionen gegen die »Aufrüstung« geben; alles ist von der Partei und propagandistisch gesteuert; es gibt »keine Freiheit«.
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Gegen die Aufstellung von Raketen in der DDR müsste man demonstrieren und auf die Straße gehen (Einzelmeinungen).
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Tatsächlich seien bereits Raketensysteme in der DDR stationiert; mit der Veröffentlichung der Maßnahmen solle dies legalisiert werden.
Vorliegenden Hinweisen zufolge versuchen feindlich-negative und auf pazifistischen Positionen stehende Personen, ihre Meinung zu den beschlossenen Maßnahmen öffentlichkeitswirksam zu äußern in Form
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des Anbringens von Losungen und Aufklebern ([Bezirk] – »Keine Raketen in der DDR«; – »Russen raus, Atomraketen SS-20 – weg damit«).
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der Vorbereitung einer nichtgenehmigten Unterschriftensammlung ([Bezirk] – »Verhindert ein atomares Inferno – mit meiner Unterschrift bekunde ich mein entschiedenes Nein gegen sowjetische und amerikanische Raketen auf deutschem Boden«).
des Mitführens eines selbstgefertigten Plakates im Privat-Pkw ([Bezirk] – »Ich protestiere gegen die Stationierung amerikanischer und sowjetischer Atomraketen auf dem Territorium der BRD und der DDR«).