Reaktion der Bevölkerung zu Gegenmaßnahmen, (3. Bericht)
14. November 1983
Hinweise zur Reaktion der Bevölkerung der DDR zu den von der UdSSR, der DDR und der ČSSR beschlossenen ersten Gegenmaßnahmen auf die Stationierung neuer USA-Raketen in Westeuropa [O/118a] (3. Bericht)
Die veröffentlichten Mitteilungen der UdSSR, DDR und ČSSR sind auch weiterhin Gegenstand intensiver Diskussion unter allen Bevölkerungskreisen.1
Grundtendenz im Stimmungsbild ist dabei nach wie vor, Vertrauen in die abgestimmte Außen- und Verteidigungspolitik der DDR, Zustimmung und Einsicht in die Notwendigkeit der angekündigten Gegenmaßnahmen und die erklärte Bereitschaft, hohe ökonomische Leistungen zu erbringen. In zahlreichen Äußerungen, darunter auch von Personen, die sich bisher politischen Fragen gegenüber desinteressiert bzw. gleichgültig verhielten, wird unter Bezugnahme auf die Aggression in Grenada2 hervorgehoben, erst jetzt in vollem Maße den Ernst der Lage erkannt zu haben. Dennoch wächst unter diesen Personenkreisen mit dem Näherrücken des Stationierungstermins von US-Raketen in Westeuropa die Besorgnis, dass die dadurch entstandene akute Kriegsgefahr von niemandem mehr aufgehalten werden könne. Teilweise wird die Hoffnung geäußert, dass die Genfer Verhandlungen3 »in letzter Minute« noch positive Resultate bringen bzw. die westeuropäischen NATO-Partner ihre Haltung zur Raketenstationierung auf ihrem Territorium korrigieren.
Erheblich zugenommen haben Diskussionen, in denen Befürchtungen über zunehmende Schwierigkeiten in der Volkswirtschaft geäußert und daraus Schlüsse für ein Absinken des Lebensstandards gezogen werden. So äußerten sich Mitarbeiter zentraler und wirtschaftsleitender Organe besorgt darüber, wie die im Interesse der Stärkung der Landesverteidigung zu erwartenden erheblichen Belastungen der Volkswirtschaft mit den Aufgaben zur weiteren Durchsetzung der Wirtschafts- und Sozialpolitik noch in Übereinstimmung gebracht werden können.
Meinungen derartiger Personenkreise sind jedoch in der Mehrzahl von der Grundhaltung bestimmt, noch weitergehende Überlegungen zur Erfüllung der ökonomischen Aufgaben anzustellen und daraus entsprechende Maßnahmen abzuleiten.
Nach vorliegenden Hinweisen aus allen Bezirken der DDR nehmen in Diskussionen in Arbeitskollektiven sowie in individuellen Gesprächen von Angehörigen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz u. a. Personenkreisen aber auch Tendenzen der Resignation und des Zweifelns bezüglich einer kontinuierlichen Fortsetzung der Politik der Hauptaufgabe zu.4
Das widerspiegelt sich u. a. in
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Zweifeln an der Fähigkeit der Staaten der sozialistischen Gemeinschaft, die entstehenden ökonomischen Belastungen »auf die Dauer durchhalten« zu können;
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Spekulationen über Kürzungen im Staatshaushalt für sozialpolitische Maßnahmen und Einschränkungen im Wohnungsbauprogramm;
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Befürchtungen hinsichtlich eines drastischen Absinkens des Versorgungsniveaus der Bevölkerung und Preiserhöhungen bei Industriewaren, Grundnahrungsmitteln und Tarifen.
Vereinzelt werden bereits Gerüchte über Preiserhöhungen ab Januar 1984 verbreitet.
Eine Reihe von Meinungsäußerungen, darunter von Angehörigen der medizinischen Intelligenz, Studenten, religiös gebundenen Personen, lassen erkennen, dass das Grundanliegen der Friedens-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der DDR von ihnen noch nicht erkannt und verstanden wird.
Kennzeichnend hierfür sind folgende Aussagen:
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Es bestehe ein krasser Widerspruch in der Haltung führender Repräsentanten der DDR, einerseits vorbehaltlos die Initiative Schwedens zu unterstützen5 und andererseits die Stationierung von Raketen in der DDR zuzulassen.
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Der Zeitpunkt der angekündigten Maßnahmen sei zu früh gewählt. Das beeinträchtige den Verlauf der Genfer Verhandlungen und bestärke die Haltung der NATO.
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Mit den angekündigten Maßnahmen sei man der westeuropäischen Friedensbewegung »in den Rücken gefallen«.
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Die Maßnahmen der sozialistischen Staaten verstärken nicht die Sicherheit in Europa, sondern erhöhen das atomare Risiko.
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Die »Deutschen in Ost und West« zahlen wieder für die Politik der Großmächte. Der »kleine Mann müsse ohnmächtig zusehen und zahlen«.
Im Zusammenhang mit derartigen Diskussionen werden teilweise auch pessimistische Aussagen getroffen, die eine gewisse Ausweglosigkeit hinsichtlich des Weiteren Fortgangs der Entwicklung erkennen lassen. Das zeigt sich u. a. darin, dass der Kampf der Völker um die Beendigung des Wettrüstens als »chancenlos« bezeichnet und in Einzelfällen der Ausbruch eines Atomkrieges als »unausweichlich« angesehen werden. Charakteristisch hierfür sind die internen Äußerungen eines namentlich bekannten leitenden Arztes aus dem Krankenhaus Berlin-Friedrichshain.
Er brachte unter Hinweis auf die USA-Aggression in Grenada und die Vorgänge im Libanon6 sowie auf den »durch nichts aufzuhaltenden minutiösen Fortgang« der Stationierung von US-Raketen in der BRD seine Besorgnis vor der Zukunft zum Ausdruck und erklärte, dass er »diese Angst mit der Mehrheit des Arzt- und Schwesternpersonals des Krankenhauses teile«. In zahlreichen persönlichen Gesprächen habe er den Eindruck gewonnen, dass »die Furcht unter den Menschen groß sei, dass ein Krieg immer näher rücke, unaufhaltsam, durch nichts und niemanden aufzuhalten.«
Auch weiterhin werden zahlreiche Fragen im Zusammenhang mit den angekündigten Maßnahmen, insbesondere von Jugendlichen gestellt:
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Warum werden nur in der DDR und der ČSSR, nicht aber in anderen sozialistischen Staaten operativ-taktische Raketen aufgestellt? Wer bedient diese neuen Waffensysteme?
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Wird der Grundwehrdienst verlängert? (Erwartet wird eine Verlängerung auf zwei Jahre) Kommt es zu verstärkten Einberufungen von Reservisten? (Fragestellungen insbesondere von Angehörigen der NVA)
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Werden künftig Erholungs- und Urlaubsgebiete in der DDR und ČSSR gesperrt?
Personen mit intensiven Kontakten/Verbindungen in die BRD bzw. nach Westberlin befürchten nach Abschluss der Stationierung von US-Raketen in der BRD und als Folge einer daraus resultierenden Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen wesentliche Einschränkungen im wechselseitigen Reise- und Besucherverkehr.
Aus zahlreichen Bezirken der DDR liegen Hinweise vor, dass nach wie vor von Einzelpersonen Spekulationen über mögliche Standorte operativ-taktischen Raketen angestellt und Gerüchte verbreitet werden. (In diesem Zusammenhang ist beachtenswert, dass im Nachtprogramm der ARD am 13.11.1983 unter Berufung auf eine Veröffentlichung in der BRD-Zeitung »Welt am Sonntag«7 über angebliche Stationierungsorte von sowjetischen SS-21 Raketen in der DDR berichtet wurde. Genannt werden Neuruppin, [Bezirk] Potsdam, Jena, [Bezirk] Gera, Zeithain und Königsbrück, [Bezirk] Dresden, Rosslau und Zeitz, [Bezirk] Halle, Ohrdruf, [Bezirk] Erfurt, Perleberg, [Bezirk] Schwerin).
Unter kirchlichen Amtsträgern und religiös gebundenen Personen setzt sich der Differenzierungsprozess bezüglich ihrer Standpunkte und Haltungen zu den angekündigten Maßnahmen fort. Zahlreiche kirchliche Amtsträger, Synodale und haupt- und ehrenamtlich tätige kirchliche Mitarbeiter mit einer realistischen Grundposition äußern zwar Besorgnis, lassen jedoch Einsicht in die Notwendigkeit dieser Maßnahmen erkennen und nehmen dazu auch öffentlich Stellung.
Eine beträchtliche Anzahl kirchlicher Amtsträger bringt jedoch unter Berufung auf ihr »christliches Friedenszeugnis« Unverständnis und Ablehnung zum Ausdruck. Sie sprechen sich für Nichtstationierung von Raketen in Ost und West aus, äußern z. T. die Erwartung, dass die UdSSR und die DDR »Zeichen setze« und mit einseitigen Abrüstungsmaßnahmen beginnt. Wiederholt werden derartige Meinungen mit der Ankündigung verknüpft, in diesem Sinne noch intensiver in den Kirchengemeinden tätig werden zu wollen. Darüber hinaus halten sich noch zahlreiche kirchliche Amtsträger und Mitarbeiter mit diesbezüglichen Meinungsäußerungen zurück und fordern ein »klärendes Wort« ihrer Kirchenleitung.
Dem MfS hinlänglich bekannte reaktionäre kirchliche Kräfte, insbesondere im Rahmen der sogenannten kirchlichen Jugendarbeit tätige Personen, äußern teils indirekt, teils offen ihre Ablehnung und beeinflussen dahingehend ihren Umgangskreis. In Einzelfällen äußerten Pfarrer die Absicht, zielgerichtete Befragungen durchführen zu wollen, um Resultate derartiger Meinungsfragen »auswerten« zu können.
Nach vorliegenden Hinweisen aus der Mehrzahl der Bezirke der DDR unternehmen solche Kräfte zunehmende Aktivitäten, um ihre ablehnende Haltung demonstrativ zu bekunden und ihr den Anschein einer gewissen Breitenwirkung zu verleihen. Sie missbrauchen besonders eine Reihe der im Rahmen der »Friedensdekade 1983«8 stattfindenden kirchlichen Veranstaltungen dergestalt, dass
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Petitionen gegen die angekündigten Maßnahmen verfasst, dazu Unterschriften gesammelt und diese an führende Repräsentanten der DDR, an Partei- und Staatsorgane im Territorium bzw. an Kirchenleitungen versandt werden,
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provokativ-demonstrative Aktionen im Sinne eines sogenannten gewaltfreien Widerstandes geplant und vorbereitet wurden,
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zunehmend Aufforderungen zur Verweigerung des Wehrdienstes mit der Waffe u. Ä. ergingen.
In Einzelfällen wurden und werden Überlegungen angestellt, die Durchführung einer »Volksbefragung« zu fordern und diese »Idee« öffentlichkeitswirksam zu propagieren.