Ungesetzlicher Grenzübertritt mit S-Bahn nach versuchter Geiselnahme
28. Mai 1983
Information Nr. 196/83 über einen verhinderten gewaltsamen ungesetzlichen Grenzübertritt durch einen Bürger der DDR mit einem S-Bahnzug der Deutschen Reichsbahn nach versuchter Geiselnahme der Triebwagenfahrerin im Bereich des S-Bahnhofes Berlin-Friedrichstraße am 27. Mai 1983
Am 27. Mai 1983, gegen 18.24 Uhr unternahm der Bürger der DDR [Name 1, Vorname] (24), geb. am [Tag, Monat] 1958, wohnhaft Berlin-Prenzlauer Berg, [Straße, Nr.], Beifahrer eines Müllsammelfahrzeuges des VEB Stadtwirtschaft Berlin, mehrfach vorbestraft (Diebstahl, Rowdytum, Verkehrsgefährdung durch Trunkenheit) rechtswidrig Übersiedlungsersuchender, unter Androhung von Waffengewalt (Luftgewehr, Kaliber 4,5 mm mit Diopter), auf dem Gelände des S-Bahnhofes Berlin-Friedrichstraße den Versuch, durch Geiselnahme der Triebwagenfahrerin einen aus Richtung Mahlsdorf in Richtung Friedrichstraße fahrenden S-Bahnzug in seinen Besitz zu bringen und die Fahrerin zu veranlassen, mit dem S-Bahnzug nach Westberlin zu fahren.
Der S-Bahnzug, der zwischenzeitlich ein auf »Halt« stehendes Signal überfahren hatte, wodurch automatisch die Vollbremsung eingeleitet wurde, kam unmittelbar hinter dem Bahnsteig des Bahnhofes Friedrichstraße zum Stehen.
Durch schnelles und umsichtiges Handeln von Angehörigen der Passkontrolleinheit der Grenzübergangsstelle Bahnhof Friedrichstraße konnte [Name 1] überwältigt und festgenommen werden.
Die bisher geführten Untersuchungen ergaben, dass der aus der 8. Klasse der POS entlassene und in der Folgezeit als Hilfsarbeiter tätige [Name 1] aufgrund seiner ablehnenden Einstellung zur sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR seit mehreren Jahren beabsichtigt, die DDR ungesetzlich nach Westberlin zu verlassen.
Am 27. Mai 1983 hatte er nach dem Genuss von Alkohol den Entschluss gefasst, unter Nutzung des sich in seinem Besitz befindlichen Luftgewehres den Fahrer eines in Richtung Friedrichstraße fahrenden S-Bahnzuges als Geisel zu nehmen und nach Androhung von Gewalt zu zwingen, die S-Bahn, auf Westberliner Gebiet zu fahren.
Nachdem er vom »Telecafé« des Fernsehturmes aus die Gleisführung und die örtlichen Verhältnisse des S-Bahnhofes Friedrichstraße erkundet hatte, fuhr er mit der S-Bahn zum Bahnhof Marx-Engels-Platz.1 Nach kurzem Aufenthalt bestieg er den ersten Wagen einer in Richtung Bahnhof Friedrichstraße fahrenden S-Bahn und öffnete die Tür zur Fahrerkabine. Im Abteil befanden sich keine Personen.
Er entfernte die Tragetasche des Luftgewehres, die er vorher bereits geladen (Diabolo) und gesichert hatte. Nach Einfahren in das Gelände des Bahnhofes Friedrichstraße bedrohte er die Fahrerin des S-Bahnzuges, [Name 2, Vorname] (21), mit vorgehaltener Waffe und forderte sie auf, den S-Bahnzug nicht abzubremsen und nach Westberlin zu fahren. Die Triebwagenfahrerin hob die Arme hoch, hatte jedoch vorher bereits die Bremsung des Zuges eingeleitet. Nach Überfahren eines auf »Halt« stehenden Signales setzte die Vollbremsung des Zuges automatisch ein. Der Zug kam mit einer Länge von drei S-Bahnwagen hinter dem Bahnsteig zum Stehen.
[Name 1] forderte die Fahrerin auf, den Zug wieder anzufahren und drohte ihr erneut, sie zu erschießen. Als sie ihm erwiderte, dass der Fahrstrom abgeschaltet sei, versuchte er durch Drehen verschiedener Regler erfolglos, den Zug allein in Bewegung zu setzen, um sein Vorhaben zu vollenden.
Dem Täter war nicht bekannt, dass dieses S-Bahngleis nicht mit dem nach Westberlin führenden Gleis verbunden ist.
Bei einer Weiterfahrt des S-Bahnzuges wäre er auf einen Prellbock aufgefahren.
Zwischenzeitlich war es drei durch Grenzposten der Grenztruppen der DDR alarmierten Angehörigen der Passkontrolleinheit der Grenzübergangsstelle Bahnhof Friedrichstraße gelungen, zur Fahrerkabine vorzudringen. Sie wurden durch [Name 1] gleichfalls mit vorgehaltenem Gewehr bedroht. Nach Anwendung der Schusswaffe auf die Frontscheibe des Triebwagens sowie von der Seite auf [Name 1] wurde er unter Anwendung körperlicher Gewalt unverletzt festgenommen.
Die Fahrerin wurde durch Splittereinwirkung am Auge verletzt und anschließend sofort in der Charité Berlin medizinisch betreut.
Durch Reisende auf dem Bahnsteig des S-Bahnhofes Friedrichstraße und durch Einwohner des dem S-Bahnhof gegenüberliegenden Wohnblockes konnten die Handlungen der Angehörigen der Passkontrolleinheit und die Festnahme des [Name 1] beobachtet werden.
Der S-Bahnverkehr auf dem teilweise blockierten Gleis war gegen 19.00 Uhr wieder in voller Zuglänge möglich.
Gegen [Name 1] wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und Haftbefehl erlassen.
Die Untersuchungen werden fortgeführt.