Verlauf der »Friedensdekade«
23. November 1983
Information Nr. 406/83 über den Verlauf der »Friedensdekade 1983« der evangelischen Kirchen in der DDR (6. bis 16. November 1983)
Dem MfS vorliegenden Hinweisen zufolge nahmen die Aktivitäten aller evangelischen Landeskirchen in der DDR zur diesjährigen »Friedensdekade«,1 die unter dem Thema »Frieden schaffen aus der Kraft der Schwachen« stattfand, in der kirchlichen Arbeit wiederum einen relativ breiten Raum ein.
Die Anzahl von Teilnehmern aus nichtsozialistischen Staaten zur »Friedensdekade 1983« war, wie schon 1982, relativ gering. Unter den Gästen, die mehrfach in verschiedenen Orten auftraten, befanden sich
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Pfarrer i. R. Heinrich Albertz, Westberlin,2
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Pfarrer Yerkes, USA,3 Beauftragter des Nationalen Kirchenrates der USA für Kontakte zu den Kirchen in der DDR,
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Prof. Walter Jens,4 Universität Tübingen/BRD,
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Frau Dr. Moltmann,5 Universität Tübingen/BRD,
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Wolfgang Brinkel,6 Geschäftsführer der »Aktion Sühnezeichen Friedensdienste« in der BRD,
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Adrianus Burghoorn,7 Vizepräsident der holländischen Kirche, Delft,
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Puccio,8 ehemaliger persönlicher Mitarbeiter von Präsident Allende,9 Chile.
Von ihnen gingen keine Angriffe gegen die DDR aus.
Die Teilnahme von Vertretern westlicher Massenmedien konzentrierte sich auf solche Veranstaltungen, die im Sinne des politischen Missbrauchs angelegt waren bzw. einen solchen erwarten ließen.
Diejenigen Gottesdienste, die in die üblichen kirchlichen Veranstaltungen zur »Friedensdekade« eingeordnet waren – das galt für die Mehrzahl der Kirchengemeinden – wiesen überwiegend die sonst üblichen Besucherzahlen aus. Die Teilnehmer waren vorwiegend religiös gebundene Personen.
Dagegen fanden speziell zur »Friedensdekade« organisierte Zusammenkünfte, zentrale Gottesdienste sowie die von leitenden kirchlichen Amtsträgern gehaltenen Gottesdienste eine relativ breite Resonanz, vor allem bei religiös gebundenen Personen, bei anderen Interessenten und insbesondere bei Jugendlichen.
Damit setzte sich auch während der »Friedensdekade 1983« die Tendenz des Zulaufs, besonders aus Kreisen Jugendlicher, zu kirchlichen Veranstaltungen fort.
Trotz hoher Besucherzahlen während bestimmter Veranstaltungen haben sich insgesamt die ursprünglichen Erwartungen der Organisatoren hinsichtlich der Resonanz der »Friedensdekade«, die gesamte Breite aller Zusammenkünfte betreffend, nicht erfüllt.
Unter der nicht religiös gebundenen Bevölkerung wurden die durchgeführten Gottesdienste und Zusammentreffen insgesamt wenig öffentlichkeitswirksam.
Wie bereits in den zurückliegenden Jahren oblag die praktische Gestaltung erneut vorwiegend den Kirchengemeinden. Sie entsprach trotz unterschiedlicher Auslegungen in Inhalt und Form in der Regel den Orientierungen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK). Sichtbar wurde dabei das Bemühen zahlreicher kirchlicher Amtsträger, keine Konfrontation Staat – Kirche zuzulassen.
Durch eine rechtzeitige komplexe und intensiv geführte Einflussnahme, vor allem auf kirchenleitende Personen, und durch ein gezieltes differenziertes Einwirken auf die Organisatoren bestimmter Veranstaltungen im Rahmen der »Friedensdekade« gelang es, feindlich-negative, insbesondere öffentlichkeitswirksame Handlungen weitestgehend vorbeugend zu verhindern.
Feststellungen ergaben, dass vereinzelt – im Ergebnis des Wirksamwerdens abgestimmter Maßnahmen gesellschaftlicher Kräfte – offen Widerspruch zu dargelegten feindlich-negativen Ansichten, Einschätzungen und Aufforderungen geäußert wurde. Das führte zum Beispiel bei leitenden Kräften des »Friedenskreises Pankow«10 um die Pastorin Misselwitz11 zu Unsicherheiten sowie zu intern geäußerten Meinungen, man wisse nicht mehr, wer eigentlich zu Vertretern des »Friedenskreises« gehöre und wer nicht.
Hinweisen zufolge ergaben sich jedoch hinsichtlich der inhaltlichen Aussagen und des Charakters der Veranstaltungen Unterschiede in und zwischen den einzelnen Landeskirchen, insbesondere zurückzuführen auf Intensität und Umfang des Wirkens feindlich-negativer Kräfte, die sich z. T. gegen die Orientierungen kirchenleitender Gremien und Personen stellten und entsprechende Aktivitäten entwickelten. So war es in Einzelfällen notwendig, dass Vertreter staatlicher Organe wiederholt und mit Nachdruck kirchliche Amtsträger darauf hinweisen mussten, den Missbrauch kirchlicher Veranstaltungen zu unterbinden, Gegenüber den Organisatoren konnten sich diese jedoch z. T. nicht durchsetzen bzw. ließen es an der notwendigen Konsequenz fehlen.
In der Mehrzahl der kirchlichen Zusammenkünfte wurden die bekannten Standpunkte von einem eigenständigen kirchlichen Friedensengagement umfassend dargelegt.
Trotz der verstärkten Einflussnahme durch kirchenleitende Kräfte missbrauchten reaktionäre kirchliche und andere feindlich-negative Personen eine Reihe Veranstaltungen im Rahmen der »Friedensdekade« zu massiven Angriffen gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung, vor allem gegen die Friedens-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der DDR. Dabei handelte es sich vorwiegend um Kräfte, die seit geraumer Zeit Aktivitäten in diesem Sinne entwickeln, gegen die in der Vergangenheit strafrechtliche und andere Maßnahmen eingeleitet werden mussten und die bisher weder dadurch noch durch das Wirksamwerden bestimmter kirchenleitender Gremien und Personen diszipliniert werden konnten. Dazu zählen insbesondere Pfarrer Eppelmann,12 Pastorin Sengespeick,13 Pastorin Misselwitz – (alle Berlin), Pfarrer Wonneberger14 (Dresden), Pfarrer Linke15 (Neuenhagen, Bezirk Frankfurt/O.), Pfarrer Freimark16 (Neustadt, Bezirk Potsdam), die Pfarrer Werdin17 und Schötzig18 (Bezirk Cottbus), Heiko Lietz19 (Güstrow), Pfarrer Tschiche20 (Samswegen, Bezirk Magdeburg) sowie die Exponenten der beiden Initiativgruppen der Frauen um Bärbel Bohley21 (Berlin) und Christel Günther22 (Halle).
Beträchtlich zugenommen haben in diesem Zusammenhang auch die Aktivitäten solcher »Friedenskreise« der evangelischen Kirchen, wie der Arbeitsgruppe »Frieden stiften« des »Friedenskreises« der Samaritergemeinde Berlin,23 der »Friedenskreise« des Kirchenkreises Halle,24 des Stadtjugendpfarramtes Leipzig,25 des Suhler »Montagskreises«,26 der »Friedenskreise« der ESG Rostock27 und Naumburg,28 des »Pankower Friedenskreises« unter Leitung von Pastorin Misselwitz u. a.
Bemerkenswert ist jedoch, dass sich einzelne hinlänglich bekannte Personen – wie Pfarrer Eppelmann – zur diesjährigen »Friedensdekade« in ihren Aktivitäten und Äußerungen nach außen hin weitgehend zurückhielten und selbst nicht im Blickpunkt standen, es aber offensichtlich verstanden, andere, zu ihrem Umgangs- und Einflussbereich zählende Personen zum Auftreten in ihrem Sinne zu aktivieren.
Kennzeichnend für die Taktik reaktionärer kirchlicher und anderer von ihnen einbezogener Kräfte war die Übernahme von Methoden des »gewaltfreien Widerstandes« in Anlehnung an Methoden der westeuropäischen Friedensbewegung, verbunden mit der Zielstellung, eine hohe Öffentlichkeitswirksamkeit zu erzielen.
Diese Form von »Friedensaktivitäten« wurde wiederholt in Veranstaltungen im Rahmen der »Friedensdekade« propagiert und in einigen Fällen auch praktiziert.
Dieses Vorgehen zeigte sich vor allem in Versuchen zur Organisierung von Unterschriftensammlungen während Veranstaltungen und Gottesdiensten unter Aufrufe, Appelle und »Briefe« in der Absicht, eine Bewegung zur Ablehnung der angekündigten Stationierung von operativ-taktischen Raketen in der DDR auszulösen bzw. vorzutäuschen.
In diesem Sinne initiierten vornehmlich bekannte negative Kräfte Briefe an den Vorsitzenden des Staatsrates, Genossen Honecker.29 Die abgefassten Texte enthielten in der Regel keine eindeutige Forderung nach Ablehnung der Stationierung. Die Taktik bestand darin, keine massiven Forderungen zu stellen, sondern »Angst und Betroffenheit« zum Ausdruck zu bringen, die bisherige Friedenspolitik und das Wirken des Genossen Honecker zu würdigen und um Verzicht auf »Nachrüstung« zu bitten.
Ein weiterer Bestandteil dieser Taktik zeigte sich darin, gleichzeitig auch Unterschriften unter Schriftstücke und Briefe zu sammeln, in denen der Aufrüstungskurs der NATO-Staaten abgelehnt und der BRD-Bundestag aufgefordert wurde, dem Stationierungsbeschluss der NATO nicht zuzustimmen.30
In mehreren Städten, wie zum Beispiel Halle, Leipzig, Berlin, Magdeburg und Rostock, wurden Versuche unternommen, mit sogenannten Kerzenaktionen demonstrativ gegen die Friedenspolitik der DDR wirksam zu werden und eigenständiges, pazifistisches Friedensengagement auszudrücken. Durch umfangreiche offensive und vorbeugende staatliche und gesellschaftliche Aktivitäten konnten diese Handlungen weitgehend unterbunden werden. Die Öffentlichkeitswirksamkeit war gering.
Die Hartnäckigkeit der Organisatoren solcher Aktionen und das Einkalkulieren staatlicher Maßnahmen machten die Absicht deutlich, politisch schwankende und ungefestigte Personen, besonders Jugendliche, zu Handlungen zu verleiten, deren Tragweite und Konsequenz sie nicht erkannten.
Folgende weitere Mittel und Methoden des Vorgehens feindlich-negativer Kräfte im Rahmen der »Friedensdekade 1983« wurden festgestellt:
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Aufforderung, keine Erklärungen zu unterschreiben, die die angekündigten Maßnahmen des Nationalen Verteidigungsrates der DDR unterstützen,31
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Darstellung der Wehrdienstverweigerung oder des Bausoldatendienstes als einzig wahre christliche Friedenstat,32
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Fürbitten und Kollekten für »Inhaftierte« (Wehrdienstverweigerer, zugeführte Personen) bzw. deren Familien oder zur Bezahlung deren Rechtsanwälte),
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Verkauf von verschiedenen Materialien mit Symbolen, wie »Schwerter zu Pflugscharen«,33
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Anbringen von Losungen, Fahnen und Plakaten mit pazifistischem und verleumderischem Charakter in kirchlichen Räumen sowie an Kirchengebäuden und -grundstücken mit dem Ziel der Öffentlichkeitswirksamkeit – zum Teil mit Weigerungen auch gegenüber kirchenleitenden Personen, diese zu entfernen,
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Durchführung sogenannter Friedensausstellungen oder Selbstdarstellungen mit durchgängig pazifistischer Grundaussage, unterschwelligen politisch-negativen Aussagen und starken Ausrichtungen auf optische und emotionale Wirkung,
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Sketche, Rollenspiele, Lieder, Dia-Vorträge u. a. mit pazifistischem und verleumderischem Inhalt,
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Durchführung von »Fastenaktionen« in Berlin, Dresden und Schwerin, die sich aber nicht ausbreiten konnten und deren Wirksamkeit gering war,
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Aufforderungen, am 21./22. November 1983 als »Bekenntnis für den Frieden« eine brennende Kerze ins Fenster zu stellen und an diesen Tagen andere Aktionen durchzuführen,
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pessimistische und verleumderische Darstellung von Umweltschädigungen und Aufrufe zu solchen Aktionen, wie Eingaben an staatliche Organe, Baumpflanzungen usw.,
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Verbreitung nichtgenehmigter Druckerzeugnisse mit dem Vermerk »Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch« (besonders in Berlin).
In die Gestaltung der »Friedensdekade« wurden – wie bereits in den Vorjahren – Schriftsteller und andere künstlerisch tätige Personen einbezogen. So traten u. a. auf
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Stefan Heym34 Veranstaltung der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg (800 Teilnehmer)
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Günter de Bruyn35 Laurentiuskirche Halle (450 Teilnehmer)
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Rolf Schneider36 Samariterkirche Berlin (250 Teilnehmer)
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Hanns Cibulka37 Erfurt, Evangelische und Katholische Studentengemeinde (190 Teilnehmer)
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Barbara Thalheim38 Weinbergskirche Dresden (250 Teilnehmer)
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Jurek Becker39 in der BRD lebender DDR-Schriftsteller; Lesung bei Pfarrer Linke/Neuenhagen (300 Teilnehmer).
Insbesondere die Äußerungen von Heym, Schneider und Becker enthielten politisch negative Aussagen.
Zum Verlauf der »Friedensdekade 1983« wurden dem MfS folgende besonders beachtenswerte Veranstaltungen und feindlich-negative Aktivitäten bekannt:
Samariterkirche Berlin-Friedrichshain
Am 8. November 1983 hielt der hinlänglich bekannte Leiter des kirchlichen Forschungsheimes Wittenberg, Dr. Gensichen,40 einen Vortrag zum Thema »Schleichender Overkill«, an dem ca. 200 Personen im Alter bis zu 30 Jahren teilnahmen. Gensichen forderte die Anwesenden dazu auf, durch Eingaben und in anderer Weise »auf den Staatsapparat für den Umweltschutz einzuwirken«. Er erklärte, »Friedensengagement und Umweltengagement sind zusammengehörig«.
Am 10. November 1983 erfolgte unter dem Motto »Wir über uns« vor ca. 350 meist jugendlichen Personen eine Selbstdarstellung von Untergruppen des »Friedenskreises« der Samaritergemeinde.
Pfarrer Eppelmann äußerte einleitend, dass die »Kirche möglicherweise selbst an einer gewissen Konfrontation mit dem Staat Schuld« sei.
Im Gegensatz zu dieser als Taktik zu wertenden Darstellung standen teils indirekte, teils offene politisch negative Aussagen an den Informationsständen der Untergruppen »Wehrfragen« (»Konsequenteste Form des Pazifismus ist nicht der Bausoldat, sondern ganz verweigern«), »Frieden stiften« (»Wir sagen nein« – bezogen auf die angekündigten Gegenmaßnahmen der Staaten des Warschauer Vertrages) und »Ökologie« (es wurden Bilder über Umweltschäden in der DDR gezeigt).
Ein ausgestelltes Plakat enthielt folgende Fragen:
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»Sollte man nicht statt Wehrkunde Friedenskunde einführen?«
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»Sollte man nicht auf Zivilverteidigung verzichten?«
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»Sollte man nicht auf Militärparaden verzichten?«
Die Besucher wurden aufgefordert, ständig und zu allen Fragen·Eingaben an die Staatsorgane zu richten.
Im Rahmen eines Vortrages am 15. November 1983 traf der Leiter der Evangelischen Akademie Magdeburg, Tschiche, u. a. folgende Aussagen:
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Freie Meinungsäußerung zum Friedensengagement und zu anderen Problemen, mit denen man nicht einverstanden sei, wären nicht möglich;
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Politiker und Sicherheitsorgane hätten um sich eine Mauer der Ohnmacht errichtet, über welche sie ihre Marterwerkzeuge gegen öffentliche Aktionen zeigten;
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Aktionen für den Frieden würden ständig kriminalisiert.
Tschiche wandte sich unter Bezugnahme auf die Unterbindung der Aktion am 4. November 1983 vor den Botschaften der UdSSR und der USA »gegen den Einsatz von Machtmitteln«41 und rief dazu auf, neue Wege zur Umsetzung von Aktionen zu entwickeln. In diesem Zusammenhang sprach er von der »passiven Verweigerung« als Form eines »sanften Radikalismus«. Man solle den Begriff »passiver Widerstand« offiziell nicht verwenden, denn er sei provozierend, jedoch in diesem Sinne handeln.
Auferstehungskirche Berlin-Friedrichshain
Auf einer Veranstaltung der »Berliner Frauengruppe« zum Thema »Frauen für den Frieden« (ca. 350 Teilnehmer) am 9. November 1983 forderte Pastorin Sengespeick zu Protesten gegen die »Einbeziehung von Frauen zum Wehrdienst« auf.42
Es wurden »Aufrufe« zur Wehrdienstverweigerung durch Frauen und die Aufforderung an Frauen, ihre Männer zur Ableistung des Wehrdienstes ohne Waffe zu veranlassen, verlesen. In Gruppengesprächen wurden die Gegenmaßnahmen der DDR im Zusammenhang mit der Stationierung neuer amerikanischer Raketensysteme in Westeuropa abgelehnt und zu öffentlichen Meinungsbekundungen dagegen (u. a. brennende Kerzen in Fenster stellt) aufgerufen.
Christusgemeinde Halle
Im Zusammenhang mit einer Veranstaltung am 12. November 1983 zum Thema »Wie soll es nach der Friedensdekade weitergehen?« (ca. 30 Teilnehmer – die Organisatoren zeigten sich sehr enttäuscht angesichts der geringen Beteiligung) kritisierte die anwesende Heidelinde Bohley43 (unterhält enge Verbindungen zu Bärbel Bohley/Berlin) die Kirchenleitung wegen der Unterbindung einer geplanten Unterschriftenaktion.
In der Diskussion wurde erklärt, dass eine »Friedensdekade« im Jahre zu wenig wäre und mindestens vier angebracht seien. Die bisherigen Ergebnisse wurden als zu gering eingeschätzt. Erfolge könnten nur dann erzielt werden, wenn Veranstaltungen und Aktionen für die staatlichen Organe und die Sicherheitsorgane überraschend durchgeführt würden. Stärker müsse der »gewaltfreie Widerstand« organisiert werden.
Weinbergskirche Dresden
Anlässlich eines Vortrages vor ca. 120 Jugendlichen am 9. November 1983 zum Thema »Warum, wozu und wie gewaltfrei handeln?« orientierte Pfarrer Albrecht44 im Falle eines »Abbruches des Dialogs zwischen Staat und Kirche« auf »zivilen Ungehorsam« im Sinne »gewaltfreier Aktionen«. Er wandte sich gegen den derzeitigen Charakter der Zivilverteidigung und forderte deren Umwandlung in einen »Katastrophendienst ohne militärische Gliederung«.
Gemeindesaal der Heiligen-Geist-Kirche in Rostock-Warnemünde
Bei einem von dem hinlänglich bekannten Heiko Lietz/Güstrow organisierten Gesprächsabend am 11. November 1983 forderte dieser die Anwesenden auf, sich in Eingaben an die zuständigen staatlichen Organe gegen den Wehrdienst von Frauen auszusprechen.
Weiter regte er die Bildung von »Initiativgruppen« an, die – Aktionen gegen den Wehrdienst von Frauen organisieren sollen. Zum Schluss der Veranstaltung verlas Lietz einen Appell gegen die beabsichtigte Stationierung von Raketensystemen auf dem Territorium der DDR, der von ca. 30 Personen unterzeichnet wurde.
Mit diesem »Appell« trat Lietz am folgenden Tag vor Synodalen der in Schwerin tagenden Synode der Landeskirche Mecklenburg auf.
Im Zeitraum der »Friedensdekade 1983« kam es im Stadtgebiet von Leipzig zu mehreren Aktivitäten in Form von sogenannten Friedensbekundungen mit brennenden Kerzen. Die Personenansammlungen erreichten dabei eine Anzahl zwischen 20 und 50 Teilnehmern.
Nach Angaben der Inspiratoren/Organisatoren, die im Bereich der »Jungen Gemeinde« der evangelischen Kirche in Leipzig angesiedelt sind, bestand das Ziel der Aktion darin, öffentliche Diskussionen mit Passanten über die »Verhinderung von Raketenstationierungen in der DDR« zu führen. Bei der Mehrheit der Beteiligten handelte es sich um Jugendliche im Alter von 15 bis 23 Jahren, die sich zum größten Teil noch in schulischer bzw. beruflicher Ausbildung befinden.
Als Motive ihres Handelns wurden herausgearbeitet:
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starke religiöse Einflüsse sowohl im Elternhaus als auch durch die kirchliche Jugendarbeit in evangelischen und katholischen Gemeindegruppen,
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pseudopazifistische Auffassungen,
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verfestigte politisch-negative Einstellungen zur sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung.
Im engen Zusammenwirken mit den zuständigen staatlichen Organen wurden jeweils unverzüglich differenzierte Maßnahmen zur unmittelbaren Auswertung von Missbrauchshandlungen mit dem Ziel der Disziplinierung reaktionärer kirchlicher und anderer feindlich-negativer Kräfte eingeleitet.
So wurde eine Vielzahl von Gesprächen mit verantwortlichen kirchenleitenden Kräften geführt. Dieses Vorgehen hatte zum Ergebnis, dass eine Reihe weiterer geplanter öffentlichkeitswirksamer Aktionen/Handlungen vorbeugend verhindert werden konnte.
Die von der Berliner Bischofskonferenz getroffene Festlegung, dass sich die katholische Kirche in der DDR offiziell nicht an der »Friedensdekade« der evangelischen Kirchen beteiligt, wurde eingehalten.
Das im Zeitraum der »Friedensdekade« erfolgte Aufsuchen der Botschaften der UdSSR und der USA in der DDR durch kirchenleitende Kräfte der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg am 11. November 1983 wertete – nach streng vertraulichen Hinweisen – Bischof Forck45 im internen Kreis aus.
Er sowie Konsistorialpräsident Stolpe46 und Stadtjugendpfarrer Passauer47 sprachen in der Botschaft der UdSSR mit Botschaftsrat Gorinowitsch48 und in der Botschaft der USA mit der Botschafterin Ridgway.49
Wie Forck u. a. ausführte, sei die unbefangene Gesprächsführung und die Art und Weise des Empfanges in der sowjetischen Botschaft sehr beeindruckend gewesen. Seiner Ansicht nach sei die sowjetische Seite ernsthaft an der Erhaltung des Friedens interessiert. Er könne sich des Eindruckes nicht erwehren, dass die größeren Erschwernisse bei den Verhandlungen in Genf von den USA ausgehen würden und die USA die Haltung der UdSSR ungenügend einschätze.
Im Zusammenhang mit dem Aufsuchen der genannten Botschaften wurde weiter streng vertraulich bekannt, dass Bischof Forck am 4. November 1983 bis »zum letzten Augenblick« die Absicht hatte, entgegen den Hinweisen und Auflagen des Staatssekretärs für Kirchenfragen der DDR die Botschaften aufzusuchen.
Im Ergebnis der Auswertung der »Friedensdekade 1983« wird vorgeschlagen:
1. Der Staatssekretär für Kirchenfragen, Genosse Gysi,50 sollte beauftragt werden, zu einem geeignet erscheinenden Zeitpunkt ein Gespräch mit dem Vorsitzenden der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen, Landesbischof Dr. Hempel,51 und seinen Stellvertretern, Bischof Gienke52 und Konsistorialpräsident Stolpe, zu führen, in dem Inhalt und Verlauf der »Friedensdekade 1983« ausgewertet werden.
Es erscheint zweckmäßig, in diesem Gespräch das Bemühen der Mehrzahl der kirchenleitenden Kräfte hervorzuheben, die Orientierungen der Synodaltagung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR vom September 1983 einzuhalten. Entschieden sind jedoch der erneute Missbrauch religiöser Veranstaltungen für Angriffe gegen die sozialistische Staatsmacht und insbesondere die seitens reaktionärer kirchlicher und anderer feindlich-negativer Kräfte unternommenen Versuche, sich in die staatliche Friedens-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik einzumischen, zurückzuweisen.
Es sollte mit allem Nachdruck betont werden, dass derartige Aktivitäten im eklatanten Widerspruch zu besonders in jüngster Zeit abgegebenen Erklärungen kirchenleitender Kräfte stehen, keine Aktivitäten dulden zu wollen, die das Verhältnis Staat – Kirche belasten könnten.
Erneut sollte die staatliche Erwartungshaltung zum Ausdruck gebracht werden, dass seitens der Kirchenleitungen disziplinierend auf solche kirchlichen Kräfte eingewirkt wird, die gegen die Staatspolitik der DDR gerichtete Aktivitäten und Handlungen inszenieren und organisieren.
Analog dazu sollten die Stellvertreter der Vorsitzenden der Räte der Bezirke für Inneres bzw. der Stellvertreter des Oberbürgermeisters der Hauptstadt für Inneres auf der Grundlage einer zentralen Orientierung des Staatssekretariats für Kirchenfragen Gespräche mit den entsprechenden kirchenleitenden Kräften der jeweiligen Evangelischen Landeskirche führen.
2. Der Arbeitsgruppe Kirchenfragen beim ZK der SED wäre zu empfehlen, auf der Grundlage vorliegender neuer Erkenntnisse über Angriffsrichtungen sowie angewandter Mittel und Methoden seitens reaktionärer kirchlicher Kräfte und dabei in Erscheinung getretener Personen im Zusammenhang mit der »Friedensdekade 1983« eine Konkretisierung der bereits gestellten Aufgaben vorzunehmen und ein entsprechendes Argumentationsmaterial zu erarbeiten, das hauptsächlich zur weiteren Qualifizierung der Arbeit der Mitarbeiter der Abteilungen Inneres der Räte der Bezirke und Kreise und den maßgeblich an der weiteren Durchsetzung der Politik der Partei in Kirchenfragen beteiligten gesellschaftlichen Kräften genutzt werden sollte.
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